Kuratieren contra Vermitteln

Das Ringen um Deutungsmacht in einem verworrenen Feld

Wenn wir Ausstellungsinszenierungen mit dem Verfahren der Diskursanalyse untersuchen, dann ist es notwendig, vorab, im Moment der Ausdifferenzierung dieses Bereichs, auf die grundsätzlich historische Verfasstheit von Sehen, Zeigen und Wahrnehmen zu verweisen. Dabei ist mitgedacht, dass dieses Analyseverfahren selbst ein Teil der Praktiken der Bedeutungsproduktion ist. In der Diskursanalyse werden also Rede und materielle Manifestationen als ineinander verschränkte, sich gegenseitig generierende Praxen verstanden.

In unserer Diskussion heute bedeutet dies, Kuratieren und Vermitteln als sich gegenseitig generierende und miteinander konkurrierende Praktiken zu begreifen. Im Folgenden werde ich kurz den derzeitigen Stand referieren und einige Kategorien des Ausstellens dabei skizzieren.

Das Paradigma des White Cube

Das Paradigma des White Cube ist extrem hartnäckig, es ist immer noch die Hauptmatrix der Repräsentation, die ein spezifisches visuelles Regime vorträgt. Es hat die Macht, spezielle Themen vorzubringen, bzw. auch, bestimmte Themen auszuschließen. Der Ort des zeitgenössischen Ausstellens ist ein kommunikativer Raum, in dem sich die Dimensionen des Psychischen, Ästhetischen, Sozialen und Politischen verschränken. Er ist einer der diskursiven Räume, innerhalb derer die von Bourdieu so bezeichnete „Umwandlung“ von sozialem und kulturellem Kapital in ökonomisches Kapital stattfindet (Bourdieu 1989; 1996; 2005) (und umgekehrt), und dies, wie Isabelle Graw gezeigt hat (Graw 2010), bei Kunstausstellungen in einer gewissen reziproken Abhängigkeit vom Aktienmarkt. Dennoch existiert in diesem Raum, quasi als Überschuss des Diskurses, widerständiges Potential. Die Achse Affirmation und Widerstand sind dabei als relational und historisch gebunden zu denken. Mit jedem Akt der Exposition geht die Nobilitierung der Gegenstände einher. Diese und der Umgang mit ihnen sind immer zugleich Distinktionsmittel (vgl. O’Doherty 1986).

Besucher werden als männliche Staatsbürger situiert

Die Entstehungsgeschichte des Museums und des Kunstraums sind eng an die Konstitution einer Vorstellung von bürgerlicher Öffentlichkeit gebunden. Als erste öffentliche Schau wurde dem gemeinen Volk während der französischen Revolution, dem Volk der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, Beutekunst zu sehen gegeben. Damals wurden Bilder, Möbel, Kunstgegenstände, die der besiegten Klasse des Adels abgenommen wurden, öffentlich im Louvre präsentiert. Schon in dieses Spektakel war sowohl Aneignung als auch Affirmation eingeschrieben. Entsprechend den bürgerlichen Konzepten von einer Autonomie der Kunst, einem autonom gedachten (männlichen, weißen) Subjekt, dem Subjekt der Zentralperspektive, und dem ‚Ding an sich‘, d.h. einem per se überhöhten und undurchdringlichen Objekt, entwickelte sich im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts der bürgerliche Schau- und Zeigeraum des Kunstmuseums, der diese Konzepte veranschaulichte und weitertrieb.

Im Sinne Foucaults kann man die Technologien des Zeigens und des Kommentierens als eine Praxis verstehen, innerhalb derer bestimmte Subjektivitäten hervorgebracht und bestimmte hierarchische Verhältnisse organisiert werden, wie u.a. Tony Bennett darstellt (Bennett 1995; siehe auch von Osten 2005): Die Techniken der Selbstdisziplin der ‚autonomen‘ bürgerlichen Subjekte entstehen und werden durch das Sehen und das Im-Bild-Sein geformt; es gibt immer eine*n imaginierten Betrachter*in; allerdings wird implizit der Betrachter als männliches Subjekt konnotiert. Auch das Subjekt läuft bis zu einem gewissen Grad in Gefahr, objektiviert zu werden. Ich schliesse mich hier Terry Eagleton an, der darlegt, dass mit dem Beginn eines freien Unternehmertums in der Moderne auch ideologisch eine Neuzuschreibung von Subjektivität erfolgte: Nachdem das Subjekt in mittelalterlichen Strukturen noch in festgelegte, relativ unveränderbare Klassen, Gilden usw. hinein geboren worden war, wurden nun Subjektivitätskonzepte notwendig, die einen unternehmerischen Handlungsspielraum eröffneten (Eagleton 1994).

Die gedachte Autonomie dieser Subjekte schlägt sich in den ideologischen Konzepten der Moderne insbesondere in Diskursen der Ästhetik nieder; die Distanznahme des Sehens gilt als das wichtigste sinnliche Regime, Gegenstände dürfen nicht berührt werden, das Subjekt kontrolliert sich selbst. Mit anderen Worten: die kontrollierende Instanz wird imaginiert und somit in den psychischen Apparat internalisiert. Die Quasi-Autonomie des Subjekts erscheint daher auch auf einer psychologischen Ebene als imaginiert, wie es Lacan mit seinem Modell des Spiegelstadiums theoretisiert hat (Lacan 1986). Auf dieses Modell haben sich insbesondere feministische Kunstwissenschaftler*innen bezogen, um darzulegen, dass die willkürliche Konstruktion von Subjektivität als eine Reihe von Spaltungen (zum Beispiel in die Kategorien ‚männlich‘ und ‚weiblich‘) erfolgt. Diese Spaltungen werden jeweils als natürlich situiert und das Subjekt als autonom imaginiert. Eingeschrieben ist hierbei zudem die Geschlechterdifferenz, der Inhaber des Blick ist als männlich konnotiert, das Angeschaute als weiblich.

Als theoretische Referenzen sind hier Michel Foucault (Foucault 1977), der sich auf den Überwachungsapparat neuer Gefängnisse bezieht,[1] und Tony Bennett (Bennett 1995) zu nennen, der diesen Ansatz auf das zeitgenössische Museum übertragen hat,[2] sowie die Kunstwissenschaftlerinnen Sigrid Schade und Silke Wenk (Schade, Wenk 1995).[3] Die disziplinäre Macht organisiert Subjektivitäten und bringt Machtverhältnisse hervor, und dies, so argumentiere ich im Anschluss an Bennett, wird unter anderem durch Ausstellungssituationen eingeübt.

Die Kunstinstitution als Apparat mit politischen und ökonomischen Beziehungen

Der Ausstellungsraum und die Vermittlung von Kunst können als Teile eines größeren Settings oder Apparats aufgefasst werden. Dieser Gedanke schließt an das Konzept der „Ideologischen Staatsapparate“ (ISAs) nach Althusser an (Althusser 1970).[1] Der Begriff „Apparat“ vermag hierbei die prinzipiell materiell-textuelle, also diskursive, Verfasstheit des Dispositivs Ausstellung zu beschreiben und verweist auf dessen ‚erzieherische‘ Vorbildfunktion. Das Display wäre damit nur die ‚Benutzeroberfläche‘ oder Erscheinungsebene eines differenzierten Produktionsprozesses aus Materie, Wissensproduktion und der darin eingeschriebenen Diskursregeln, Konsekrationsakte und Ideologien. Althusser nennt eine Vielzahl ideologischer Apparate, etwa religiöse Gemeinschaften, die Schule, Sport usw. In einem solchen Kaleidoskop von „Anrufungen“, die auf ein Subjekt einwirken, wäre der Anteil von Kunst als nur gering einzustufen. Dieser Anteil könne ohnehin nur dann wirksam werden, wenn es sich um Subjekte handelt, die sich zeitgenössischer Kunst aussetzen, also zumindest Artikel und Magazine über zeitgenössische Kunst lesen. Soziologisch gesehen entspricht dies einem Ausschnitt aus der Gesamtbevölkerung von etwa drei Prozent (vgl. Munder/Wuggenig 2012; Migros Museum für Gegenwartskunst 2016).

Angelehnt an die Foucault’sche Perspektive der Ordnung der Diskurse wären mit Blick auf die Ausstellung also externe und interne Ausschlussmechanismen zu benennen, die die Unberechenbarkeit der Diskurse und des Ereignisses zu bändigen versuchen – über Prozeduren der Klassifikation, der Anordnung der Verteilungsprinzipien, der Arten der Rede, des Kommentars und der Funktion des Autors und der Disziplinen. Damit ist auch der „Wille zu Wissen“ gemeint, also ein akademischer, analytischer Zugang zum Gegenstand Ausstellung und damit letztlich zur Disziplinierung, zur Eindämmung des „Raunens“ der Diskurse, in dem sich auch Widerständiges und Abweichendes äußert (Foucault 1981).

Die Funktion der Ausstellung ist aus dieser Perspektive einerseits als Produkt eines Prozesses zu denken, um Bedeutung zu kontrollieren, zu selektieren, zu organisieren und zu klassifizieren; ein Vorgang, der sich dann als ein materielles Setting manifestiert. Der Begriff ‚Apparat‘ lässt den materiellen Ort mitdenken, den Ausstellungsraum, die Messehalle, das Museum und die jeweiligen Architekturen, die Konzepte, Budgetierungen, den jeweiligen Begriff von Öffentlichkeit, die hierarchische Organisationsstruktur des Mitarbeiter*innenstabs, die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter*innen, ihre jeweiligen Ausbildungen. Weiter mitzudenken sind die Anschlüsse an Orte gesellschaftlicher Konsensfindung wie Gremien der Kulturpolitik und Interessensgruppen, die Produktion und der Medieneinsatz, der Subjekt- und Objektbegriff, den das Display vorgibt, die ideologische Besetzung des Lehrens, die Nobilitierung des Objekts, die Möglichkeiten für Aktivität bzw. Passivität der Besucher*innen sowie Anschlusshandlungen, die Auftraggeber*inneren, die Redeweisen über das Produkt Ausstellung, die Narration des Displays, die Brüche im Display, die Performanz der Objekte, die Ausstellungsarchitektur, Beleuchtung, Beschriftung und Sounds, die öffentlich zugänglichen Schau-Räume im Verhältnis zu Backstage, Organisations- und Lagerräumen.

Der Begriff des Apparates verweist zudem darauf, dass die Formation Ausstellung an sich ein historisch konstituiertes Setting darstellt, also keine Formulierung von Totalität beanspruchen kann. (Aus dieser Perspektive erscheint jeder Anspruch an Evidenz des Ausstellens geradezu lächerlich.) Zudem lässt sich eine Verbindung zum Freud’schen Begriff des psychischen Apparats herstellen, wodurch erneut Anschlussmöglichkeiten für die Betrachter*innenperspektive bereitgestellt werden, die ich zum Teil oben skizziert habe. Jede Kunstinstitution mit ihren Tätigkeitsfeldern ist eingebettet in regionale und nationale Kulturpolitiken, in Tourismusindustrie, in Ansprüche von Stiftungen und Sponsoren, in die Bildproduktion einer Gesellschaft. Selbstverständlich kann dies von einer kritischen Kunstinstitution auch reflektiert und befragt werden. All diese Elemente sind Teil der sichtbaren und unsichtbaren Zeichen und der Grammatiken von Ausstellungen, wobei hier Kuratieren und Vermitteln als Teile davon zu verstehen sind.

Der Apparat von zeitgenössischen Ausstellungen ist demnach entlang der hier entwickelten Parameter zu befragen. Bei der Offenlegung von Diskursregeln geht es letztlich darum, wer für wen spricht, welche Ideologie damit ,zu sehen gegeben‘ wird, was und wer unterschlagen und ausgeschlossen wird und welche Begehrensbeziehungen die Matrix der Exposition bildet.

Wie Oliver Machart in seiner neuesten Veröffentlichung vorschlägt, bedeutet jede Form von Ausstellen eine Ex/position, ein Formulieren einer bestimmten politischen Position – damit kann bewusst umgegangen und politisch Stellung bezogen werden (Marchat 2019: 146). Entsprechend wären Großausstellungen wie die documenta als große hegemoniale Maschinen zu verstehen (vgl. Buurmann/Richter 2017).

Der Kurator als männlich konnotierter Meta-Künstler und als postfordistische Wunschfigur

Den Kurator sehe ich als männlich konnotierte postfordistische Wunschfigur positioniert. Eine solche ikonografische Inszenierung und deren Beschreibung wurde erstmals von Harald Szeemann auf der documenta 5 (1972) explizit inszeniert; er war derjenige, der die Position einer gottähnlichen Figur, eingerahmt von Künstler*innen, einnahm und dabei einen ikonographischen Rückgriff auf historische Bildwelten nutzte (einige Bilder veranschaulichen exemplarisch die entsprechenden visuellen Regime, etwa Teile eines Altars oder die Apotheose Homers von Ingres). Szeeman nutzte die historisch eingeschriebenen, zugrunde liegenden Konzepte dieser visuellen Vorläufer. Der Kurator wurde zum Agenten, der durch die Kombination von Kunstwerk, eigenen Kommentaren, dem Titel der Ausstellung und ihrem Katalog selbst Bedeutung schuf. Er definierte den kuratorischen Bereich durch seine hierarchische Geste. Deutlich wird am Beispiel Szeemanns auch, dass die an Gott, König, Künstler angelehnte Figur männlich konnotiert ist.

Seither hat die kuratorische Praxis ihr Potenzial und ihre Anziehungskraft gesteigert: Sie ist inzwischen paradigmatisch für postfordistische Arbeits- und Produktionsweisen – relativ frei, aber selbstorganisiert und manchmal selbstständig; projektbezogen in einer Polis, aber auf ein internationales Netzwerk angewiesen. Das ist zum Teil anti-institutionell, gleichzeitig aber ist daraus eine eigene Institution geworden. Ikonographisch besetzt zum Beispiel Hans Ulrich Obrist diese neoliberal umgedeutete Position. Studiengänge zur kuratorischen Praxis beziehen sich entweder explizit oder implizit auf diese Vor-Bilder, indem sie sie entweder als gegeben hinnehmen oder ihnen kritisch gegenüber stehen.[2]

Vermittlung als Versuch (oder Mittel), das Subjekt aus seiner festgelegen Position zu befreien

Kunstvermittlung ist heutzutage in der unbequemen Lage, das bewegungsreduzierte Besucher*innen-Subjekt aus ihrer*seiner eingeschränkten Situation und dem begrenzten Verhaltenscodex zu befreien. Kurz gesagt: Kunstvermittlung zielt darauf ab, die Besucher*innen trotz der grundsätzlichen Situation der Ausstellung in eine aktivere Situation zu bringen. Man möchte Besucher*innen informieren und beteiligen – dies kann von Veranstaltungen in Ausstellungen über ein extrem emotionales Ausstellungskonzept (um Besucher*innen zumindest emotional zu involvieren), bis hin zu partizipativen Projekten reichen, die den Besucher*innen die Möglichkeit geben, zu handeln oder zu interagieren, bzw. zu erwidern.

Die gesamte Aufgabe, an der die Kunstpädagogik damit beteiligt ist, ist knifflig, denn sie ist von Anfang an widersprüchlich. Vermittlung ist strukturell weiblich konnotiert und wurde auch historisch gesehen von Frauen aus der bürgerlichen Schicht ausgeführt. Beglückt wurden damit Menschen der ,ungebildeten‘ Schichten (vgl. Bal 2002; Schober 1994; Grasskamp 2000; Bennett 1995; Sternfeld 2005). Der*die Besucher*in wird also durch Ausstellungssituationen und Kunstvermittlung mit ausgesprochen widersprüchlichen „Anrufungen“ (Althusser 1970) konfrontiert. Innerhalb der Kunstinstitution sind dies einerseits animierende Vermittlungspraktiken und andererseits modernistische Ausstellungssituationen mit ihren künstlerischen Arbeiten und Thematiken. Ich möchte aber auch daran erinnern, dass die Besucher*innen einer Vielzahl ideologischer Anrufungen jenseits einer Ausstellungssituation unterliegen, die womöglich weit stärker wirken. Althusser hat dem pädagogischen Apparat (Schulen, Universitäten) eine besonders wichtige Rolle eingeräumt, aber heutzutage scheint es mir, dass alle Medien, darunter das Fernsehen, das Internet sowie digitale Spiele und Netzwerkkommunikation, die Einflussnahme auf Subjekte extrem gesteigert und verändert haben. Wir sollten nicht vergessen, dass Althusser die ideologischen Apparate als „Schlachtfeld“ bezeichnet hat.

Von einer theoretischen Perspektive aus gesehen, sind Ausstellungen und Vermittlung insofern pädagogische Konzepte, da mit ihnen bestimmte Normen und Wertvorstellungen eingeübt werden. In den Ausstellungsinstitutionen wird auf eine*n ideale*n Betrachter*in hin inszeniert, über den*die bestimmte, geschlechtlich konnotierte Annahmen bestehen. So wird prinzipiell angenommen, dass die Besucher*innen über einen kulturell westlich geprägten Bildfundus verfügen. Es müssen ein bestimmter Bezugsrahmen sowie bestimmte Wahrnehmungskonventionen mitgebracht werden, um Assoziationsketten und Bedeutungszusammenhänge in der Ausstellung zu konstruieren. Wie Bourdieu gezeigt hat, ist das jeweilige Kulturverständnis schichtspezifisch und funktioniert als Distinktionsmittel (vgl. Bourdieu 1982).

Ausstellungsinstitutionen stehen also prinzipiell vor dem Problem, dass sie für ein nicht allzu heterogenes Publikum inszenieren, gleichzeitig aber versuchen müssen, verschiedene Gruppierungen einzubinden (zumindest wenn das Ziel besteht, möglichst hohe Besucher*innenzahlen zu erreichen). Institutionen versuchen dieses Problem auf unterschiedliche Weise zu lösen, zum Beispiel durch mitunter verzweifelt wirkende Vermittlungsangebote, die sich an unterschiedliche Bevölkerungsgruppen richten. In einem Interview, das wir mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Ko-Kurator der documenta 14 sowie Gründer und Leiter von SAVVY contemporary in Berlin, geführt haben, wies dieser darauf hin, dass ein solcher Ansatz zu kurz gegriffen sei: Erst wenn sich die Inklusion (nicht weißer, nicht männlicher, nicht bildungsbürgerlicher Subjekte) auf der Ebene der Themen, der Formate, der Besucher*innen und der in der Institution arbeitenden Menschen zeige, könnte diese tatsächlich wirksam sein. Inklusion sollte die ganze Institution umfassen und sich demnach nicht nur, aber auch im Kuratorischen widerspiegeln.

Ideologie und ihre Wirkungsweisen – gibt es eine emanzipative Pädagogik?

Was bedeutet die Zuschauer-Adressierung für die konkreten Besucher*innen und wie werden sie von Settings beeinflusst? Einzelne Aspekte der Mitteilungen, die die Besucher*innen- Subjekte als Subtexte von Ausstellungen empfangen, haben wir schon beschrieben: Der*die Besucher*in wird als weißes Mitglied der westlichen Mittelklasse angesprochen, als Betrachter*in wird er*sie auf einer ,männlichen‘ Position verortet, er*sie wird zunehmend als Teil einer großen Masse adressiert, die (in der allgemeinen Tendenz) nicht differenziert, sondern infantilisiert wird.

Oliver Marchart hatte vorgeschlagen, das Konzept der „Ideologischen Staatsapparate“ von Louis Althusser auf Ausstellungsinstitutionen zu beziehen, um im Folgenden deren mitformulierte Annahmen als „dominatorische“ Pädagogik gegenüber einer „emanzipatorischen“ Pädagogik abzugrenzen.

Die ISAs sind daher nicht nur, mit Althusser gesprochen, Kampfobjekt, sondern auch Ort der Austragung des „Klassenkampfes“, oder, wie wir später mit Chantal Mouffe und Ernesto Laclau sagen würden, der Austragungsort einer Vielzahl antagonistischer Verhältnisse. Bemerkenswerterweise ist damit auf theoretischer Ebene der oft geäußerte Verdacht widerlegt, dass Kritik im kulturellen Feld wirkungslos wäre oder rein symbolischen Charakter hätte. Gleichzeitig wird deutlich, inwiefern Politik zwangsläufig auch einen symbolischen (ideologischen) Charakter besitzt. Zwar legt Althusser anknüpfend an eine marxistische Tradition dar, dass in letzter Instanz das Bewusstsein (als Gesamtheit aller ideologischen Verhältnisse) von den materiellen Verhältnissen abhängt, dennoch gibt es in gewissem Umfang auch die Gegenbewegung: Das Bewusstsein beeinflusst das Sein, Ideologie beeinflusst Wahlverhalten und politische Parteien schaffen Gesetze, die mit Hilfe des Staatsapparates sehr direkt auf die Bevölkerung einwirken.

Bezogen auf Ausstellungsprojekte bedeutet dies – als ein vorläufiges Zwischenergebnis dieser Argumentation –, dass es im Sinne eines linken Projektes Sinn macht, Besucher*innen auf neue Weisen anzusprechen, das heißt, mit anderen Formaten und auf andere Arten in die Herstellung von Bedeutung einzubeziehen.

Wir hatten ja schon die Offenlegung von Diskursregeln erwähnt, die sowohl kuratorisch, künstlerisch, als auch auf der Vermittlungsebene geschehen kann. Zusammengefasst: Wer spricht für wen, welche Ideologie wird damit zu sehen gegeben, was und wer wird unterschlagen und ausgeschlossen, welche Begehrensbeziehungen zeigt die Matrix der Exposition. Oliver Marchart skizziert für kuratorische Projekte, von seiner theoretischen Analyse ausgehend, Möglichkeiten für eine emanzipatorische Pädagogik. Dabei schlägt er a) die Unterbrechung und b) die Gegenkanonisierung Die Unterbrechung würde die oben beschriebenen Naturalisierungseffekte mitthematisieren. Die Gegenkanonisierung würde die Definitionsmacht der Ausstellungsinstitutionen nutzen, um deren Kanon inhaltlich und formal extrem zu erweitern (vgl. Marchart 2008). Seiner Auffassung nach sei dies insbesondere im Fall der von Okwui Enwezor geleiteten documenta 11 gelungen, mit der Dezentrierung der Orte durch die vorausgehenden Plattformen und durch die angesprochenen Themen, die den globalen Süden in einer davor nicht vorstellbaren Weise einbezogen haben. Ich selbst neige eher dazu, die documenta 10 als eine absolut bahnbrechende Position zu betrachten, da diese den Umgang mit dem Ausstellungsraum revolutioniert hat. Die Documenta-Halle wurde in einen Diskursraum verwandelt und auch digitale Medien zum ersten Mal in Breite einbezogen, und zwar in einer gänzlich unregulierten Weise.

Weitere Perspektiven für eine emanzipatorische Pädagogik in Ausstellungssituationen eröffnet Nora Sternfeld, indem sie sich auf historische pädagogische Konzepte bezieht, die eine Selbstermächtigung der Teilnehmer*innen zum Ziel haben. Sie nennt dafür vier wesentliche Kriterien: Erstens wird die Vorstellung einer natürlichen Begabung in Frage gestellt; zweitens ist ein vordringliches pädagogisches Ziel, ein Bewusstsein über die eigene Lage zu entwickeln; dies geschieht drittens durch eine Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, bei der die Ausschluss- und Ausbeutungsmechanismen sichtbar werden; viertens geht es wesentlich darum, Voraussetzungen für eine Veränderung dieser sozialen und politischen Verhältnisse zu schaffen, das heißt, das pädagogische Projekt muss mit einer politischen Praxis einhergehen. Sternfeld fragt auch nach dem emanzipatorischen Sprechen in der Kunst- und Kulturvermittlung. Das Selbstverständnis von zeitgenössischer Vermittlungsarbeit wäre demnach, ein Bewusstsein über die genannten Kriterien zugänglich zu machen sowie Gegenerzählungen zu ermöglichen. Folglich hätte dieses Selbstverständnis der Vermittlung eine Öffnung der Institutionen für politische Praxis und Organisation zum Ziel. Ein solches Vermittlungskonzept würde zwangsläufig an institutionelle Grenzen stoßen, dies genau unterscheide allerdings emanzipatorische von bloß partizipatorischer Praxis (vgl. Sternfeld 2005).

Praxis: How we live now – Art System, Work Flow and Creative Industries

Auch in unserer Arbeit mit Studierenden versuchen wir diesen Prinzipien einer Selbstermächtigung mit künstlerischen und kuratorischen Mitteln zu folgen. So haben wir beispielsweise nach der Lektüre und Diskussion von Texten von Foucault und Chiapello/ Boltanski gemeinsam zu ergründen versucht, wie sich die theoretisierten gesellschaftlichen Veränderungen in der Lebenspraxis der Studierenden niederschlägt. Dazu haben Student*innen jeweils kurze Geschichten geschrieben: Von der prekären Situation in der Schweiz, in der einerseits hohe Studiengebühren gefordert werden, andererseits aber bezahlte Jobs in Kunstinstitutionen, wenn überhaupt, dann nur mit deutschen Sprachkenntnissen und als Schweizer*in zu finden sind; bis hin zu Erzählungen aus den Herkunftsländern einiger Studienprogrammteilnehmer*innen, von Verfolgung und Ermordung von Student*innen, die protestieren. Diese erlebten Geschichten wurden szenisch überarbeitet von der Schriftstellerin Renate Burkhard, und dann wiederum von Studierenden gespielt und per Video aufgezeichnet. In der letzten Überarbeitungsphase wurden die Spielszenen mit gesprochenem Text aus den Szenen überlagert und auf die Filmsequenzen Zitate aus Referenztexten gelegt. Das visuelle Videomaterial bestand aus einigen nebensächlichen Szenen, das Voiceover verlief jedoch plötzlich auch parallel zu den gesprochenen Szenen im Video, die Studierenden im Film äußern „I am free to leave now“ gleichzeitig mit der Voiceover Stimme als wiederkehrendes Element. So entstand ein Kaleidoskop aus Szenen, das die Lebenswirklichkeit der Studierenden auf viele Weisen widerspiegelt und zugleich theoretisiert. Der entstandene Kurzfilm hat das Potential, die Konflikte und Widersprüche weiterzutragen, er kann von allen Beteiligten weiter genutzt werden, für Filmscreenings, als Teil einer Ausstellung oder einer Diskussionsrunde: How we live now – Art System, Work Flow and Creative Industries.[3]

Die Zusammenarbeit mit und zwischen den Studierenden (mit sehr unterschiedlichen Herkunftsländern und finanziell sowie schichtspezifisch diversen Hintergründen) vermittelte ein Gefühl dafür, was es bedeutet, Konflikte zu artikulieren und öffentlich zu machen, welche Momente der Solidarisierung dabei entstehen, und wie auch auf einer globalen Ebene Konflikte und Migrationsprozesse zusammenhängen. Dabei ist es für uns als Lehrende wichtiger, den Studierenden die Möglichkeit zu eröffnen, mit Praxis und Theorie kulturelle, soziale, politische Situationen zu erforschen und zu durchdringen, als diese in eine vorformulierte kuratorische (Subjekt)-Position zu bringen. Jede meiner Tätigkeiten hat daher pädagogische Anteile: Das Lehren, das Herausgeben und Schreiben, das Kuratieren und Filmemachen. Ich sehe dies aber vor allem als Anleitung zur Selbstermächtigung innerhalb der oftmals verwirrenden, widersprüchlichen und machtförmigen Verhältnisse. Es geht darum, durch das Wissen um die eigene Situation und die historisch gewordenen Kontexte, zu einer Agency zu gelangen, bei der man/frau die Möglichkeiten nutzt, sich zu artikulieren, um bestimmte Lebensverhältnisse für viele anzustreben und einzufordern. Feministische Forderungen haben schon lange auf den Zusammenhang von Mikropolitiken und Makropolitik aufmerksam gemacht, daher meint Agency in einem kuratorischen Sinne hier: Curate your context!

Abb. 1-3 ‘How we live now – Art System, Work Flow and Creative Industries.’

AnmErkungen

[1] Wie Oliver Marchart in seinem Aufsatz Die Institution spricht darstellt, lässt sich dieser Begriff auf zeitgenössische kulturelle Institutionen anwenden: „Während wir üblicherweise zum ,Staat‘ Institutionen wie die ,Regierung, die Verwaltung, die Armee, die Polizei, die Gerichte, die Gefängnisse ’ zählen, erweitert Althusser unseren Staatsbegriff signifikant. Die genannten Institutionen bezeichnet er als Repressive Staatsapparate, weil sie im Ernstfall auf das Gewaltmonopol des Staates zurückgreifen können. Zum Staat gehören nach Althusser nun aber auch die Ideologischen Staatsapparate, – kurz ISAs. Darunter subsumiert Althusser den religiösen ISA (die Kirchen), den schulischen (öffentliche und private Bildungseinrichtungen), den familiären, den juristischen, den politischen (das politische System inklusive der Parteien), den gewerkschaftlichen, den der Information (die Medien) und schließlich den kulturellen ISA (Althusser zählt hierzu ‚Literatur, Kunst und Sport usw.)“ (Marchart 2005, S. 34 ff.). In Marcharts Aufzählung fehlt noch die von Grasskamp als totalitär bezeichnete Allgegenwart der Werbung sowie der Images aus Massenmedien.

[2] Untersucht wurden diese in jüngerer Zeit an vielen Hochschulen entstandenen Studiengänge und deren implizites Verständnis von Subjektivität von Katja Molis (Molis 2019). Die theoretische Referenz zu neuen Arbeits- und Produktionsformen haben Luc Boltanski und Eve Chiapello erarbeitet (Boltanski/Chiapello 2003).

[3] Unter shared projects auf der Website curating.org sind einige unserer Gemeinschaftsprojekte zu finden. Der Film zu dem beschriebenen Projekt How we live now – Art System, Work Flow and Creative Industries findet sich hier: https://www.curating.org/video-production-how-we-live-now-times-of-creative-industries/. Weitere Projekte, die in Videofilmen mündeten, sind Speculative Curating with Christian Falsnaes: https://www.curating.org/speculative-curating-with-christian-falsnaes/ und Opening mit Christian Falsnaes, der in der Ausstellung Is it (Y)ours? gezeigt wurde: https://www.curating.org/is-it-yours/ [7.3.2021]

Literatur

Althusser, Louis (1970): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg: VSA-Verlag. Bal, Mieke (2002): Kulturanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Taschenbuch.

Bennett, Tony (1995): The Birth of the Museum, history, theory, politics, London, New York: Routledge.

Bennett, Tony (1995): The Birth of the Museum: history, theory, politics. London, New York: Routledge.

Boltanski, Luc/Chiapello, Eve (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Universitätsverlag Konstanz.

Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1986): Social Space and Symbolic Power. In: Sociological Theory, 7. Jahrgang, Ausgabe 1, S. 14–25.

Bourdieu, Pierre (1996): Physical Space, Social Space and Habitus. Rapport 10. Oslo: University of Oslo, Department of Sociology And Human Geography.

Bourdieu, Pierre (2005): Ökonomisches Kapital – kulturelles Kapital – soziales Kapital. In: ders.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag, S. 13–29.

Buurmann, Nanne/Richter, Dorothee (Hrsg.) (2017): Editorial: documenta: Curating the History of the Present. In: dies. (Hrsg.): documenta: Curating the History of the Present. Online: https://www.on-curating.org/issue-33.html#.YEPs1i1XaRs“>https://www.on-curating.org/issue-33.html#.YEPs1i1XaRs [6.3.2021]

Eagleton, Terry (1994): Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart, Weimar: Metzler.

Foucault, Michel (1977): Discipline & Punish: The Birth of the Prison, hrsg. von Sheridan, Alan. New York: Vintage Books.

Foucault, Michel (1981): The Order of Discourse. In: Young, Robert (Hrsg.): Untying the Text: A Post-Structuralist Reader. Boston: Routledge & Kegan Paul, S. 48–78.

Grasskamp, Walter (2000): Unberührbar und unverkäuflich. Der Museumsshop als Notausgang. In: ders. (Hrsg.): Konsumglück. Die Ware Erlösung, München: C.H. Beck Verlag, S. 143–152.

Graw, Isabelle (2010): High Price. Art Between the Market and Celebrity Culture. Berlin: Sternberg Press. O’Doherty, Brian (1986): Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space. Berkeley: University of California Press.

Lacan, Jacques (1986): Das Spielgelstadium als Bildner der Ich-Funktion. In: ders.: Schriften I, Weinheim, Berlin: Walter und Quadriga.

Marchart, Oliver (2005): Die Institution spricht. In: Jaschke, Beatrice/Martinz-Turek, Charlotte/Sternfeld, Nora (Hrsg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen. Wien: Turia + Kant, l.

Marchart, Oliver (2008): Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta-Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Bienalisierung. Köln: König.

Marchart, Oliver (2019): Conflictual Aesthetics. Artistic Activism and the Public Sphere. Berlin: Sternberg Press, S. 146.

Migros Museum für Gegenwartskunst (2016): Facts and Figures. Online: https://migrosmuseum.ch/storage/product-pdfs/Facts_and_Figures/mm_factsandfigures_D.pdf [6.3.2021]

Molis, Katja (2019): Kuratorische Subjekte, Praktiken der Subjektivierung in der Aus- und Weiterbildung im Kunstbetrieb. Bielefeld: Transcript.

Munder, Heike/Wuggenig, Ulf (Hrsg.) (2012): Das Kunstfeld. Eine Studie über Akteure und Institutionen der zeitgenössischen Kunst. Zürich: JRP | Ringier.

Schade, Sigrid/Wenk, Silke (1995): Inszenierung des Sehens: Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz. In: Hof, Renate/Bußman, Hadumod (Hrsg.): Genus – zur Geschichte der Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Stuttgart: Kröner.

Schober, Anna (1994): Montierte Geschichten. Programmatisch inszenierte historische Ausstellungen. Wien: J & V.

Sternfeld, Nora (2005): Der Taxispielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbstermächtigung. In: Jaschke, Beatrice/Martinz-Turek, Charlotte/Sternfeld, Nora (Hrsg.): Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen. Wien: Turia + Kant, 15–34.

von Osten, Marion (2005): Producing Publics- Making Worlds! Zum Verhältnis von Kunstöffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit. In: Raunig, Gerald/Wuggenig, Ulf (Hrsg.): Publicum. Theorien der Öffentlichkeit. Wien: Turia + Kant.

Abbildungen

Abbildungen 1–3 ‘How we live now – Art System, Work Flow and Creative Industries.’

Von Dorothee Richter

Veröffentlicht am 6. Mai 2023

Zitiervorschlag

Richter, Dorothee: Kuratieren contra Vermitteln, in: Annemarie Hahn, Nada Rosa Schroer, Eva Hegge, Torsten Meyer (Hg.): Curatorial Learning Spaces. Kunst, Bildung und kuratorische Praxis, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2023. Quelle: https://zkmb.de/kuratieren-contra-vermitteln/; Letzter Zugriff: 14.05.2024