„Übertrag“ ist ein Begriff aus der Buchhaltung und bezeichnet dort das Ergebnis einer Rechnung, eine Zwischensumme, die aus Platzgründen auf ein neues Blatt übertragen wird. Man assoziiert bei dem gewählten Titel also zu Recht, dass im vorliegenden Buch bezüglich der kunstpädagogischen Arbeit von Karl-Josef Pazzini Bilanz gezogen, besser eine Zwischen- summe seines Wirkens kalkuliert werden soll, gehen wir doch davon aus, dass er sich noch lange Zeit in den kunstpädagogischen Diskurs einmischen bzw. dort noch lange nachwirken wird. Die Frage, die sich also in dieser Perspektive stellt, ist: Was ist der Übertrag seiner mehr als 30-jährigen Arbeit als Forscher und (Hochschul-)Lehrer im Feld der Verkoppelung von Kunst und Pädagogik?
Es gibt verschiedene Wege, diese Frage zu beantworten. Wir könnten Rechnungen aufstellen, beispielsweise die beachtliche Anzahl seiner Vorträge, seiner Aufsätze, Monographien undHerausgeberschaften auflisten. Oder versuchen, die Wirksamkeit seiner Lehre an der Anzahlder durch ihn betreuten Promotionen zu messen. Oder an der Anzahl der Professorinnen und Professoren, die aus dem u. a. von ihm geleiteten Hamburger Graduiertenkolleg „Ästhetische Bildung“ hervorgegangen sind.
Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden. Nicht nur, weil diese Aufrechnungen nichts oder zumindest nur wenig über die inhaltliche Breite, den individuellen Stil und die Ausrichtung von Karl-Josef Pazzinis Arbeit aussagen können. Sondern auch und insbesondere aus einem anderen Grund: Wer die spezifische Ausrichtung des kunstpädagogischen und bildungstheoretischen Denkens von Karl-Josef Pazzini kennt, der hört beim Begriff „Übertrag“ sofort auch die „Übertragung“ mit und damit einen der zentralen psychoanalytischen Begriffe, den er in den letzten Jahren verstärkt beforscht, einer Reformulierung unterzogen und für die Beschreibung der (nicht nur kunstpädagogischen) Lehre erschlossen hat (vgl. dazu beispielsweise Pazzini 2011a und b, 2012, 2013a, 2015 und Meyer/Crommelin/Zahn 2010).
Die Übertragung stellt sich als relationales Geschehen zwischen mindestens zwei Menschen her; und sie prozessiert unbewusst. Sie lässt sich also nicht willentlich herstellen oder steuern. Schon Freuds Konzeption von Übertragung stellt gleichsam die Vorstellung eines geschlossenen, klar abgrenzbaren Individuums in Frage. Freud, so Pazzini, versuchte mit dem Begriff
eine wirksame relationale Raumzeit zwischen Menschen zu fassen […], die über die individuelle Abschottung, genannt Autonomie, Individualismus, gar Autarkie hinausgreift. Das Konzept konfrontiert mit der Fiktionalität der Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft oder – etwas kleiner – Gesellung, lässt juristische Abgrenzungen (etwa Zurechenbarkeit) der individuellen Eigenschaften (etwa dem, was Kompetenz heißt) anders sehen. (Pazzini 2015: 319)
Übertragung ist demnach ein Geschehen zwischen nur scheinbar klar abgegrenzten Individuen, das diese verändert, ohne dass es die Möglichkeit gibt, diese Veränderungen als Resultat eindeutiger Richtungsvektoren zu erkennen, wie Pazzini an anderer Stelle schreibt:
Es gibt offenbar einen energetischen Fluss zwischen Menschen, der Effekte am einen wie am anderen Pol der Beziehung entstehen lässt und sich aus der Relation der Individuen als Subjekt zueinander ergibt. Ein Effekt von Übertragungen ist wahrscheinlich die Kristallisation eines individuellen Subjekts und eines Objekts als sedimentierte Pole vieler Übertragungsbeziehungen, bereit und angewiesen auf weitere Übertragung. (Pazzini 2011: 197)
Auch die diskursiven Praxen der wissenschaftlichen Forschung und Lehre sind in solche Übertragungsprozesse eingelassen. In diesem Sinne haben wir im September 2015 (ehemalige) Studierende, Schüler*innen und Kollegen*innen von Karl-Josef Pazzini aus dem Feld der Kunstpädagogik und der Ästhetischen Bildung zu einer Tagung ins Hamburger Warburg-Haus eingeladen, um dort anlässlich seines jüngsten Buchs Bildung vor Bildern. Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse (2015) über die theoretische Ausrichtung des Zusammenhangs von Kunst und Pädagogik nachzudenken.
Unser Ziel war es, eine Debatte anzustoßen über das, was die Beitragenden an ihren jeweiligen Plätzen für bedeutsam, festgefahren, unlösbar halten – auch wenn/weil/obwohl/indem sie sich auf von Karl-Josef Pazzini Formuliertes beziehen. Leitende Fragen dabei waren: Wie wirken die Bezugnahmen in der eigenen Arbeit? Wie und wo gab es Anlässe für eigene Anschlüsse? Welche Texte von Karl-Josef Pazzini spielen dabei eine Rolle? Wie lassen sich die ständig veränderbaren Bildungsprozesse vor, durch, mit und in Bildern weiter ausdifferenzieren? Welche Relektüren und Fortführungen (in des Wortes mehrfachen Bedeutungen) zeichnen sich ab?
Aus der genannten Tagung und ihren Diskussionen sind für den vorliegenden Sammelband Texte, Kommentare und künstlerische Beiträge entstanden, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise an Karl-Josef Pazzinis kunstpädagogisches Denken anknüpfen und so im zweifachen Sinne den Übertrag von seinen Arbeiten in die eigene Lehr- und Forschungsarbeit kalkulieren. Einerseits wird jene Zwischensumme gebildet über inhaltliche Ausgangspositionen für Neues. Andererseits bieten die Beiträge eine Form, in der etwas vom Übertrag zur Darstellung kommen kann, im Sinne einer Nachwirkung von Übertragungen – sowohl in der inhaltlichenals auch persönlichen Begegnung mit Karl-Josef Pazzini.
Den Bildern im weiten Sinne eignet in diesem Band insofern eine verbindende wie trennende und damit lockernde Funktion, als sie denkwürdige Übergangsobjekte zwischen Sichtbarkeit und Virtualität darstellen. Sie sind sowohl an der Gestaltbildung im Sinne von Potenzialen des Entwerfens eines Zukünftigen beteiligt als auch an Prozessen des Speicherns, Archivierens, Repräsentierens und dienen damit als Bodensatz der Erinnerungen. Sie dienen als lockende „Blickfänger“ (vgl. Härtel/Pazzini 2017) und wecken Wünsche wie Ängste. Gleichwohl bleiben sie lediglich flüchtige, situative, konzeptionelle oder formelle Öffnungen auf etwas hin, willentlich unverfügbare und doch inszenierbare Verführungen (vgl. Pazzini/Sabisch/Tyradellis 2013b). Wie sich die Bilder im Übertragungsgeschehen verändern, überlagern und konkurrieren, wie sie sich dem Versuch widersetzen, ihrer habhaft zu werden, sie zu bearbeiten und wie sie eben dadurch Subjekte konstituieren und Kollektive formieren, zur Infrastruktur des Wissens werden, schimmert in vielen Beiträgen nur indirekt durch.
Um das Unvorhersehbare, das durch Bilder auf ihn zukommt, anzuzeigen, trägt Karl-Josef Pazzini hier nicht nur schriftlich bei. Unter dem Titel „Zufall“ hat er eine Serie von Bildern zusammengestellt, die ihm zugefallen und zu Fotos geworden sind. Diese Zufälle ziehen sich durch das ganze Buch und unterbrechen die Reihe der Texte gelegentlich visuell. Direkt im Anschluss an diese Einleitung folgen ein paar kurze Erläuterungen dazu.
Das Buch ist ummantelt mit einem Still aus dem Animationsfilm „Google Earth Art“, den Com&Com 2008 in Zusammenarbeit mit Google Schweiz unter Anwendung der Technologie und Ästhetik von Google Earth entwickelt haben. Der Film zeigt einen virtuellen Flug durch das 3-D-Modell der Schweizer Alpenwelt (vgl. http://com-com.ch/de/archive/detail/15). Er führt vorbei an einer ebenfalls in Google Earth programmierten virtuellen Textarbeit von Com&Com: An der Flanke des schneebedeckten Gebirgszuges zwischen Wetterhorn (3701 m) und Schreckhorn (4078 m) prangt ein „Dictum“ aus der Text- und Aphorismensammlungvon Com&Com: „It’s so superficial, but it’s true“. – Com&Com, die auch schon für dasCover des Buchs zum 60. Geburtstag Karl-Josef Pazzinis verantwortlich zeichneten (Meyer/ Crommelin/Zahn 2010), lassen in scheinbar ironischer, im Detail der Referenzialitäten jedoch höchstkomplexen Weise die kontemplative Reise durch die auf die schweizerische Identität rekurrierende, mythisch-auratische Bergwelt der Alpen als virtualisierte Land Art auf Andy Warhols Philosophie der Oberflächlichkeit treffen.
Die folgenden Beiträge gehen wesentlich auf Vorträge zurück, die im Rahmen der Tagung vom 17. bis 19. September 2015 im Hamburger Warburg-Haus gehalten wurden. Zum Teil werden die Texte durch Kommentare begleitet, die auf Basis der Diskussionen im Anschluss an die Vorträge entstanden sind. Wir haben uns dazu entschieden, die lebhaften und zum Teil sehr fruchtbaren Diskussionen auf diese Weise mit zu dokumentieren und hoffen, dass dadurch ansatzweise auch eine Idee der Atmosphäre im Warburg-Haus in die schriftliche Form hinübergerettet werden kann.
Torsten Meyer konstatiert in Übertragung verschiedener Gedanken Karl-Josef Pazzinis Die Stimmung des 21. Jahrhunderts als (tendenziell) psychotisch. Als Methodologische Einführung in ein größeres Forschungsvorhaben, das eine Phänomenologie der „Stimmung des 21. Jahrhunderts“ versuchen und daraus Folgerungen für die kunstpädagogische Theoriebildung ableiten würde, zeichnet er grundlegende Theorien im Sinne eines „Pazzini State of Mind“ nach – nämlich die strukturale Epistemologie und Jacques Lacans Konzeption des psychischen Apparats als Borromäischer Knoten, der das Reale, das Symbolische und das Imaginäre miteinander verknüpft – und verbindet beides in Anwendung von Pazzinis Konzept von „Stimmung“ (Pazzini 2015: 317-339) zu einer abstrakten Vorlage für ein komplexes Spekulieren über die Wirkungen der aktuellen Medienkultur und deren Folgen für die kunstpädagogische Theoriebildung.
Silvia Henke konzipiert den Übertrag als Wirkungen von zweierlei Vorbildern der Lehre, die Pazzini, anlässlich der Umstrukturierung an der Hochschule in Luzern, auf Basis einer gemeinsamen Betrachtung des Videos Lasso von Salla Tykkä in Gang setzte. Sie diskutiert einerseits, inwiefern das Video nicht lediglich als illustrierendes Beispiel, sondern als Vorbild fungiere. Andererseits beschreibt sie Pazzinis Lehre als Vorbild, als „Erfahrung im Modus der Bildhaftigkeit“, die auf Übertragung ziele. Indem sie in der eigenen Lehre Videoarbeiten von Studierenden neu vertonen lässt und damit eine „auditive Bildhaftigkeit“ hervorhebt, führt sie uns unsere eigene mediale wie emotionale Verstrickung innerhalb des Produktionsprozesses vor: „Damit die Melodie wirkt, die Übertragung stattfindet, dürfen wir nicht sofort wissen, ob sie passt.“
In ihrem Kommentar differenziert Sonja Andrykowski drei unterschiedliche Ebenen und Lesarten der Videoarbeit von Tykkä. Sie beschreibt zuerst die narrative Ebene. Zweitens thematisiert sie, wie das Video durch ein Blickgeschehen konstruiert wird und wie sich das „Durchwirken“ von Erzählebene und Blickebene aktualisiere. Und drittens entfaltet sie mit Pazzini eine bildungsrelevante Ebene der bildhaften Schnittstelle, einer inhärenten, nahezu metaphorischen Medienreflexion, die durch das eigene Spiegelbild hindurch geschehe, „um das andere zu sehen“.
Mit dem „Bildschirm“ nimmt Manuel Zahn Bezug auf einen Begriff, der in vielfältigen Weisen und Kontexten in Pazzinis bildungstheoretischem Denken in Erscheinung tritt. In seinem Text geht er dem Begriff des Bildschirms und seinen Bedeutungsebenen vor dem Hintergrund der aktuellen digitalen Medienkultur nach. Letztlich werden Bildschirme in medienökologischer und dispositivtheoretischer Perspektive als „Knoten“ einer weltweit vernetzten, digitalen Medienkultur thematisiert und gleichsam der theoretische Blick von einer individuellen auf eine dividuelle, also vielfach verteilte und geteilte Subjektivität verschoben.
Sven Scharfenberg ergänzt Zahns Beitrag mit einer Differenzierung zwischen Objektivationen und Dispositiven. Vor diesem Hintergrund kann er in Bezug auf Bührmann/Schneider (2008) Objekte wie beispielsweise technische Geräte „als Bestandteile überlappender, konkurrierend oder synergetisch wirkender Dispositive, die auf ihre Erschaffer*innen (unbewusst) eingewirkt haben, beschreiben und historisieren, wie er am Beispiel des Bleistifts darlegt.
Rahel Puffert fragt in ihrem Beitrag, ob es noch zeitgemäß sei, den Bildungsbegriff „so eng“ auf den Bildbegriff zu beziehen, wie Pazzini dies thematisiere. Mit Lissitzkys Prounen stellt sie dabei eine künstlerische Arbeit ins Zentrum ihrer Überlegungen, die den Übergang von der zentralperspektivischen Fixierung der Betrachtenden hin zu ihrer räumlichen Situierung markiere. Die Arbeit rufe die zentralperspektivischen Sehgewohnheiten zwar auf, aber nur, um ein anderes Sehen anzuregen, um die zentralperspektivische Bildordnung zu dekonstruieren. Inwiefern dieses andere Sehen jedoch an eine Bildlichkeit gekoppelt bleibt, diskutiert Stefanie Johns in ihrem Kommentar. Sie beschreibt den Zusammenhang von Bildlichkeit und Sichtbarkeit ausgehend von Mersch und skizziert mit dem Begriff des Displays (nach Loreck) eine Möglichkeit, die Rahmung zu aktivieren, um Bildliches entstehen, kondensieren und sich verändern zu lassen.
Der Text von Andrea Sabisch stellt einen bildungstheoretischen Übertrag dar, der im Anschluss an Pazzini das wechselseitige Zusammenspiel zwischen Bildwerdung und Subjektbildung thematisiert und dabei die konstitutive Rolle der Medien hervorhebt. In Bezug auf Merschs Darstellung zweier verschiedener Zugänge zum Medialen (Dia/Per) zeigt Sabisch an der künstlerischen Arbeit von Mathieu, wie eine mediale Performanz im Visuellen konkretisiert und differenziert werden kann. Sie schlägt vor, die transformatorische Bildungstheorie um die Dimension der performatorischen zu ergänzen und die sprachtheoretischen Legitimationen der Bildungstheorie um bildtheoretische zu erweitern.
Diesen Vorschlag unterstützt Hans-Christoph Koller in seinem Kommentar, indem er darlegt, dass Bildern in transformatorischen Bildungsprozessen potenziell zwei unterschiedliche Rollen zukommen: einerseits als „Gegenstand“ oder „Medium dieses Transformationsgeschehens“, andererseits als Anlass für bildende Transformationen. Gleichzeitig skizziert Koller, inwiefern eine bildtheoretisch grundierte Bildungstheorie im Anschluss an Sabischs Beitrag weiterer Entwicklungsarbeit bedürfe.
Auch Keike Mendt sucht ausgehend von ihrer eigenen künstlerischen Arbeit mit Bildern/ Bildsammlungen nach theoretischen Beschreibungen einer visuellen Bildung, wobei sie die experimentelle Praxis mit den stets prekären Sinnverknüpfungen zwischen Bild und Sprache hervorhebt. Dabei spielt der Begriff des Bildzwischenraums für sie eine zentrale Rolle, der von ihr in Bezug auf Bernhard Waldenfels’ Phänomenologie des Fremden und die bildungstheoretischen Überlegungen von Rainer Kokemohr, Hans-Christoph Koller und Karl-Josef Pazzini als Anlass von individuellen Bildungsprozessen diskutiert wird. Ihr Buchbeitrag besteht aus einer Text- und Bildspur, die sich gegenseitig ergänzend nebeneinander stehen.
Notburga Karl und Evelyn May reflektieren ihre gemeinsame Performance im Rahmen der Tagung im Warburg-Haus. „Einfallende Bilder“ infolge des Anlasses, des Rahmens, des Ortes, Namen-Verwandtschaften und das Präsentationsformat lösen Assoziationen aus, denen die Autorinnen nachspüren. Immer wieder anknüpfend an das Motiv des Teppichs und anhand der Person Karl Mays stellen Karl und May Bezüge zu Karl-Josef Pazzinis Bildung vor Bildern her.
Andreas Brenne kommentiert den Beitrag von Karl/May, indem er die Metapher des Teppichs aufgreift. Am Beispiel punktueller Einblicke in Karl Mays Biographie und Werk veranschaulicht Brenne einige Lesarten dieses Vergleichs eines „komplexen textilen Gewebes“ mit der „hybriden Struktur von Identität“.
Susanne Gottlob stellt assoziative Kopplungen zwischen dem bildhaften Denken Warburgs und demjenigen Pazzinis her. Indem sie Warburgs Auseinandersetzung mit der Ellipse als physikalischer Form rekonstruiert, auf die elliptische Deckenkonstruktion der Bibliothek im Warburg-Haus eingeht und dazu verschiedene Zeichnungen Warburgs zur Ellipse zeigt, wird deutlich, wie stark Warburg vom Bildhaften ausgehend sein Denken modellierte. Schon früh stellt er Gottlob zufolge einen Zusammenhang zwischen Bild und Symptom her und von hier aus wurde sein Forschen motiviert. Pazzini „streife“ in seinen Schriften und seiner Lehre etwas davon.
Heinrich Lüber überträgt seine Erfahrungen mit dem akademischen Lehrer Karl-Josef Pazzini in das Medium seiner künstlerischen Artikulation. Wäre er (zu seinem sehr großen Bedauern) bei der Tagung im September 2015 nicht verhindert gewesen, hätte er in, vor und auf den Bücherregalen der Bibliothek des Warburg-Hauses eine Performance realisiert, die mittels monologischem Sprechen „Wirbel im Raum“ erzeugt hätte. Für dieses Buch hat Heinrich Lüber seine Ideen für die nicht stattgefundene Performance aufgezeichnet.
Ausgehend von dem Dokumentarfilm Gerhard Richter Painting thematisiert Ole Wollbergs Beitrag Zusammenhänge zwischen künstlerischer Bildung und verkörpertem, implizitem Wissen. Der Begriff der Anmut wird dabei von ihm als Indiz für das Wirken impliziten Wissens in ästhetischen Praktiken verstanden. Zusätzlich entwickelt er die theoretische Figur der Bildungen des Ungewussten (anspielend auf und zugleich abgrenzend von Freuds Bildungen des Unbewussten), um das in Richters Praxis relevante implizite Wissensregister zu konturieren.
Jasmin Böschen geht als Filmemacherin in ihrem Kommentar der Frage nach, wie sich das Konzept des verkörperten Wissens auf künstlerische Arbeiten anwenden lässt, in denen Maschinen, sei es ein Fotoapparat, eine Filmkamera oder ein Computer zum Einsatz kommen und in denen eine größere Anzahl von Menschen am Produktionsprozess beteiligt ist.
Joana Faria widmet ihren Beitrag dem psychoanalytischen Konzept der Nachträglichkeit, wie es von Sigmund Freud im Kontext der psychoanalytischen Kur entwickelt und u. a. von Karl-Josef Pazzini in den bildungstheoretischen Diskurs eingebracht worden ist. In professionstheoretischer Perspektive stellt „Nachträglichkeit“ eine andere, alternative Reflexionsfolievon pädagogischen Prozessen und ihrer Wirksamkeit zu derzeit populären Kompetenztheorien dar. Faria entfaltet die zeitliche und soziale Komplexität von Lehr-, Lern- und Bildungsprozessen und stellt im Anschluss daran nochmals deren Unplanbarkeit heraus. Diese ist vor dem Hintergrund der Nachträglichkeit aber nicht als Defizit zu verstehen, sondern vielmehr als Voraussetzung für Bildung, für ein individuelles Begehren, sowohl auf Seiten der Schüler*innen als auch auf Seiten der Lehrer*innen.
Janes Heuer schlägt mit seinem Kommentar zu Joana Farias Beitrag eine Brücke vom Konzept der Nachträglichkeit in Bildungsprozessen zum Diskurs um Behinderung und Inklusion. Dabei plädiert Heuer für ein Verständnis von Behinderung als Behinderungserfahrungen in sozialen Prozessen. Mit dieser Konzeption von Behinderung geht nicht nur eine andere zeitliche Logik vermeintlicher „Status“ einher, sondern auch eine andere Verortung, die mehr als ein Individuum betrifft.
Insa Härtels Beitrag thematisiert den psychoanalytischen Zusammenhang von Bild und Begehren bzw. Wünschen und Magie. Mit Robert Pfaller und Karl-Josef Pazzini stellt sie zwei unterschiedliche Deutungen vom Akt der Sichtbarmachung im Verhältnis zur Wunscherfüllung einander gegenüber. Im Zuge ihrer Forschungen zum TV-Format der so genannten Messie-Sendungen kann sie zeigen, dass der Reiz dieser Serien darin besteht, die Ambivalenz zwischen beiden Positionen im Modus der Sichtbarkeit erfahrbar zu machen.
Ute Vorkoeper und Tanja Wetzel greifen Karl-Josef Pazzinis Begriff der „paradoxalen Aufenthaltsräume“ auf und fragen, wann Kunst solche Räume zu erzeugen vermag, in denen die „Unmöglichkeit der einen Wahrheit“ erfahrbar wird. Die Autorinnen stellen einen „heterogenen Bilder-Parcours“ zusammen, dessen Beispiele von Caravaggio über Birgit Hein bis Francis Alÿs auf je unterschiedliche Weise zu einer „Annäherung an eine Antwort“ beitragen. Bernadett Settele bezieht sich in ihrem Kommentar auf das Beispiel Abstrakter Film von Birgit Hein. Entlang einer formalen Analyse betont sie den performativen Aspekt der Rezeption, der in dieser Arbeit stark an die kulturelle Herkunft der Betrachter*innen gekoppelt sei. Orientierungslos projizieren und koproduzieren wir – so zeigt Settele – jene „zerstreute, flimmernde Wahrheit“, der uns der Film aussetzt.
Eva Sturm fragt sich unter anderem unter Bezug auf Karl-Josef Pazzini, wie man antirassistisch sprechen kann. Und sie fragt gleichsam, was Kunst, Kunstpädagogik und Kunstvermittlung dazu beitragen können, die machtvollen Gewohnheiten eines hegemonialen, identifizierenden Sprechens und Handelns zu dekonstruieren. Im Dialog mit künstlerischen Arbeiten von Jean-Ulrick Désert und Hansel Sato geht sie diesen Fragen nach und zeigt, dass Kunst und Kunstvermittlung „Samenkörner“ (Hildebrandt) sein können, indem sie ein problematisches Verhältnis (z. B. zum Fremden) zuallererst sichtbar machen und auch dazu anregen können, darüber in einen Diskurs zu treten und so die „paranoische Festungsmentalität“ (Pazzini) des individuellen Subjekts zu erschüttern.
Katja Hoffmann greift in ihrem Kommentar zu Sturms Text diesen Begriff von Pazzini auf und betont in postkolonialer und antirassistischer Perspektive die Wichtigkeit der Sichtbarmachung, Infragestellung und gleichsam der „Erschütterungen“ von selbstverständlich gewordenen, institutionalisierten rassistischen Wissensordnungen für eine aktuelle Kunstpädagogik und damit zusammenhängende Bildungsprozesse.
Gereon Wulftange nimmt eine Illustration von Janosch zum Anlass, über „Aggressivität, Phantasma und Begehren zwischen den Generationen“ zu reflektieren. Ein Sohn reicht seinem Vater – einem Löwen –, damit dieser nicht verhungere, eine Möhre in den Käfig. Der Sohn hatte ihn eingesperrt in der Befürchtung, gefressen zu werden. Entlang seiner Beschreibungen und Auslegungen dieses Bildes (mit Text) liest Wulftange ein Wissen über ein Generationenverhältnis aus, das sich um das Phantasma des (falschen) Käfigs rankt.
Der Kommentar von Ole Wollberg greift die Lesart der Zeichnung als Phantasma auf und geht der Bemerkung nach, dass der Käfig als nicht geschlossen betrachtet werden könnte. Anhand eines Vergleichs mit dem Fall eines echten menschenfressenden Löwen „hinter Gittern“ ergänzt er Wulftanges Beitrag um einige Aspekte der symbolischen Dimension der Gitterstäbe in diesem Bild einer Vater-Sohn-Beziehung.
Karl-Josef Pazzini hat das Schweizer Künstler-Duo Com&Com für die Kunstpädagogik entdeckt. Davon zeugen zum Beispiel die Texte „Einfallende Bilder“ (Pazzini 2015: 225- 248), „Geniale Epigonen“ (ebd. 249-266) und „Das zu Lesende“ (ebd. 267-277) in seinem Buch „Bildung vor Bildern“. Diese Art der Wertschätzung hat bei den beiden Künstlern zu einem überaus produktiven Denken geführt, das wunderbar viele Anschlussmöglichkeiten für (kunst)pädagogische Perspektiven bietet, wie Johannes M. Hedinger in seinem Beitrag zu diesem Buch zeigt. Unter Bezug auf Kenneth Goldsmith ruft Hedinger zum produktiven Verlieren in der aktuellen Medienkultur auf und erklärt, warum das Internet nicht den Untergang der abendländischen Kultur bedeutet und es uns zu kreativeren Menschen machen kann.
Pauline von Katte fragt sich – inspiriert durch Hedingers Denkanregung, René Descartes’ berühmtes Dictum „cogito ergo sum“ probehalber durch die saloppe Formulierung „Ich poste, also bin ich“ zu ersetzen –, woher die nächste Kunst käme, wenn nicht mehr allein die schöpferische Kraft des Menschen dafür verantwortlich wäre, sondern die Produktion von Kunst unterstützt oder ersetzt würde durch intelligente Maschinen, die den Menschen auf körperlicher und mentaler Ebene künstlich erweitern, wie das bereits beim Posten von so genannten Fake News geschieht.
Das Buch beschließt Karl-Josef Pazzini mit einem Auszug aus seinem aktuellen Forschungsprojekt. In seinem Beitrag Bildung vor Bildern. Pornographie als Bilddidaktik? geht es ihm um den Umgang mit Bildwirkungen im pädagogischen Kontext. Die Frage nach Bildern, die uns nachhaltig beunruhigen und die mit dem Begehren und der Sexualität untrennbar verwoben sind, verknüpft die Disziplinen Kunst, Pädagogik und Psychoanalyse miteinander. Sie wird so zum Anlass für einen strukturellen Vergleich zwischen dem Bildumgang in Didaktik und Pornographie. Dabei untersucht er, was in diesem Bildumgang zum Gegenstand, was ausgeblendet und zugerichtet wird, wie die bildhafte Ausrichtung der anderen konzipiert wird, in welchem Medium sie sich ereignet und inwiefern man selbst oder gerade Vermittlungsbemühungen auch als „Abwehr der Berührung und der Übertragung“ auffassen kann.
Daniel Wolff bezieht sich in seinem Kommentar auf Pazzinis Text „Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte“ (Pazzini 2000). Er fragt danach, wie sich die Aporie des „Weg-Bahnens-im-Unbekannten“ bei Pazzini noch „vertiefen“ lasse und diskutiert den Begriff des Originals in Kontrast zum Begriff der Anwendung (Derrida). Dabei entwickelt er ausgehend von Malabous Auseinandersetzungen mit der Plastizität einen Begriff des Originals, im Sinneeiner körperlichen Modifikation und eines plastischen Potenzials, der über die textuelle Anwendung bei Derrida hinausginge und somit Pazzinis Begriff der Anwendung ausweite.
Zuletzt möchten wir denjenigen von Herzen danken, die das Zustandekommen dieses Buches möglich gemacht haben: Allen Autorinnen und Autoren und allen Kommentatorinnen und Kommentatoren gebührt großer Dank für ihre Mitwirkung. Ebenfalls großer Dank geht an Yvonne Mattern für das Korrektorat, Johanna Meyer für den Satz und Com&Com für das Titelbild. Für die freundliche Beteiligung an den Herstellungskosten danken wir dem Dekanat der Fakultät für Erziehungswissenschaft sowie dem Lehrstuhl für Kunstpädagogik und Visuelle Bildung der Universität Hamburg, dem Lehrstuhl für Kunst und ihre Didaktik und dem Lehrstuhl für Ästhetische Bildung der Universität zu Köln.
Unser größter Dank geht an unseren akademischen Lehrer Karl-Josef Pazzini, der uns – wieder einmal – Anlass für ein allerhöchst interessantes Tagungs- und Publikationsprojekt gegeben hat und damit – wieder einmal – verdeutlicht hat, worin er unter anderem die Aufgabe des Universitätsprofessors sieht: Knoten in einem Netzwerk zu sein.
…
Während wir noch an diesem Buch arbeiteten, erreichte uns die Nachricht über den tragischen Tod von Janes Heuer. Sein Beitrag zu diesem Buch ist seine erste Publikation. Deren Erscheinen erlebt Janes Heuer nicht mehr. Wir möchten hier unsere Betroffenheit über seinen plötzlichen Tod ausdrücken.
Torsten Meyer Andrea Sabisch Ole Wollberg Manuel Zahn
Hamburg und Köln, im Frühsommer 2017
Härtel, Insa/Pazzini, Karl-Josef (Hrsg.) (2017): Blickfänger. Kleiner Stimmungsatlas in Einzelbänden. Hamburg: Textem Verlag.
Jankowiak, Tanja/Pazzini, Karl-Josef/Rath, Claus-Dieter (Hrsg.) (2015): Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen: Zur „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ in der Psychoanalyse. Bielefeld: Transcript.
Meyer, Torsten/Crommelin, Adrienne/Zahn, Manuel (Hrsg.) (2010): Sujet supposé savoir. Zum Moment der Übertragung in Kunst Pädagogik Psychoanalyse. Berlin: Kadmos.
Pazzini, Karl-Josef (2000): Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte. In: Bauhaus-Universität Weimar/Wischnack, Brigitte (Hrsg.): Tatort Kunsterziehung. Thesis. Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, Bd. 2. Weimar: Universitätsbibliothek Weimar, S. 8-17.
Pazzini, Karl-Josef (2011a): Kann man Übertragung sehen? – Lehren heißt, individuelle Grenzen überschreiten. In: Pazzini, Karl-Josef/Zahn, Manuel (Hrsg.): Lehr-Performances – filmische Inszenierungen des Lehrens. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften. S. 189-202
Pazzini, Karl-Josef (2011b): Übertragung: Bruchstücke einer Medien- und Bildungstheorie nach Freud. In: Meyer, Torsten/Tan, Wey-Han/Schwalbe, Christina/Appelt, Ralf (Hrsg.): Medien & Bildung: institutionelle Kontexte und kultureller Wandel. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften. S. 41-53.
Pazzini, Karl-Josef (2012): Übertragung und die Grenzen des Individuums. In: Michels, André/Gottlob, Susanne/Schwaiger, Bernhard (Hrsg.): Norm, Normalität, Gesetz. Wien, Berlin: Turia + Kant, S. 111-127.
Pazzini, Karl-Josef (2013a): Übertragung. Freuds Ahnung einer notwendig veränderten Sicht aufs individuelle Subjekt. In: Ahrbeck, Bernd/Dörr, Margret/Gstach, Johannes (Hrsg.): Strukturwandel der Seele. Modernisierungsprozesse und pädagogische Antworten. Jahrbuch für psychoanalytische Pädagogik 21. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 122-140.
Pazzini, Karl-Josef/Sabisch, Andrea/Tyradellis, Daniel (Hrsg.) (2013b): Das Unverfügbare. Wunder, Wissen, Bildung. Zürich, Berlin: Diaphanes.
Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse. Bielefeld: Transcript.