The artist may or may not know everything that lies in their artwork because they are as much an author as a medium for the channeling of different currents and energies (originating elsewhere in time and space and coming to inhabit their practice) of which he or she may as yet be only dimly conscious. (Raqs Media Collective 2010: 78)
Schon 2008 weist Irit Rogoff in ihrem damals erstmalig erscheinenden Essay Turning darauf hin, dass es nicht allein die Formate sein werden, die einen Wandel der Präsentationsorte zeitgenössischer Kunst im Anschluss an die Debatten der Institutionskritik ermöglichen werden.[1] Sie spricht damals von einer Nachahmung einer Ästhetik der Pädagogik, die in den vorangegangenen Jahren einen ‚educational turn‘ vorbereitet habe, der mitnichten einen Wandel weg von „den Strukturen von Objekten und Märkten und dominanten Ästhetiken“ eingeleitet hätte. „Education“ habe zwar die Potenzialität, Veränderungen herbeizuführen, diese seien aber nicht allein mit Bildungsformaten zu erzielen, denen Rogoff die Charakteristika „prozessorientiertes Arbeiten, ergebnisoffenes Experimentieren und Spekulieren, Unvorhersagbarkeit, Selbstorganisation“ zuschreibt (Rogoff 2012: 45). Diese Aspekte seien für eine kritikale Praxis zwar enorm produktiv, „tendierten […] doch allzu bereitwillig dazu, Institutionen der Kunstvermittlung, Archive, Bibliotheken und auf Forschung gründende Praxen etc. als repräsentative Strategien nachzuahmen“ (Rogoff 2012: 45). Seither wurden in der Ausstellungstheorie diverse ‚turns‘ diagnostiziert, die, ähnlich dem ‚educational turn‘, Ausstellungen, wenn auch unter anderen Vorzeichen, als Möglichkeitsraum und damit das Museum als Kontaktzone, Plattform oder Arena konzipierten (vgl. Clifford 1997; Sternfeld 2016). Dies aufgreifend konstatiert Rogoff, dass die Kunstwelt ein Ort des ausführlichen Sprechens geworden sei, in welchem Sprechen insbesondere auf die in der Kunstvermittlung gängigen Modi des Versammelns verweise, als ein Weg des Zugangs zu Wissen und Fragestellungen und in Hinblick auf Vernetzung und Organisation. Jedoch, und diese Frage möchte ich im Folgenden in den Fokus rücken, fügt Rogoff hinsichtlich der in diesem Rahmen stattfindenden Begegnungen besorgt an: „Haben wir dabei für relevant erachtet, was tatsächlich gesagt wurde, oder haben wir das schlichte Zusammenkommen von Menschen an einem Ort vorgezogen und darauf vertraut, dass Formate und Inhalte auf dieser Grundlage entstehen würden? “ (Rogoff 2012: 48).
Was bei Rogoff deutlich wird, ist die von ihr empfundene Besorgnis über mögliche Auslassungen, welche rein repräsentative Adaptionen – vor allem hinsichtlich fehlender Konsequenzen – mit sich bringen können.
Bereits seit einiger Zeit beschäftigt mich,[2] was Aspekte auch im Sinne von ethischen Haltungen einer emanzipatorischen, kritischen kuratorischen Praxis einerseits und der Bildungs- und Vermittlungsarbeit andererseits sein könnten, die einen nachhaltigen strukturellen Wandel institutioneller Bedingungen ermöglichen. Irit Rogoffs berechtigte Zweifel an der Kontinuität von im kuratorischen Kontext angestoßenen institutionskritischen Prozessen könnten, so meine Annahme, an bestimmten Punkten ausgehebelt werden, wenn Vermittlung und Kuratieren konsequenter zusammen und ihre Voraussetzungen anders gedacht würden.[3]
In ihrem Text What Can the Curatorial Learn from the Educational problematisiert auch Nora Sternfeld die Adaption bildnerischer Formate in kuratorischen Praxen im Zusammenhang mit dem „educational turn in curating“ (Sternfeld 2012: 335). Sie gibt zu bedenken, dass, sobald Vermittlung nur als ein Teil unter vielen in die kuratorische Wissensproduktion eingegliedert wird, selten die Frage aufkommt, was außen vorbleibt. So geht Sternfeld davon aus, dass die Vermittlung andere Prämissen zur Grundlage hat als die stets auf ein erneuerndes und transformierendes Handeln ausgerichtete „curatorial agency“ (Sternfeld 2012: 334), welche Sternfeld insbesondere in den Kontext neoliberaler Produktions- und Veränderungszwänge stellt. Vermittlungsarbeit könne hingegen schwerpunktmäßig prozesshaft und methodologisch gedacht werden.
Wenn vom Publikum in der kuratorischen Praxis lange als demografischer Kategorie die Rede war und damit oben beschriebene Resonanzen ausgeblendet wurden, ist es das Anliegen kritischer Vermittlungsarbeit, Orte zu schaffen, in denen es möglich ist, ebenjene unglamourösen Punkte gemeinsam zu verhandeln und zu verarbeiten. „In a certain sense, the educational has a lot to do with being prepared for entanglements and with the impossibility of staying clean in the process (if one ever were clean)“ (Sternfeld 2012: 340). Dies bringt nachvollziehbarerweise große Unsicherheiten mit sich, bedarf immer wieder hoher Kompromissbereitschaft und konfrontiert die kritischen Vermittler*innen – nehmen sie denn den emanzipatorischen Ansatz ihrer Arbeit ernst – mit vielfachen Möglichkeiten des Scheiterns. Diese Aspekte der alltäglichen Vermittlungsarbeit sind unumgängliche Teile von bildnerischen Prozessen, welche nach Sternfeld methodologisch oder politisch zu beschreiben sind als Reflexionen, Taktiken und Formen des Umgangs mit Bedingungen und Unvorhersehbarkeiten im Bildungsprozess (vgl. Sternfeld 2012).
Das emanzipatorische Bildungsverständnis, das dem zugrunde liegt, entspricht dem von Jacques Rancière in seinem in der Kulturvermittlung vielbeachteten Buch Le maître ignorant aus dem Jahr 1987 (deutsche Fassung vgl. Rancière 2009) beschriebenen Ansatz. Rancière problematisiert dort die Konzeption von Wissensvermittlung durch vermeintlich wissende Lehrer*innen hin zu unwissenden Schüler*innen, was auf der Annahme beruhe, dass eine direkte Wissensvermittlung möglich sei, demnach die vermittelte Sache genau so wie intendiert bei den Schüler*innen ankomme. Hierdurch stelle sich ein hierarchisches Lehrer*in-Schüler*in-Verhältnis her, da von unterschiedlichen Intelligenzen des Wissens und Nichtwissens ausgegangen werde. In Rancières Konzept des/der unwissenden Lehrmeister*in hingegen erlernen Schüler*innen nicht vordefiniertes Wissen, sondern erhalten ‚Werkzeuge‘ an die Hand, um eigenes Wissen zu erwerben. Rancière beschreibt dies am Beispiel Joseph Jacotots, eines französischen Exilanten, der in Belgien Niederländisch sprechende Studierende Französisch lehrte, ohne selbst deren Sprache zu sprechen. Dieses Lehren ohne direkte Wissensvermittlung erhält, so Rancière, die Autonomie aller Beteiligten und ermöglicht es, sich Wissen nach eigenem Ermessen anzueignen (vgl. Rancière 2009).
In „The Emancipated Spectator“ greift Rancière auf dieses Beispiel zurück und vergleicht es mit dem Verhältnis zwischen Theaterdramaturg*in und Publikum. Historisch mit Brecht, Piscator und Artaud hergeleitet, beschreibt Rancière das Konzept eines passiv sitzenden Publikums, welches durch die Inszenierung ‚aktiviert‘ werden soll. Auch wenn aktuell Dramaturg*innen und Performer*innen nichts ‚lehren‘ wollen, wie Rancière im Gegensatz zu klassischen Bildungskonzepten betont, sei dennoch nicht zu leugnen, dass sie durchaus etwas anderes wollen:
They want (…) to bring about a form of awareness or a force of feeling or action. But still they make the supposition that what will be felt or understood will be what they have put in their own script or performance. They presuppose the equality – meaning the homogeneity – of cause and effect. (Rancière 2007: 277f.)
Wie es Rancière auch für das Schüler*innen-Lehrer*innen-Verhältnis dargelegt hat, basiert dies auf der Annahme, dass es ein vermeintlich ‚richtiges‘ Verständnis oder die ‚richtige‘ Empfindung bei der Rezeption eines Stückes gebe, nämlich das durch die Künstler*innen vorgesehene. Dem stellt Rancière das Konzept der Emanzipation der Zuschauer*innen gegenüber, welches auf dem Prinzip der Gleichheit beruht:
It begins when we dismiss the opposition between looking and acting and understand that the distribution of the visible itself is part of the configuration of domination and subjection. It starts when we realize that looking is also an action that confirms or modifies that distribution, and that “interpreting the world” is already a means of transforming it, of reconfiguring it. (Rancière 2007: 277)
Was könnte ein emanzipatorisches Bildungsverständnis im Sinne Rancières für das kuratorische Handeln bedeuten? Mithilfe der von Sternfeld beschriebenen Aspekte von Vermittlungsarbeit möchte ich im Folgenden über das Selbstverständnis und die Werkzeuge unwissender Kurator*innen nachdenken und dafür, wie oben im Bildungszusammenhang geschehen, die Konditionen der Begegnung zentraler in den Fokus rücken. Der*die unwissende Kurator*in nimmt Prozessualität als Voraussetzung an und versteht es als eine seiner*ihrer Hauptaufgaben, nicht nur dafür Sorge zu tragen, was manifest ist, sondern was insbesondere auch darüber hinaus sprichwörtlich im Raum steht.
Die oft sogar nur momenthafte Begegnung ist ein zentraler Schauplatz im Komplex Institution. Unter ‚Begegnung‘ verstehe ich dabei – über das Zusammentreffen von Ausstellungsobjekt und Besucher*in sowie Besucher*innen und Besucher*innen hinaus – den performativen Prozess des ‚Öffentlichwerdens‘ in der raumzeitlichen, kollektiven Struktur der Ausstellung. Beatrice von Bismarck beschreibt diese Struktur folgendermaßen:
If one takes the spatiotemporal structure of the exhibition seriously in its performance mode, it expands the circle of the elements that comes together as an exhibition. Not only does this bring into view alongside the exhibits – the works of art and the artifacts – the various means of display and exhibitions space with its aesthetic and functional qualities, the people who relate to these elements – visitors, curators critics, for example – are just as much part of the exhibition situation. (Bismarck 2012: 209f.)
Besucher*innen und Objekte sind dabei also nur – wenn auch integrale – Teile in einer weiter gefassten Abfolge (und Parallelität) von Konstellationen, die sich im Rahmen der Ausstellung herstellen bzw. in der Begegnung zusammenkommen, womit die Ausstellung als ein Austragungsort eines Vorgangs oder Prozesses zu verstehen ist, welcher über die eigentliche räumliche Ausstellungslaufzeit hinaus im Kuratorischen besteht und wirkt.
Irit Rogoff bezeichnet in einem Gespräch mit von Bismarck vergleichsweise die Ausstellung als Anlass oder Gelegenheit, die eher durch ihre Potenzialität gekennzeichnet ist denn durch ihre tatsächlichen Manifestationen im Raum. Das Publikum ist dabei in diesen Prozess verwickelt, als verwickelte Subjektivität gelebter Vielheit (vgl. Rogoff 2011, 25.30 min, 34.45 min) und damit strukturierender Teil der Gemengelage ‚Ausstellung‘ im fassenden Konzept des Kuratorischen. Ein Verständnis von Publikum als eine Gemeinschaft von Singularitäten ermöglicht eine völlig andere Relationssetzung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Gezeigtem und „whatever might be going on within and through these audiences“ (Bismarck/ Rogoff 2012: 29). Dieses Verhältnis konstituiere ein ‚Event of Knowledge‘, welches erfahrungsgebunden und damit im Bourdieu’schen Sinne leiblich ist. Auch hier ist, ähnlich wie bei Rancière, ‚Wissen‘ aus dem Kontext reiner Information herausgelöst, das ‚Event‘ stellt sich als Konstellation dar, welche sich zwischen allen Akteur*innen aufspannt.[4] Das Wissen wird auf die Reise geschickt „as a series of proposals or a series of provocations“ (Bismarck/ Rogoff 2012: 31). Mit Beatrice von Bismarck ist die Ausstellung ein ephemeres Argument in einer größeren Diskussion. Den Prozess des Kuratierens und damit die Tätigkeit von Kurator*innen verortet von Bismarck dabei als postfordistische immaterielle Arbeit des Verbindens und Sammelns, als Zusammenbringen von Dingen, welche es bisher in dieser Konstellation noch nicht gab. Von Bismarck schreibt weiter:
[…] curating has to do with […] practices and skills, but I would call them techniques. They encompass all the activities taking place in order to allow an exhibition to come into the world. These activities feed into the curatorial; they are part of it. Curating is a constellational activity. […] – it is not only aesthetically, but also socially, economically, institutionally, and discursively defined. I understand it less as representation-driven than motivated by the need to become public. (Bismarck/Rogoff 2012: 25)
Wenn hier ‚Kuratieren‘ also auf die durch Techniken entwickelte Potenzialität eines ‚Öffentlichwerdens‘ verweist, steht unter oben beschriebener Prämisse des leiblich gebundenen ‚Event of Knowledge‘ also nicht eine strategisch geplante Repräsentation im Zentrum, sondern vielmehr ein begleitendes kuratorisches Handeln. Kuratieren ist im Sinne Bourdieus eine konstellative Aktivität im sozialen Raum des Kuratorischen, innerhalb dessen alle Teile des Prozesses verquickt und im Prozess öffentlich werden.
Gerade daher erscheint die Verortung kritischen kuratorischen und vermittlerischen Handelns in den jeweiligen spezifischen gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhängen notwendig. Denn Voraussetzung für jegliches kritikal engagiertes und verantwortungsvolles kuratorisches Handeln ist das Bewusstsein um die Gefahr, dass Institutionskritik, sobald sie im musealen Kontext und Kunstfeld etabliert und in dessen Regeln eingeschlossen ist, schnell fest- und stillgestellt werden kann. So wird als Nischen der Kritik (vgl. Sternfeld 2009 und Kravagna 2008) bezeichnet, wenn die museale Präsentation an bestimmten Punkten kritisch und reflexiv informiert erscheint, gleichzeitig aber das Bestehende weiterhin affirmiert wird, was sich im hartnäckigen Überdauern diskussionswürdiger oder gar höchst problematischer inhaltlicher Positionen oder patriarchaler Strukturen auf allen Ebenen zeigt. Eine Praxis, die dies vermeiden will, kann also nicht im eigenen Feld verbleiben.
Stefan Nowotny und Gerald Raunig beschreiben in diesem Sinne eine transversale Praxis, die bei feldinternen Strukturen ansetzt und diese grundsätzlich queren und transformieren möchte, aber gleichzeitig als zentrale Prämisse hat,
[sich] mit den gesellschaftlichen Veränderungen weiter [zu]entwickeln, vor allem auch Anschluss finden an andere Kritikformen innerhalb und außerhalb des Kunstfelds, wie sie gegen die jeweiligen Verhältnisse oder auch vor deren Ausformung entstehen. […] Vor dem Hintergrund eines solchen transversalen Austausches von Kritikformen, aber auch jenseits der Imagination von herrschafts- und institutionsfreien Räumen wäre Institutionskritik zugleich als kritische Haltung und als instituierende Praxis zu reformulieren. (Nowotny/Raunig 2016: 40)
In ihrer Beschreibung der notwendigen Haltung einer instituierenden Praxis setzen sich Nowotny/Raunig mit der von Michel Foucault beschriebenen rhetorischen Figur der Parrhesia auseinander (Nowotny/Raunig 2016: 50ff., vgl. Raunig 2004), welche nicht nur die freie Rede meint, sondern gleichzeitig eine (Selbst-)Verpflichtung, die Wahrheit für das Allgemeinwohl zu sprechen, auch wenn dies ein persönliches Risiko bedeuten kann. Michel Foucault unterscheidet dabei zwei Formen: das öffentliche Wahrsprechen als institutionelles Recht mit der Versammlung als Adressatin sowie das sich selbst gegenüber wahr sprechen (vgl. Raunig 2004). In diesem Sinne, sollen Instituierungsprozesse Felder, Strukturen und Institutionen tatsächlich transversal durchqueren können, muss Gesellschaftskritik und Institutionskritik also unbedingt auch Selbstkritik und das Sich-selbst-aufs-Spiel-Setzen meinen.
Instituierende Praxen sind also natürlich keine vereinzelten Handlungen, sondern beruhen auf einer Pluralität der Teilhabe, die sich in zahlreichen Ausformungen simultanen Handelns spiegelt. Vor diesem Hintergrund wird die Ausstellung als kollektiver Prozess und ‚lived multiplicity‘ verstanden, die Institution und mit ihr auch die Ausstellung als Kollisionspunkt der Interessen aller dort Versammelten. Beatrice von Bismarck betont das Ineinandergreifen und Verwobensein von Geschichtlichkeit, Zeitlichkeit und Kollektivität, das der kuratorischen Situation eigen ist (vgl. Bismarck 2019). Die Ausstellung ist dann, im Sinne meiner Argumentation, ephemer, performativ und prozessual definiert. Die materielle Form stellt dabei das politische Potenzial dieser Prozesse dar, da genau hier etablierte Verknüpfungen durch die räumliche Setzung gekappt, verstärkt oder gänzlich neu entstehen können und werden.
Vorausgesetzt also, dass Kurator*innen nichts ‚lehren‘ wollen, um mit Rancière zu sprechen, ist eine unwissende Praxis nur möglich, wenn eine kontinuierliche Infragestellung der eigenen Position es ermöglicht, persönliche – wenn auch gut gemeinte – Meistererzählungen zu überwinden. Ganz im Sinne von Nowotny und Raunig ebenso wie nach Rancière hätte ein solcher Ansatz das Potenzial, die engen institutionellen Grenzen hin zu gesellschaftlich relevanten Fragen und sozialen Kämpfen zu öffnen und sich nicht feldintern innerhalb selbst produzierter Prozesse um die eigene Achse zu drehen. Voraussetzung ist das – teilweise schmerzvolle – Anerkennen, dass ein Handeln im Kuratorischen bedeutet, sich in einen sich selbst und das eigene Umfeld destabilisierenden offenen Prozess zu begeben, dessen unerwartete Ergebnisse tatsächlich auch komplett an der (eigenen) Sache vorbeigehen können. Diese Möglichkeiten des Scheiterns überhaupt zuzulassen und die eigenen Vorannahmen oder Aktionen des Projekts komplett infrage zu stellen, ist genauso Voraussetzung einer emanzipatorischen und transformativen Praxis, wie offene Enden mitzudenken, anzuerkennen und Wege zu finden, diese produktiv aufzufangen. Auch wenn dies als unmögliche Aufgabe erscheint, fällt es vielleicht leichter, sich darauf einzulassen, wenn das Risiko des Scheiterns insofern entkräftet wird, als dass die Kontrolle über das Ergebnis sowieso von vornherein ausgeschlossen war.
Das Museum war schon immer ein Kontext für Aushandlungsprozesse, wie Nora Sternfeld in ihren Ausführungen um ein postrepräsentatives Museum feststellt, und Museumsgeschichte war schon immer prozessual und durch Bedeutungsverschiebung und Umwertungen geprägt (vgl. Sternfeld 2016). Bisher geschah dies jedoch vor allem aus der Perspektive derjenigen, die für die zu vermittelnden Inhalte verantwortlich waren und sind: vielfach einer Herrschaftselite. Denkt man kuratorische Praxis in diesem Sinne jedoch erweitert als Taktiken bzw. Handlungsformen des Umgangs mit Bedingungen und Unvorhersehbarkeiten, so müssen kuratorische Selbstverständnisse und Rollen von Grund auf infrage gestellt und mit ihr Konzeptionen von Ansprechhaltungen im Ausstellungszusammenhang vollständig aufgelöst und transformiert werden.
[1] Für diesen Text verwende ich die 2012 erschienene deutsche Übersetzung des 2008 von Irit Rogoff veröffentlichten englischsprachigen Essays Vgl. Rogoff, Irit (2008).
[2] In diesen Text sind Ergebnisse meiner 2013 am Institut für Theorie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig vorgelegten Masterarbeit The ignorant curator – Über Potentiale der Ungewissheit im kuratorischen Handeln einge- Unter dem Arbeitstitel „Unwissende Kurator*innen“ beschäftige ich mich weiterhin mit dem Thema und arbeite im Rahmen meiner Promotion an der HGB Leipzig die Potenziale eines Zusammendenkens von Bildungs- und Vermittlungspraxis und kuratorischer Praxis im Kuratorischen heraus.
[3] Besonders erschwerend kommt hier hinzu, dass sich für eine Mehrzahl von Museen und kulturellen Einrichtungen bis heute eine binäre Logik von Repräsentation und Rezeption in ihren Tätigkeitsbereichen beobachten lässt, wenn zum Beispiel Aufgaben einer Ausstellungs- und Forschungsabteilung, die die Inhalte produziert, denen der Vermittlungsarbeit, die die Inhalte reproduziert, gegenüberstehen. Solch konzeptionelle Entscheidungen eines Hausorganigramms sind äußerst wirkmächtig und reproduzieren bestehende Strukturen hinsichtlich Verantwortlichkeiten und Routinen, aber auch Ausbildungen und Diskursen und erschweren damit ein ernst gemeintes Neu- und Zusammendenken von Kuratieren und Vermitteln.
[4] Damit grenzt sich Rogoff von Alain Badious Verständnis eines Events im Sinne einer abgeschlossenen Entität (contained entity) ab, dem sie die „occasion“ in ihrer Potentialität als offenes, prozessuales Konzept gegenüberstellt. (vgl. Rogoff 22:44 min).
Bismarck, Beatrice von/Rogoff, Irit (2012): Curating/Curatorial – A Conversation between Irit Rogoff and Beatrice von Bismarck. In: Bismarck, Beatrice von/Schafaff, Jörn/Weski, Thomas (Hrsg.): Cultures of the Curatorial. Berlin: Sternberg, S. 21–39.
Bismarck, Beatrice von (2012): The Exhibition as Collective. In: Bismarck, Beatrice von/ Schafaff, Jörn/Weski, Thomas (Hrsg.): Cultures of the Curatorial. Berlin: Sternberg, S. 289–303.
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