Wir treffen auf eine junge Frau, die in sportlicher Kleidung eine Straße in einer Wohnsiedlung entlangläuft. Der Film unterlegt die Geräuschkulisse der winterlichen Umgebung mit einem nostalgischen Musikstück, welches Sergio Leones Film Spiel mir das Lied vom Tod (I/USA 1968) entnommen ist. Wir folgen der Frau auf ihrem Weg zu einem Haus. Sie klingelt an der Tür und versucht diese zu öffnen, aber niemand gewährt ihr Einlass. Zielstrebig geht sie daraufhin in den hinteren Teil des Grundstücks, denn anscheinend wird sie erwartet. Sie tritt vor eine große Fensterfront und sieht sich überrascht ihrer eigenen Spiegelung gegenüberstehen. Sie atmet kurz durch, geht auf die Spiegelung zu und blickt durch das gitterhaft durch Jalousien verhängte Fenster. Im Innenraum erblickt sie einen jungen Mann mit nacktem Oberkörper, der vertieft ist in ein kunstfertiges Spiel mit einem Lasso. In raschen Bewegungen lässt er dieses vertikal kreisen und springt dabei immer wieder durch den entstandenen Ring hin und her. Zusammen mit der Frau beobachten wir diese hypnotische Szene, die sich so unerwartet vor uns entfaltet. Wir wissen nicht, ob sie den Mann kennt und ob sie zum Haus kam, um ihn zu treffen. Die gesamte Szene erscheint unwirklich, denn wir kommen aus einer verlassenen, kühlen Landschaft und erblicken unerwartet diese hitzige Darbietung. Der Mann bleibt hochkonzentriert und bemerkt die heimliche Beobachterin nicht, der in stiller Bewunderung schließlich Tränen über die Wangen laufen. Es bleibt offen, weshalb die beobachtete Szene solche Emotionen in ihr auslöst. Ist es Bewunderung für das Können des Mannes? Ist es Erstaunen über die Unwirklichkeit des Geschehens? Oder ist es möglicherweise die Sehnsucht darüber, in diesen anderen Raum zu gelangen, an dem Geschehen teilhaben zu können und das Wissen darüber, dass dies nie möglich sein wird? Im Schwung seiner Bewegungen schlägt der Tänzer plötzlich das Lasso auf den Boden und beendet so die magische Darbietung, wir kehren zurück zu der Frau, die sich nun rückwärts von dem beschlagenen Glas wegbewegt und sich wiederum in diesem spiegelt. Unser Blick wandert aus dem Garten hinaus, über eine karge Wiese und endet bei einer tauenden Schneefläche.
Die Filmtheorie hat verschiedene Metaphern hervorgebracht, um die Wirkungsweise und Eigenschaften des filmischen Mediums erfassen zu können. Der Kurzfilm Lasso von Salla Tykkä wirkt wie eine Hommage an diese Leitmetaphern, zu denen die Tür, das Fenster und der Spiegel zählen. Im Zentrum der narrativen Erzählung steht das Durchwirken zweier Sphären, die sich durch verschiedene Elemente voneinander unterscheiden und nur durch den Blick der Frau in das Fenster zueinander geführt werden [1]. Draußen herrscht eine winterliche, karge Stimmung, es liegt Schnee, die Frau ist wetterfest gekleidet und bewegt sich im Laufe der Erzählung linear von einer Szenerie zur nächsten, matte blaue Farbtöne herrschen vor. Das winterliche Feld wirkt ungeordnet und chaotisch. Die Geschehnisse dieser Sphäre werden in einer real anmutenden Kulisse erzählt. Das Geschehen im Innenraum des Hauses scheint hingegen in einer imaginären, unwirklichen Welt stattzufinden. Der Mann bewegt sich punktuell, er tanzt auf der Stelle und scheint den Raum, in dem er sich bewegt, durch das Lasso selber hervorzubringen. Das Zimmer wird durch eine geordnete Inneneinrichtung strukturiert und zeigt Kunstgegenstände, wie z. B. Gemälde. Es wirkt absurd und gleichzeitig hochfaszinierend, dass jemand in einem solchen Raum ein derartig bewegungsintensives Kunststück ausübt und es ihm gelingt, seine Bewegungen an einem Ort zu konzentrieren (wodurch die umliegenden Gegenstände nicht zu Schaden kommen). Der nackte Oberkörper und die warmen Farbtöne vermitteln Wärme und Lebendigkeit. Das Lassospiel verweist außerdem auf das filmische Genre des Western, einem populärkulturellen Konstrukt, welches einen Mythos um die historischen Ereignisse bei der Eroberung des amerikanischen Westens durch die Siedler schuf und ebenfalls von gegensätzlichen Strukturen geprägt ist (Wildnis gegen Zivilisation, Ureinwohner gegen Siedler, Recht und Ordnung gegen die Gesetzlosen)[2]. Auch die filmischen Mittel deuten in den Aufnahmen der Innenräume darauf hin, dass hier ein künstliches Geschehen dargestellt ist: Der Soundtrack verdrängt alle Nebengeräusche, die in den Außenaufnahmen noch zu hören waren, einige Aufnahmen werden in Zeitlupe abgespielt, die Montage entfaltet sich zu einem komplexen Wechsel aus unterschiedlichen Einstellungen und Schnitten. Dem Film gelingt es auf diese Weise durch den Einsatz seiner medialen Mittel, ebendiese zu reflektieren, auf ihre Konstruktion hinzuweisen und seinem narrativen Potenzial einen Spiegel vorzuhalten.
In Pazzinis Bildung vor Bildern gibt es das Kapitel Schnittstellen, in dem es heißt: „Bilder sind Schnittstellen. Ob sie nun figurativ oder abstrakt sind, Malerei, Filme oder Photos. An ihnen wird der optische Sehstrahl gebremst und der Blick, der aus dem Bild heraus kommt oder dort auftrifft, lässt sich nicht unbedingt von einer materiellen Oberfläche bremsen“ (Pazzini 2015: 199). Mit Lasso sieht man im Modus des filmischen Mediums diese Schnittstelle dargestellt. Eingebettet in eine Narration, in Bilder, Farben und Musik wird die mediale Schnittstelle für uns erfahrbar gemacht und wird nicht mehr länger nur als theoretisches Wissen über den Film ausgesagt. Besonders wichtig ist dabei, wie diese Schnittstelle inszeniert wird. Bevor und nachdem die Frau durch die Jalousie des Fensters blickt, sich in die dahinterliegende Szene vertieft und sich wieder von ihr löst, steht sie ihrem eigenen Spiegelbild gegenüber. Es ist ihr eigener begehrender Blick, das eigene Verlangen, dem sie gegenübertritt. Sie muss sich aktiv dafür entscheiden, das Ereignis hinter dem Fensterglas zu rezipieren (denn das Fenster ist nicht einfach durchsichtig, die Jalousie markiert eine Grenze, die Schnittstelle). Sie muss auf die eigene Spiegelung zugehen, durch sich selber hindurchblicken, um das andere zu sehen. Diese Konstellation kreiert ein starkes Bild über eine Rezeption des Mediums, die nicht nur passiv geschieht, sondern eine Haltung im Blick behält, die Reflexion und Bildung am Medium ermöglicht. Bei Pazzini heißt es dazu weiter: „Schnittstellen zu untersuchen, die Art des Übergangs von einem Medium ins andere, von einem Aggregat- zustand in den nächsten, ist für die Bildungstheorie interessant, zumal viele Schnittstellen so angelegt werden, dass sie möglichst bequem sind, d. h. nicht auffallen, damit auch Bildungseffekte verschwinden“ (ebd.). Der Kurzfilm entfaltet ein besonderes Potenzial dahingehend, das filmische Medium nicht mehr länger als überwältigendes Konzept wahrzunehmen, dessen Bildern wir ausgeliefert sind (und es dafür zu verdammen), sondern mit dem Film die reflektierenden Möglichkeiten zu erfahren und zu untersuchen.
[1] Indem die Frau in dem Film die Rolle der Beobachterin übernimmt, wird ein Rollenverhältnis umgekehrt, welches das filmische Medium seit seinen Anfängen dominiert: Der Mann beobachtet die Frau, der Film zeigt die Frau durch den männlichen Blick. Damit kann der Film als Beitrag zum feministischen Diskurs gewertet und befragt werden.
[2] Zum Film als Schwelle zwischen zwei Sphären und dem Western als Genre, welches diese Dichotomie in seinen erzählerischen Strukturen verkörpert, findet sich näheres in Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte (2007): Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius, S. 50-51.
Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte (2007): Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius.
Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. Bielefeld: Transcript.
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