Wie die vehemente (deutschsprachige) Kritik an der documenta fifteen verdeutlicht hat, tut sich das Kunstsystem bis heute schwer, künstlerische Verfahren anzuerkennen, die auf Kollektivität beruhen. Kunstpädagogische Arbeit ist aber vor allem das: Zusammenarbeit mit anderen. Kunstvermittlung findet zumeist in Gruppen statt und hat idealiter ästhetischen Gemeinsinn zum Ziel.
Weil weder Autor*in noch Werk für das Publikum in gewohnter Weise greifbar werden, scheinen kollektive künstlerische Praxen in besonderer Weise dazu aufzufordern, sich mit kunstinstitutionellen Gepflogenheiten und eigenen Erwartungen auseinanderzusetzen und für selbstverständlich gehaltene Kunstverständnisse in den Blick zu nehmen. Die anhaltend heftigen kritischen Reaktionen auf die documenta fifteen schienen mir insofern geeignet, um sie einer diskursanalytischen Untersuchung aus kunstvermittelnder Perspektive zu unterziehen. Entlang der Frage, wie über die documenta fifteen gesprochen und geschrieben wurde, war ich interessiert daran, mehr über die Vorannahmen und Kriterien der Beurteilung zu erfahren, die zur Durchsetzung eines Kunstbegriffs beigetragen haben, der, wenn nicht dominant, so doch wirkmächtig seine Verbreitung findet.
Die Diskursanalyse mündet in der Frage nach der Rolle und Funktion der Kritik selbst. Wie wird Kritik von wem im Kunstfeld praktiziert und welches Kritikverständnis kommt dabei zum Tragen? Und nicht zuletzt: Inwiefern eignet sich die Kritik an der documenta fifteen als Lehrstück für eine notwendig kritische Kunstpädagogik: Welche anderen Möglichkeiten kritischer Praxis stellt diese zur Verfügung und welche sind denkbar?
Kolleg*innen aus dem Kunstfeld, die beschlossen, die internationale Großausstellung gar nicht erst zu besuchen [1], Portfolios aus zusammengestellten Verrissen, die unter Kolleg*innen des Kulturestablishments geteilt wurden, offene Verlautbarungen, die vor dem unbegleiteten Besuch der documenta fifteen mit Schüler*innen warnten. Selten ist eine documenta in der Presse so vernichtend abgeurteilt worden, und selten wurden die kritischen Diskussionen mit Kolleg*innen über die alle fünf Jahre stattfindende, international bedeutsame Großausstellung so scharf geführt.
Im Sommer 2022 wurden Kunstinteressierte zu Zeugen einer Debatte, die sich an offenkundig antisemitischen Symbolen entzündete und sehr schnell zu gegenseitigen Vorwurfshaltungen, ja Feindseligkeiten führte. Eine Situation entstand, die den Dialog zunehmend erschwerte, schließlich verunmöglichte und zuletzt Verletzungen eher zu vertiefen schien. Man wurde Teil eines gesellschaftlich breit geführten Diskurses, der Vertreter*innen der Bundespolitik auf den Plan treten ließ, ranghohe Kulturfunktionär*innen zu Stellungnahmen zwang, zum Rücktritt der selbst so genannten Generaldirektorin der Documenta GmbH Sabine Schormann führte und insgesamt ein Konfliktfeld zutage treten ließ, bei dem sich rückblickend zumindest für die deutsche Öffentlichkeit eines sehr deutlich zeigte: eine bestimmte Unfähigkeit zu kommunizieren. Was beim Besuch der documenta fifteen aber ebenso zutage trat: Die aufgeheizte mediale Stimmung stand aus meiner Perspektive in einem eklatanten Widerspruch zu dem Geschehen vor Ort. In Kassel waren Besucher*innen zu beobachten, die mit großer Aufgeschlossenheit die Ausstellung besuchten und sich in konzentrierter und zumeist freundlicher Stimmung mit den Exponaten und Angeboten auseinandersetzten. Zu hören waren durchaus kontrovers geführte Gespräche, die im Rahmen der sorgsam durchgeführten Vermittlungsarbeit[2] über die jeweils aufgeworfenen Fragen entstanden. Die große Offenheit, mit der man hier vor Ort der documenta fifteen begegnete, schien mir in eklatantem Kontrast zu der medial inszenierten und aufgeheizten Debakelstimmung zu stehen. Bereits im Umgang mit dem Ruf, der dieser documenta vorausging, deuten sich zwei verschiedenen Kritikverständnisse an. Eine Kritik der Abwertung, die dem Kritisiertem letztlich keinerlei Chancen und wenig Beachtung einräumt, und eine kritische Haltung, die sich dem fraglichen Gegenstand widmet und ihn zu verstehen versucht oder sich auf andere Weise ins Verhältnis zu ihm setzt.
Inwiefern oder warum sollte nun ausgerechnet die documenta fiteen für den kunstpädagogischen Zusammenhang von Interesse sein? Das von mir vertretene Verständnis einer kritischen Kunstvermittlung bezieht sich auf einen Paradigmenwechel in der Geschichte der Kunstpädagogik, bei dem es darum ging, in Allianz mit neu aufkommenden institutionskritischen, gesellschaftskritischen, adressat*innenbezogenen künstlerischen Praxisformen eine kunstbezogene Vermittlungsarbeit zu entwickeln, die sich in Absetzung zu marktorientierter, sog. „autonomer“ Kunst versteht, andererseits von einer Didaktisierung der Kunst absieht wie sie oft genug und bis heute im Kunstunterricht in der Schule zu finden ist. (Vgl. hierzu Maset 2001) Grundidee oder Haltung dabei ist, die der Kunst historisch zugesprochene Autonomie abzugeben oder zu nutzen, um sie zu teilen. Nach Michael Lingner ist die Kunst schon lange in die Phase der Heautonomie getreten. Gemeint ist damit, dass Künstler*innen Konsequenzen aus der ohnehin nur bedingt realisierbaren Selbstbestimmung ziehen, indem sie sich bewusst in bestimmte soziale Kontexte begeben und die ihnen über die Kunst zugeschriebene Autonomie und Freiheit dem Einfluss anderer aussetzen bzw. sie daran teilhaben lassen. (Vgl. Lingner 1997) Nicht jede Kunst verlangt als soziales Geschehen betrachtet zu werden. Für künstlerische Kunstvermittlung, aber auch für kunstpädagogische Arbeit ist es gleichwohl kennzeichnend, dass sie in sozialen Räumen stattfindet. Ob anleitend partizipativ oder interaktiv, ob in einem Klassenzimmer oder im Sinne der Community oder Public Art, ob als Engführung von Kunst und Aktivismus oder mit einem Selbstverständnis als Kollektiv oder Performance – kunstpädagogische Praxis ist vor allem dies: Zusammenarbeit mit anderen.
Die documenta 2022 hatte sich konsequent Formen der Kollektivität verschrieben – sie musste also für Vermittler*innen von Interesse sein. Dieses umso mehr, als die documenta fifteen einen Bruch mit vielen üblichen Routinen der Ausstellungskonventionen an einem Ort gewagt hatte, der traditionell prädestiniert dafür ist, die Kunsttrends der nächsten Jahre zu setzen, was u.a. den Effekt hatte, dass nach dem Ende der documenta die ausgestellten Werke in der Regel bereits verkauft waren. Selten erwähnt wird, dass die auf der 15. documenta vertretenen Künstler*innen zu 95% nicht von Galerien vertreten werden. (Vgl. ruangrupa 2022)
Für das folgende diskursanalytische Vorgehen habe ich anhand eines Querschnitts aus Rezensionen und Kunstkritiken des deutschsprachigen Raums an der documenta fifteen nachzuvollziehen versucht, welche Muster der Argumentation sich in den Debatten ausfindig machen lassen. In die Analyse eingegangen sind Beiträge und Artikel der Feuilletons überregionaler Tages- und Wochenzeitungen in Print und Internet (z.B. Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT, die Kunstzeitung, die tageszeitung) sowie nach Stichproben gesuchte Beiträge im Internet vor allem einschlägiger Kunstmagazine (etwa art, Kunstforum International, Monopol) und öffentlich-rechtlicher Sender. Zeitlich habe ich mich auf Beiträge, die 2022 in Reaktion auf die Ausstellung erschienen sind, begrenzt.Mich interessierte vor allem, welche Themen und Fokussierungen sich ausfindig machen ließen und mit welchen Begriffen operiert wurde.
Die künstlerische Leitung der fünfzehnten Documenta in Kassel hatte das Kollektiv ruangrupa aus Indonesien. Vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 fand an 18 Orten die documenta fifteen in Kassel statt. Am 20. Juni wurde ein Banner des Künstler*innenkollektivs Taring Padi, welches auf dem Königsplatz gegenüber dem Fridericianum installiert war, aufgrund von eindeutig antisemitischen Bildelementen zunächst mit schwarzem Stoff verhüllt und später ganz abgebaut.
Die Artikel, die während der Hauptbesuchszeit der documenta im Juni und Juli in den Feuilletons der bürgerlichen Presse erschienen sind (insbesondere Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT), konzentrieren sich fast ausschließlich auf die Antisemitismus-Debatte. Im Zentrum des Interesses steht die Rolle, die die documenta Geschäftsführung und das Kurator*innenteam im Umgang mit dem Antisemitismusvorfall einnehmen. „Die Schande der Documenta“ titelt die Süddeutsche (SZ, 21.06.22). Der Leitung wird „Ignoranz, Dummheit und auch Arroganz“ vorgeworfen (Domradio, 30.07.22). Von einem „Skandal mit Ansage“ spricht Olaf Zimmermann, Leiter des Deutschen Kulturrats, und weist darauf hin, dass monatelang im Vorfeld vor einer derartigen Situation gewarnt worden war (Zimmermann/Schulz, 13.07.22).
Der Umgang mit den Bildwerken leitet sukzessive über zur Thematisierung der Frage von Verantwortung in den Führungsetagen der documenta und interpretiert das Verhalten von Leitung und Kurator*innenteam als Versagen: „Die Documenta fifteen ist nicht allein wegen des skandalösen Wandbildes ‚People’s Justice‘ von Taring Padi, sondern ebenso wegen des in der Podiumsdiskussion bewiesenen Unvermögens, eine angemessene Debatte zu führen, irreparabel beschädigt.“ (SZ, 30.06.22) Vor allem aber sei „die Hoffnung zerschlagen, dass auf dieser Weltkunstschau der erhoffte Dialog des Südens mit dem Norden hier in Kassel stattfinden könnte“ (SZ, 21.06.22).
Das kritisierte, als Führungsschwäche ausgelegte Verhalten wird zum Symptom für die Dysfunktionalität von Kollektiven im Allgemeinen ausgeweitet.
Aufgrund des Anspruchs der documenta fifteen, „allerorten hierarchiefreies Denken“ zu inspirieren und die Frage nach Ausgrenzung und Einschließung zu stellen (Der Freitag, 23.06.22), steht das Kurator*innenteam unter besonderer Beobachtung. Gewohnt polemisch räumt Karlheinz Schmid dem Kollektivismus keinerlei Chancen ein: „Soll doch keiner glauben, dass diese Kollektive, die sich wie Künstler-Gemeinschaften gebärden (denken wir an ruangrupa), in der Anonymität ihrer Phrasengrammatik eine Zukunft haben.“ (kunstzeitung Aug./Sept. 22) Es geht jetzt darum, ob Kollektive überhaupt in der Lage sind, eine Großausstellung zu kuratieren. Die Rede ist von „kollektiver Unzuständigkeit“, „Fraktionen und anderen Segnungen demokratischer Machtteilhabe und partizipatorischer WG-Gefühligkeit“ (SZ, 13.07.22). Bemerkenswert: Hochpolitische Fragen werden kurzerhand zu Fragen des richtigen Managements umformuliert. Denn, so weiß man, „Macht von unten“ sei grundsätzlich dazu geeignet, „dass sich am Ende niemand mehr zuständig fühlt“ (ebd.).
Die Diskussion verlagert sich zusehends zu Fragen von Führungsstärke, Verantwortung und Organisationssoziologie. Die Öffentlichkeit erhält jetzt Lektionen darüber, wie man ein Unternehmen richtig führt, und erfährt, dass sich im Kulturbereich „hoch subventioniertes Organisationsversagen“ zunehmend durchsetze. Anstatt Kollektiv-Kitsch zu predigen würden große Unternehmen durchaus auch in Kollektiven arbeiten, diese hießen dann „Vorstand“, „Gremium“, auch zeige sich an der documenta eine „vollkommen desaströses Macht- und Verantwortungsverweigerung“ (SZ, 10.07.22.). Kurzerhand wird der kuratorische Ansatz von ruangrupa – verstanden als „eine Gruppe von Freunden, die zusammen abhängen“ –, also der kollektive Prozess zum „eigentlichen Kunstwerk“ erklärt (ebd.). Die documenta fifteen sei „in weiten Zügen Etikettenschwindel und primär keine gelungene Ausstellung zeitgenössischer Kunst, sondern eine streckenweise eindrucksvolle und bewegende Aktivismus-Plattform“, weiß der Jurist Jörg Ehmer zu berichten und bescheinigt der Kunstschau zudem „Organisationsverschulden und gravierende Mängel in der Krisenbewältigung“ (Ehmer 2022: o.S.).
Über Monate ist die einzige Arbeit, die intensive, bisweilen auch kunstwissenschaftliche Betrachtungen und Beschreibung erfährt, die Arbeit von Taring Padi. Hin und wieder werden auch andere Arbeiten berücksichtigt, deren Wahrnehmung ist aber deutlich von den politischen Debatten eingefärbt:
„Bässe dröhnen, Latexgeruchliegt in der Luft und auf einer Leinwandgeht es sehr körperlich und wenig heteronormativ zu. Dass hier laut Programm auch ‚Pro-BDSM‘-Partys stattfinden sollen, führte in den sozialen Medien zu zusätzlicher Auf- und Erregung. Doch das Kürzel steht nicht für die israelfeindliche Boykott-Bewegung BDS, sondern für ‚Bondage, Discipline, Dominance and Submission, Sadism and Masochism‘, sado-masochistische Praktiken also. Ein Buchstabe und ein paar Treppen trennen hier Welten. Nach dem Folterkeller muss man in den zweiten Stock, da hängen die Werke des palästinensischen Kollektivs Question of funding.“ (SZ, 25.06.22)
Zunehmend macht sich der Tonfall enttäuschter Erwartung breit. So wird das Fehlen von Diskursplattformen in gewohntem Sinn beklagt. Das Kurator*innenteam ruangrupa habe angekündigt, es wolle „die Prozesse sichtbar machen“, die den Kunstwerken vorausgehen. „Das klang spannend. Die Praxis künstlerischen Schaffens, die Kontexte ästhetischer Positionen, die Begründungen inhaltlicher Setzungen – all das hätte global sichtbar und diskutierbar werden können. Es sah so aus, als wolle sich Kunst konsequent der Öffentlichkeit stellen, um zu irritieren und zu transformieren.“ (SZ, 01.07.22). Auch wird beklagt, dass es bei vielen Exponaten schwerfalle, „den besonderen künstlerischen Wert, das Neue und Richtungsweisende zu erkennen – und genau das sollte man von einer documenta erwarten können“ (Ehmer, 2022: o.S.). Das Kunstwerk habe, so vermittele es die d15, ausgedient. (Vgl. Kunstzeitung, Juni/ Juli 22)
Angesichts der kuratorischen Katastrophe brauche es eine Verständigung darüber, was Freiheit, Verantwortung und Respekt im kulturellen Diskurs heutzutage bedeuten. Auch ästhetisch vorgebrachte Behauptungen müssten sich mit Argumenten bewähren, so Carsten Brosda.
„Wenn sich Kunst mit Aktivismus mischt – und dafür kann es gute Gründe geben –, dann muss sie sich an diskursiven Maßstäben messen lassen.“ (SZ, 01.07.22)
Auffallend an diesen, vergleichsweise strengen, Maßstäben ist, dass sie bei Rezensionen anderer Kunst eigentlich selten angelegt werden. Nach Hanno Rauterberg sei es denn auch die fast vollständige Abwesenheit von Kunst, die dazu geführt habe, dass diese documenta als „Kampffeld der Geschichtspolitik“ (ZEIT Online, 14.09.22) ende. Die Ablehnung des westlichen Kunstbegriffs führe nur zu „neo-reaktionärem, neo-essenzialistischem Denken“ (ebd.). Unweigerlich müsse jede Debatte über die Angemessenheit bestimmter Motive oder Formen in den Strudel eines gut-oder-böse-Konflikts geraten, aus dem es kein Entkommen gäbe. „Das Spielerische der Kunst, das Vorläufige und Absurde hat hier keinen Raum. Und auch Dialoge müssen unter der moralischen Last ersticken.“ (Ebd.) Wolfgang Ulrich erkennt dagegen nicht nur Sprachlosigkeit in der durch die documenta fifteen ausgelösten Debatten zum Antisemitismus und der Rolle von Kollektiven. Denn hier werde ja durchaus lebhaft gestritten, es werden Standpunkte ausgetauscht, man reagiert aufeinander, nähere sich an, spitze zu, „und wer dran-bleibt, dürfte am Ende über ein deutlich differenzierteres Bild etwa von verschiedenen Formen des Antisemitismus verfügen als vor Beginn der documenta“ (ZEIT Online, 19.08.22). Einen Grund für die ungeheure Verbitterung auf allen Seiten vermutet der Kunstkritiker Rauterberg in der „Entindividualisierung wie sie diese Documenta so radikal wie nie zuvor praktizierte“ (ZEIT Online, 14.09.22). Individualität sei aber kein personalisierter Umgang mit Objekten, sondern eine „geistige Haltung, die im Falle der Kunst über seine kulturelle Prägung hinaus – unter Anleitung von Künstlern und Wissenschaftlern [sic!] von jedem Einzelnen zu erarbeiten“ sei, gibt denn auch Bazon Brock zu bedenken (SZ, 30.06.22).
Als Zeichen für die Beerdigung der Autorität durch Autor*innenschaft, einer Errungenschaft, die auf das „europäische Prinzip der Kunst-und Wissenschaftsfreiheit, das über 600 Jahre existiert und enormen Weltkenntnisfortschritt gebracht hat“ (ebd.) zurückgehe, betrachtet Bazon Brock die documenta fifteen. Die Freiheit der Kunst stünde dafür „beispielhaft zu zeigen, wie ein Individuum sich in der Welt gegenüber dem Überdruck der Macht der Kollektive, der Machtkomplexe von Kapital bis Kirche behaupten kann“ (ebd.). Die documenta fifteen setze nun an diese Stelle die Kultur der Kollektive: „Überall heißt es: Macht keine Kunst, sondern schafft Freundschaft, hängt miteinander ab, habt eine gute Zeit und polemisiert, wie immer ihr wollt, im Namen eurer kulturellen Identität.“ (Ebd.)
Bazon Brock, der in seinen polemischen Kommentaren einen Kulturkampf aufscheinen sieht, konstatiert, jeder sei jetzt aufgefordert, sich zu entscheiden: „Gehört man zu den Kulturalisten, die alles vernichten, was überhaupt je Autorität durch Autoren und Wissenschaftler gewesen ist?“ Oder aber ist und bleibt man dem traditionellen Kunstbegriff verpflichtet. Brock selbst hat sich entschieden, vermutet er doch in den neuesten Entwicklungen einer Kulturalisierung des Kunstbegriffs seine Liquidierung und befürchtet nicht weniger als die „Re-Faschistisierung, […] Re-Totalisierung und Re-Fundamentalisierung“ der Kunst. Auch Wolfgang Ulrich erkennt in den durch die documenta aufgeworfenen Debatten Zeichen tiefer Spaltungen, die sich gesellschaftlich abzeichnen. Auf der einen Seite werde die individuelle Freiheit zum höchsten Gut erklärt, auf der anderen Seite stünden Begriffe wie Gerechtigkeit, Rücksichtnahme, Verantwortung ganz oben. (Vgl. ZEIT Online, 19.08.22) Die Kritik der Autonomist*innen, die fordern, Kunst solle außerhalb sonst üblicher Bewertungskriterien stehen, sei für die „Kulturalisten“ deshalb besonders irritierend und ärgerlich, weil sie gerade daran arbeiteten, ihr Bewusstsein für Abhängigkeiten und kausale Beziehungen zu schärfen. Gesellschaftlicher Fortschritt werde, wie die documenta anschaulich zeigen kann, „weniger in einem Zuwachs an Unabhängigkeit für einzelne Individuen als in einer Steigerung von Verantwortungsbewusstsein und einem Mehr an Gleichberechtigung für alle Menschen“ (ebd.) gesehen. Von der Kunst werde erwartet, „gegen Formen von Benachteiligung vorzugehen; sie soll Empathie mit Minderheiten fördern, sensibler und rücksichtsvoller machen und Kausalitäten bewusster werden lassen“ (ebd.). Ulrich beschreibt die hier aufkeimenden Konflikte als einen Kampf um die Beibehaltung traditioneller Werte und Kriterien: „Während nämlich in Zeiten der Dominanz autonomer Kunst vornehmlich darauf geblickt wurde, welche formalästhetischen Eigenschaften einzelne Werke aufwiesen oder welche Konzepte ihnen zugrunde lagen, wohingegen die jeweiligen weltanschaulichen Orientierungen der Künstler kaum eine Rolle spielten, verkehren sich die Prioritäten, sobald Kunst als Teil der Kultur verstanden wird.“ (Ebd.) Auch für die Kunstwelt sei zu erwarten, dass sie sich institutionell in bisher nicht gekanntem Ausmaß nach politischen Lagern und unterschiedlichen Werten ausdifferenziere. (Vgl. ebd.) Rauterberg problematisiert, dass bei Künstler*innen, die als Einzelne auftreten, die Kritik in aller Regel einzelnen Werken gelte. Sobald aber Kollektive ihre Kunst nicht länger als Werk, sondern als Lebensform verstünden, die sich auf ein geteiltes Ethos oder eine gemeinsame Bedrohungs- oder Diskriminierungserfahrung gründe, entstehe eine neue Situation. „Wer ihre Kunst also kritisiert, kritisiert damit zugleich die Gemeinschaft und ihre Werte.“ (ZEIT Online, 14.09.22) Dass auch die Verteidiger*innen der Kunstfreiheit bestimmte gemeinschaftliche Werte vertreten, wird bei der Gegenüberstellung zweier sich widersprechender Lager von der Kritik selten ins Feld geführt. Rauterberg stellt fest, das Kurator*innenkollektiv ruangrupa sei „gegen die Macht der selbstherrlichen Sammler und Galeristen, gegen die Fixierung auf westliche Stars und millionenteure Werke, gegen die Heuchelei eines Milieus, das sich selbst für kosmopolitisch hält, doch in Wahrheit die eigenen Privilegien umklammert“ (ebd.), angetreten. Das Problem sei aber, dass die Alternative zu dieser klientelistischen Kunstpolitik einzig im Kollektiv gesehen werde, wodurch „fragwürdige Vorstellungen einer gruppenbezogenen Identität“ (ebd.) an Bedeutung gewinnen würden. Rauterberg zieht Bilanz und bescheinigt dem Unternehmen Indifferenz, fehlende reflexive Immunität gegen Kritik von außen sowie einen den Ingroups der documenta fifteen eigenen Hang zur Harmonisierung. (Vgl. ebd.) Und die taz hakt kritisch nach: „Die große Frage aber bleibt: Wer wird hier in Kassel mit wem vernetzt und mit welcher Absicht? Warum sind künstlerische Subkulturen aus Deutschland so gut wie nicht vertreten und werden nicht in Kontakt gebracht mit internationalen Szenen?“ (tageszeitung, 25.06.22)
„Ergibt die ‚Weltkunstschau‘ noch Sinn?“ – Laut SZ drohe „die wichtigste Kunstschau der Welt […] zu explodieren“ (SZ, 25./26.06.22). Bereits zu Beginn der documenta fifteen wird ein Bild der Krise der Großausstellungen an sich gezeichnet. Sie sei „letztlich eine große Enttäuschung […], die der Kunst insgesamt und insbesondere Kassel als Stadt der traditionsreichsten Weltkunstausstellung schadet“ (Kunstzeitung, Nr. 300/22). Die Möglichkeit, dass diese Ausstellung zur „letzte[n] Ausgabe der sogenannten Weltkunstschau“ werde, wird in Betracht gezogen. „Oder dass sie diesmal noch nicht mal ihre traditionell 100 Tage übersteht.“ (SZ, 25./26.06.22) Hito Steyerl konstatiert: Wolle die documenta eine Zukunft haben, müsse sie „vom überheblichen Paradigma der Weltkunstschau“ Abschied nehmen, und fügt lapidar hinzu: „Vielleicht hat sie sich aber auch einfach überlebt.“ (monopol, 30.06.22) Beobachter*innen sprechen von der „größten Krise“ der documenta. Heftig wird aber auch darüber gestritten, ob die reichen Länder des Nordens nicht mehr „postkoloniale Perspektiven“ aushalten müssten. Im Ausland wird die israelkritische und aus deutscher Sicht antisemitische BDS-Bewegung zum Beispiel nicht überall so konsequent abgelehnt: An Universitäten in den USA, Großbritannien und Skandinavien bestimmen im Gegenteil deren Wortführer*innen die Debatten mit. Während einzelne deutsche Kritiker*innen die documenta sofort komplett abschaffen wollten, beantragte die AfD im Bundestag, die documenta immerhin einer „tiefgreifenden Strukturreform“ zu unterwerfen – und jegliche Förderung von postkolonialen Projekten einzustellen. (hessenschau, 07.07.22) Auch andere Parteien und Kulturpolitiker*innen denken über neue Regeln für die weltweit größte Kunstschau nach: Wie kann man in Zukunft Antisemitismus verhindern? Hätte eine Kommission die Ausstellung vorab kontrollieren sollen? Neben dem Rücktritt der Geschäftsführerin Susanne Schormann wird über eine stärkere Kontrolle staatlicherseits als Konsequenz nachgedacht. Kulturstaatsministerin Claudia Roth entwirft einen Fünf-Punkte-Plan, der die „Einbindung internationaler Expertise und der Pluralität der deutschen Gesellschaft“ vorsieht, „einschließlich des Zentralrates der Juden sowie „die klare Abgrenzung von Verantwortlichkeiten“ (Die Bundesregierung 2022). Ein von ihr in Auftrag gegebenes Gutachten beschäftigt sich mit dem Problem, wie weit die Kunstfreiheit in einer Republik reicht, in der die Kultur vor allem vom Staat finanziert wird. Eine Vorabkontrolle künstlerischer Programme, wie sie von einigen Bundespolitiker*innen nun gefordert wird, hält der Verfasser des Gutachtens Christoph Möllers allerdings für „grundrechtlich kategorisch ausgeschlossen“. Das Gutachten widmet sich u.a. dem umstrittenen BDS-Entschluss des Bundestags von 2019: Damals wurde die BDS-Bewegung, die einen Boykott Israels fordert, als antisemitisch definiert. Unterstützer*innen dieser Bewegung dürften nicht öffentlich gefördert werden. Würde der BDS-Beschluss angewandt, so Möllers jetzt, verstieße er nach übereinstimmender Rechtsprechung gegen die Meinungsfreiheit.
„Ist das Kunst oder eine Lounge? Bei der documenta fifteen weiß man das nie so genau.“ (ZEIT Online, 19.08.22)
Offensichtlich fällt es der Kunstkritik schwer auf die präsentierten Arbeiten der fünfzehnten documenta zu reagieren. Selten wird diese Unsicherheit aber wie hier eingestanden, häufiger artikuliert sie sich als Abwehr. Das sich bietende Bild und Geschehen wird skandalisiert oder schlicht für dumm und unzureichend erklärt. Anstatt sich dem Gebotenen zu nähern, geht man eher auf die Suche nach Gründen, genau dieses nicht zu tun. Es scheint zudem so, als habe die Entdeckung der antisemitischen Bildsprache im Werk von Tari Padi eine höchst willkommene Gelegenheit geboten, auf Abstand zu gehen und sich auf andere Themen zu verlegen. Einlassungen wie die vom ehemaligen Oberbürgermeister Kassels und Ex-Finanzminister Hans Eichel, der äußerte, man hätte auch unser Bedauern gegenüber den indonesischen Künstler*innen darüber zum Ausdruck bringen können, die indonesische Militärregierung unterstützt zu haben[3], sind die Ausnahme. Nach der Entschuldigung von Tari Padi, deren Bildnis sich mit diesem dunklen Kapitel in der Geschichte Indonesiens befasst, wäre das, so Eichel, eine angemessene Reaktion auf Augenhöhe gewesen. (Das Erste, 19.09.22) Tatsächlich kann man sich die Frage stellen, ob hier nicht zugunsten eines einhellig deutschen Expert*innentums zur Antisemitismusfrage andere, „subalterne Stimmen zum Verstummen gebracht“ worden sind. Das zentrale Thema des abgehängten Bildes, nämlich die Anklage der Suharto-Diktatur ist um seine Thematisierung gebracht worden, so schreibt die Frankfurter Rundschau mit dem Hinweis, dass der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl noch 1998 den Diktator als seinen „lieben Freund“ bezeichnet hatte. (FR, 24.08.22) Am Umgang mit den Symbolen des Tari Padi Gemäldes zeigt sich somit besonders deutlich, welche Möglichkeiten auf der documenta verpasst wurden.
Halten wir fest, dass diese documenta zu einer Kollision höchst differenter Sensibilitäten geführt hat, zu scharfen Aburteilungen und Verletzungen. Sie hinterließ aber auch Ratlosigkeit hinsichtlich dessen, was es nun eigentlich war, das da herkömmliche Maßstäbe der Beurteilung außer Kraft setzte, vor allem aber auch hinsichtlich der Frage, wie es nun weitergehen könnte.
Urteile fungieren nach Judith Butler als Art und Weise, ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie zu subsumieren, während Kritik nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Kategorien selbst fragt. (Butler 2001: o.S.) Soviel kann zum heutigen Zeitpunkt gesagt werden: Die verschließende Logik des Feldes der Kunstkritik hat sich deutlich gezeigt. Überraschend ist, wie einhellig die kritischen Beiträge sich von den Inhalten der documenta fernhielten und wie wenig sie sich überhaupt auf die Arbeiten einließen. Das führt dazu, dass die Öffentlichkeit zwar viel über den als fragwürdig hingestellten Überbau erfuhr, aber wenig über die konkret ausformulierten Arbeiten und Projekte.
„Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versuchte zu richten, sondern die einem Werk, einem Blick, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft; sie würde Fackeln anzünden, das Gras wachsen sehen, dem Winde zuhören und den Schaum im Fluge auffangen und wirbeln lassen. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt, möglichst viele Existenzzeichen; sie würde sie herbeirufen, sie aus dem Schlaf rütteln.“ (Foucault 1991: 8)
Michel Foucault projektiert hier eine spezifische Form des Kritisierens, die vom gewohnten Kritikverständnis abweicht, wie es anhand der oben dargelegten Kunstkritik hier sehr deutlich vorgeführt werden konnte. Foucault setzt sich ab von jener Praxis des Kritisierens, die uns geläufig ist und die wir vermutlich ebenso sehr fürchten wie regelmäßig an den Tag legen. Zumal es kaum möglich ist, sich den hegemonialen Formen von Kritik zu entziehen wie sie beispielsweise in der ritualisierten Form von Evaluationen und in Selbstverhältnissen gefordert werden. Gerade die selbstkritische Prüfung nimmt häufig diesen verurteilenden Zug an, der mit Demontage, Herabwürdigung, Sich-klein-machen, Scham bis hin zu Schuldzuweisungen einhergeht. Aus pädagogischer Perspektive ist diese Art von verurteilender Kritik riskant, weil sie Lernprozesse in der Regel stört oder verhindert, anstatt sie zu stimulieren.
Aus Foucaults Worten geht hervor, dass ihm eine Kritikform vorschwebt, die ohne den vernichtenden Teil dieser kritischen Arbeit auskommt und die im Gegenteil möglichst viele Existenzzeichen sammelt. Diesen, nennen wir ihn, ‚positiven‘ Kritikbegriff mit dem Ziel „nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 13) entwickelt Foucault nicht bloß als Projekt der Zukunft, sondern er leitet ihn aus bestimmten historischen Anhaltspunkten der Aufklärung ab. So zeichnete sich die von ihm projektierte „kritische Haltung“ erstens zu dem historischen Zeitpunkt ab, als man das kirchliche Lehramt zurückwies oder einschränkte und sich die Wahrheit nicht mehr von der Kirche diktieren ließ, sondern dazu überging zu fragen, was in der Heiligen Schrift tatsächlich geschrieben wurde, welche Wahrheit darin zu finden sei bis hin zu der Frage, ob die Schrift überhaupt wahr sei. (Vgl. Foucault 1992: 12f.) Zum Zweiten zeigte sich die kritische Haltung, als man begann, bestimmte Gesetze der Regierung in Frage zu stellen, d.h. sie nicht mehr akzeptierte, weil sie ungerecht waren. Hieraus folgte die Idee des Naturrechts, nämlich die Macht von Regierungen – sei es in der Form des Monarchen, Gerichts oder Erziehers – durch universale und unbedingte Rechte einzuschränken, gemäß der Fragestellung: Welches sind die Grenzen des Rechts zu regieren? (Vgl. ebd.: 13f.) Ein dritter Ausgangspunkt schließlich für das kritische Denken ist die Infragestellung der Autorität des Wissens: Man bezweifelt, dass etwas wahr ist, was eine Autorität sagt bzw. dass es wahr ist, weil sie es sagt und geht dazu über, selbst die Gründe zu prüfen und etwas nur dann anzunehmen, wenn man es selbst für gut befunden hat. (Vgl. ebd.: 14) Kritik wäre nach Foucaults Lesart von Kant die Kunst „der freiwilligen Unknechtschaft oder der reflektierten Unfügsamkeit“ oder „eine Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihren Wahrheitsdiskurs hin“ (ebd.: 15).
Wie Judith Butler in Auseinandersetzung mit Foucaults grundlegendem Text „Was ist Kritik?“ herausgearbeitet hat, gehe es bei diesem Kritikverständnis weniger darum zu bewerten, „ob ihre Gegenstände – gesellschaftliche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Macht und Diskurs – gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind; vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten.“ (Vgl. Butler 2001: o.S.)
Kritik hätte sich von einem Kritikverständnis des Richtens und der Urteile zu verabschieden und zu einer Kritik, die den Dingen zur Wirklichkeit verhelfe, überzugehen. Nach diesem Verständnis wäre auch die Kunstvermittlung nicht bereits „kritisch“ zu nennen, wenn sie Kritik an den Institutionen übt, sondern indem sie sich zum Teil einer größer angelegten Unternehmung macht, der es darum zu tun ist, die Kategorien oder Kriterien vorgefundener Urteile auszusetzen, um zu einer „neuen Praxis von Werten“ (ebd.) vorzudringen.
Diskursiv ist im Rahmen der documenta fifteen etwas passiert, das für das Feld der Kunstvermittlung von hohem Interesse sein könnte. Waren die Bereiche von sozialer Kunst und so genannter autonomer Kunst auch in unseren Breitengraden bisher auf sehr geschiedenen Bühnen verhandelt worden, wie es für die von Segregation und Atomisierung gekennzeichnete Gesellschaft kennzeichnend ist, so sind deren Welten mit dieser documenta mit großer Wucht aufeinandergestoßen und haben ihre Polarität voll ausgespielt. Das hatte zum Effekt, dass Zwischentöne und eben auch Positionen, die nicht so leicht zuzuordnen sind, kaum eine Möglichkeit hatten, differenziert betrachtet, gehört oder wahrgenommen zu werden.
Freilich sind weder das freiheitliche Subjektivitätsparadigma noch der Gerechtigkeits- und Verantwortungsdiskurs in der Diskussion auf besonders tragfähigem Boden gebaut. Dieses zumal dann nicht, wenn es nun darum gehen soll, wie etwa Bazon Brock es verlangt, sich für das eine oder das andere entscheiden zu müssen. Ähnlich dieser Entweder-Oder-Rhetorik hinterlassen ruangrupa durch ihre Statements und Auswahl an ausgestellten Werken den Eindruck eines recht eindimensionalen Weltbildes. Zumindest scheint es von einer klaren Trennung zwischen „dem“ Westen und seinem Kunstbegriff hier und der südlichen Hemisphäre mitsamt aller Unterworfenen dort gezeichnet zu sein. Beide Seiten, Kurator*innen und Kritiker*innen, hinterlassen das Bild der Unvereinbarkeit ihrer Wertmaßstäbe und Kunstverständnisse. Sozial engagierte Kunst, die (künstlerische) Kritik am Kunstmarkt, prozessuale Verfahren und die Abkehr von einem individualistischen Kunstbegriff sind durchaus seit vielen Jahrzehnten, ja, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein fester Bestandteil künstlerischer Avantgarden in West- und Osteuropa, Russland, Japan und den USA. (Vgl. Puffert 2013) Künstler*innengruppen, Assoziationen, Netzwerke, Kollaboration, Kollektive, Koalitionen, Kontexte und Teamwork: All das ist nicht vollkommen neu, sondern kann auf eine lange, komplexe und gewundene Geschichte zurückblicken. (Lind 1998: 16) Auch gaben zuvor schon mehrere documenten künstlerischen Praxen ein Forum, die neben dem Mainstream, der vom Kunstmarkt bedient wird, agierten und für andere Kriterien und Kunstbegriffe eintraten. Warum wurde hierauf so wenig Bezug genommen – weder von Kritiker*innen, noch von den Befürwortenden bzw. Macher*innen der documenta fifteen?
„Documenta fifteen was an interesting attempt to challenge how the art world functions and in my eyes it succeeded“ (Götzinger/Georgis 2023: o.S.), so Dan Perjovschi, einer der teilnehmenden Künstler. Wenn es darum ging, hier einen Anfang zu machen und einen Ausstellungsbetrieb nach anderen Gesichtspunkten – Fragen nach Umverteilung von Kulturellem und Bildungskapital, Degrowth und nachhaltiger Ökonomie im Umgang mit materialen und materiellen Ressourcen – umzugestalten und die Prozesshaftigkeit künstlerischer Arbeiten in den Vordergrund zu stellen, warum und wie ließen sich diese Bestrebungen mit künstlerischen Vorstößen verbinden, die ebenfalls das System der Kunst sehr grundsätzlich in Frage gestellt hatten? Oder welche ganz anderen Maßstäbe werden und wurden hier angelegt, praktiziert oder kristallisieren sich heraus?
Sicherlich ist es noch zu früh diese Frage zu beantworten. Antworten hierauf zu entwickeln, scheint mir aber die entscheidende aktuelle Herausforderung für Kunst, Theoriebildung und Kritik sowie die Kunstpädagogik zu sein, will man die geführten Debatten nicht einfach im Sande verlaufen lassen. Hierbei gilt es, „ein empfindliches Gleichgewicht zwischen dem Affekt des Ästhetischen und der Ethik des Partizipatorischen [zu] finden“ (Bhabha 2022: 82). Tatsächlich zeugt die von Rauterberg und Brock unterstellte Regel, nach der bei so genannter autonomer Kunst formale Kriterien maßgeblich seien, während Formalästhetik bei Kunst mit dezidiert gesellschaftspolitischem Anspruch keine Rolle spiele, eher von Ungeübtheit im Umgang mit einer Kunst, die notwendig andere Formenrepertoires mit sich bringt. Diese fehlende Vertrautheit kann auch eine Erklärung dafür geben, dass beide Seiten keine große Bereitschaft zeigten, sich auf das Risiko des Unbehagens einzulassen, welches sich beim Clash ihrer künstlerischen Grundeinstellungen zeigte.
„Sich auf etwas Neues und Unbekanntes einzulassen, erfordert keine Empathie; es braucht vielmehr eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel der Angst. Denn die Betrachterinnen und Betrachter gehen das Risiko des Unbehagens ein, und die Künstlerinnen und Künstler das der Unlesbarkeit ihrer Darstellung.“ (Bhabha 2022: 81f)
Insbesondere das Beharren auf der Autonomie der Kunst im Namen der Freiheit scheint mir deutlich von dem befürchteten Verlust an bewährten Wertekategorien und dem damit verbundenen Einfluss motiviert zu sein. Denn wie auch Ulrich pointiert feststellt, mutet es naiv an, zu suggerieren, die postulierte Autonomie der Kunst habe keinerlei Folgen für andere Lebensbereiche. „Oder beansprucht Kunst etwa keine Steuergelder, verbraucht sie keine Ressourcen, will sie nicht provozieren oder wehtun? All das ist sicher grundsätzlich zu rechtfertigen – aber es muss auch eigens gerechtfertigt werden und lässt sich nicht im Namen einer unbedingten Kunstfreiheit einfach hinnehmen. Wer das verlangt, ist jedenfalls selbst ein besonders hartgesottener Klientelideologe.“ (ZEIT Online, 19.08.22)
Vielleicht ist dies eine der wichtigsten Herausforderungen in einer Gegenwart, die in so mancher Hinsicht einschüchternd und verunsichernd wirkt und wenig Raum für eine optimistische Zukunftsorientierung zulässt: sich zunächst den (eigenen) Verängstigungen selbst zu widmen. Denn werden sie nicht in den Blick genommen, sind Verhärtungen und Ausweichbewegungen die Regel. Wohl möglich sind die Verlustängste derer, die bisher unangefochten ihre Privilegien auskosten konnten, dabei nicht zu unterschätzen. Die Regeln von Entscheidungsfindungen und Auswahlprozessen, aber auch die politische Gesamtlage, in die die documenta in Kassel – als wegweisende Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die Internationalität für sich beansprucht – eingebettet ist, sind in den Fokus gerückt. Die Rollen und Funktionen sowie die Ökonomien des herkömmlichen Ausstellungsbetriebs stehen in Frage. Berührt davon ist auch der*die Kritiker*in, die sich anmaßt das Geschehen zu bewerten.[4]
Indem Kunst unsere Wahrnehmungsweisen erweitert oder überprüft, stellt sie uns immer auch neue Kriterien der Beurteilung zur Verfügung bzw. schafft Veranlassungen, diese zu entwickeln. Kollektive Kunst verwickelt idealiter die Betrachtenden in einen Akt der selbstbefragenden Teilnahme. Und diese Teilnahme wiederum eröffnet „ein Zwiegespräch mit der Angst als Erkundung: Was soll ich damit tun? Was ist das? Wie kann ich mich damit identifizieren? Wird meine Autorität des Betrachtens oder der Auseinandersetzung damit in Frage gestellt?“ (Bhabha 2022: 82). Kollektive Praktiken und Produktionen verändern darüber hinaus die Rolle des von außen Hinzutretenden und damit auch die Position der Kritik, die in der Regel von einer gewissen Distanz aus betrachtet und beobachtet.
Es gilt, die Rezeptionsangebote, seien es Symbole, Objekte, also materialisierte Anteile der Arbeit wahrzunehmen und in einen Bezug zum Handlungsvollzug zu setzen. Dabei richtet sich Aufmerksamkeit gleichermaßen auf affektive oder tätig-performative, jedenfalls nicht ausschließlich betrachtende und distanzierte Anteile an der jeweiligen Arbeit. Damit einher geht die Aufforderung, die eigene Involviertheit wahrzunehmen, den Blick zu schärfen für Möglichkeiten, die sich mir nicht nur als individuierte Einzelne eröffnen, sondern durch das Zusammenhandeln entstehen. Es geht darum, sich in Beziehungsgefügen wahrzunehmen, gegebenenfalls für sie einzutreten und sie und sich zu transformieren. Es geht also um etwas, was in kunstpädagogischen Prozessen ohnehin stattfindet. Wie praktisch.
[1] Das gilt auch für den Bundeskanzler der BRD Olaf Scholz, der verlautbaren ließ, dass er zwar „in den vergangenen 30 Jahren wohl keine documenta versäumt“ habe, „dieses Mal aber nicht nach Kassel reisen [werde]“. (Vgl. ZDF 2022)
[2] Hierzu ist anzumerken, dass das ausschließlich das Verdienst der Vermittler*innen und ihres internen Selbst-Organisationprozesses ist: Wie aus dem Abschlussbericht deutlich wird, waren die unter dem Namen sobatsobat firmierenden Vermittler*innen vollkommen auf sich gestellt und fühlten sich vom Kuratorium insbesondere zur Zeit der sehr angespannten Situation und hitziger öffentlicher Debatten um die Antisemitismus-Vorwürfe allein gelassen (vgl. Abschlussbericht 2022).
[3] 1965 hatte die Militärregierung Suhartos in Indonesien einen kommunistisch inspirierten Militärputsch niedergeschlagen und in der Folge eine „Säuberungsaktion“ durchgeführt, bei der bis zu einer Million tatsächlicher und angeblicher Kommunist*innen ermordet worden Suharto ist vom Westen inklusive Deutschlands durch Geheimdienste und finanzielle Mittel unterstützt worden.
[4] Bei Fertigstellung dieses Artikels lese ich, dass neun Werke der documentafifteen von Stadt Kassel und Land Hessen gekauft wurden: „Die Kunstwerke wurden zum größten Teil über die Lumbung Gallery erworben, einem eigens anlässlich der Weltkunstschau gegründeten Verein, der in Form einer Kooperative die Vermarktung der Kunstwerke übernommen hat. Damit soll Künstlerinnen und Künstlern eine faire Entlohnung zuteilwerden, wobei sie 70 Prozent des Verkaufspreises erhalten. Die übrigen 30 Prozent fließen in einen „Common Pot“, über den gemeinschaftlich entschieden wird und der auch die Finanzierung der Strukturen der Lumbung Gallery ermöglicht.“ Vgl. Webseite der Stadt Kassel. https://www.kassel.de/buerger/kunst_und_kultur/documenta/index.php
5-Punkte-Plan der Kulturstaatsministerin Claudia Roth für die documenta, Die Beauftragte für Kultur und Medien 2022, https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/2055530/6a539212045777c0f-f3a832a1ce7494b/2022-06-23-bkm-5-punkte-plan-data.pdf?download=1
Abschlussbericht. Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen, Februar 2023, file:///Users/puffert/Downloads/230202_Abschlussbericht.pdf
Das Erste, 19.09.2022, Die Story im Ersten: Der Documenta Skandal (Video)
Der Bundestag wettert gegen die documenta, Hessenschau, 07.07.2022, https://www.hessenschau.de/politik/schelte-fuer-verantwortliche-in-kassel-der-bundestag-wettert-gegen-die-documenta,bundes-tag-documenta-100.html
Scholz fährt nicht zur documenta, ZDF, 22.06.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/scholz-documenta-absage-100.html
Baumstieger, Moritz/Häntzschel, Jörg/Lorch, Catrin (2022): Die Kunst der Eskalation, Süddeutsche Zeitung, 25.06.2022, https://www.sueddeutsche.de/politik/documenta-kassel-antisemitismus-steinmeier-1.5609079
Bhabha, Homi K. (2022): Die Documenta als ästhetisches Gemeingut. Gedanken zum globalen Kunstraum und zur Wirkung kollektiver Kunst. Ein Gespräch von Judith Elisabeth Weiss. In: Kunstforum International, documenta fifteen Bd. 283, S. 78-83.
Brock, Bazon (2022): Documenta 15 ist die „Re-Fundamentalisierung der Kunst“. 21.06.2022, https:// bazonbrock.de/werke/detail/?id=3996
Butler, Judith (2001): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Transversal 05/2001, https:// transversal.at/transversal/0806/butler/de
Der maskierte Philosoph. Im Gespräch mit Christian Delacampagne (1991). Aus: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam. S. 5-13.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Götzinger, Lena/Georgis, Mahlet Wolde (2023): Documenta fifteen: an Attempt of Restructuring Power Relations / in Conversation with Dan Perjovschi, in: appropriate! Journal zur Vermittlung und Aneignung von Kunst, Issue 4, Machtverhalten, o.S. https://www.appropriate-journal.art/goetzinger-woldegeorgis
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Jhala, Kabir (2022): ‘Germany has cancelled us’: As embattled Documenta 15 closes, its curators ruan-grupa reflect on the exhibition—and what they would have done differently. In: The Art Newspaper, 22.09.2022, https://www.theartnewspaper.com/2022/09/22/documenta-15-closes-curators-ruangrupa-exhibition-kassel
Lind, Maria (2007): The Collaborative Turn. In: Johanna Billing/ Maria Lind/ Lars Nilsson (Hrsg.): Taking the Matter into Common Hands. London: Black Dog Publishing, S. 15-31.
Matzig, Gerhard (2022): Warum die Documenta schließen sollte. In: Süddeutsche Zeitung, 13.07.2022, https://www.sueddeutsche.de/kultur/documenta-ruecktritt-kommentar-1.5620452
Lingner, Michael (1997): Gegenwartskunst nach der Postmoderne, ‚Heautonome‘ Handlungskunst – eine alternative Perspektive. In: Kulturamt der Stadt Jena (Hrsg.) Kunst– Raum – Perspektiven. Jena: Gotha Druck, S. 110-119.
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Rauterberg, Hanno (2022): Dabei war es doch so gut gemeint. In: ZEIT Online, 14.09.2022 https://www.zeit.de/2022/38/documenta-fifteen-antisemitismus-kunstfreiheit-skandale/seite-2
Timm, Tobias (2022): Wo bleibt die Kontrolle. In: ZEIT Online, 22.11.2022, https://www.zeit.de/2022/46/documenta-fifteen-kunstfreiheit-antisemitismus-foerderung
Ulrich, Wolfgang (2022): Die Kunst, keine zu sein. In: ZEIT Online, 19.08.2022, https://www.zeit. de/kultur/kunst/2022-08/documenta-fifteen-ausstellung-kunst-kultur/seite-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.startpage.com%2F
Wilhelm, Jürgen, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Domradio, 30.7.2022, https://www.domradio.de/artikel/muss-die-documenta-vorzeitig-beendet-werden
Zimmermann, Olaf/Schulz, Gabriele: Skandal mit Ansage. Antisemitismus bei der documenta fifteen, Nr. 7-8, Juli-August 2022, S. 3.
Ziai, Aram (2022): Documenta und die postkolonialen Studien – Warum sollten wir nicht den Horizont erweitern? In: Frankfurter Rundschau, 24.08.2022.
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