Wissen entrücken. Reflexion als kritische Geste

„Hier finden ästhetische Erfahrungen statt.“ Eine Feststellung, die Beobachtbarkeit suggeriert und zugleich Fragen aufwirft: Woran wird dies erkennbar, ableitbar, vermutbar? Zum Kern kunstpädagogischer Praxis zählen initiierte Settings, in denen andere sich situativ erproben können, etwas erfahren können. Diese Inszenierungen werden zumeist von Unterstellungen oder einem Anspruch getragen, dass z.B. ästhetische Erfahrungen möglich werden. Doch ist dieses Vorhaben so einfach, wenn Erfahrungen etwas sind, das sich nicht beobachten lässt (vgl. Sabisch 2009: 14)?

Verstehen wir ästhetische Erfahrungs- und Bildungsprozesse als unverfügbare wie zugleich zentrale kunstpädagogische Momente, kann dieses ambivalente Verhältnis einen spezifischen Zugang herausfordern, um uns als Fragende und Suchende im kunstpädagogischen Feld zu situieren. Operiert das, was unser kunstpädagogisches Interesse auf sich zieht, im Entzug, können wir in einer reflexiven Hinwendung versuchen, Figurationen und Konstellationen zu entschälen oder zu entwickeln, die symptomatisch auf Erfahrungs- und Bildungsprozesse verweisen. Diese indirekte Annäherung an Erfahrungs- und Bildungsprozesse bemüht sich um eine Arbeit mit dem Un(ver)fügbaren, betrachtet dies als konstitutiv und suggeriert nicht die Auflösung des Un(ver)fügbaren. Vielmehr wird in der Akzeptanz des vorherrschenden Entzugs ein Bezug anderer Art möglich: Indem wir anerkennen, dass sich Erfahrungs- und Bildungsprozesse nicht direkt beobachten lassen, können wir unsere Aufmerksamkeit auf Symptome dieser Prozesse richten: „Auf Symptome greift zurück, wer auf die Sache selbst nicht Zugriff hat und nur indirekt Rückschlüsse über das zu ziehen vermag, was ihm vorliegt.“ (Alloa 2011: 273)

Ein demgegenüber anderer Umgang mit Un(ver)fügbarem zeigt sich darin, den Entzug durch vermeintliche Gewissheiten zu überspielen – ich tue, als ob ich wüsste. Als meist sprachliche Umhüllungen ermöglichen gesetzte Gewissheiten (durchaus in einem produktiven Sinne) forschende und didaktische Zugriffe, indem die begrifflich gewonnene oder gewohnte Silhouette eine handhabbare Vorstellung generiert (vgl. Johns/Bader 2018), etwas zur Darstellung bringt. Was bspw. Erfahrung bedeutet, wird dann weniger befragt, erklärt oder reflektiert, aber nahegelegt, dass diese (etwa in einer kunstpädagogischen Praxis) stattfindet. Solche beschreibenden Konstruktionen, die sich auf kunstpädagogische Bildungsfiguren beziehen, ohne diese genauer zu betrachten, können notwendig sein, wenn sie als Ausdruck eines wörtlich genommenen Umgehens mit Un(ver)fügbarkeiten fungieren. Wir nähern uns z. B. sprachlich an. Die Komplexität ästhetischer Erfahrungs- und Bildungsprozesse wird in solchen vermeintlichen Gewissheiten jedoch reduziert und teils ein leichtgängiges Verstehen implementiert. Vermeintliche Gewissheiten können den genaueren Blick auf eine Sache oder Phänomen, einen Prozess oder eine Praxis versperren. Sie können verhindern, Komplexität zu denken und mit ihr umzugehen.

Hinterfragen wir die induzierten Gewissheiten kritisch, wenden wir uns sowohl den entstandenen Konstruktionen als auch deren Leerstellen zu, die trotz unserer Annäherung bleiben oder von diesen sogar erst hervorgehoben werden. Wir inszenieren damit hinterfragend eine Höhlung, um in einer reflexiven Geste kritisch in den Blick zu nehmen, was sich wie und aus welchem Grund (für uns) als gewiss etabliert hat. Vermeintlich wissen und vermeintliches Wissen zu bilden, können zu Anlässen einer Reflexion werden, welche das Un(ver)fügbare nicht fügen will, aber Wissensgenesen befragt und sich anderem Wissen, auch im machtkritischen Sinne, zuwenden kann.

Im Fokus dieses Beitrags steht demgemäß die Frage, wie durch reflexives Hinterfragen bestehende und neue Zugänge, Sichtweisen und Erfahrungen sowie davon ausgehende Symptome im Feld der Kunstpädagogik entstehen können. Reflexives Hinterfragen als eine Praxis des Kritisierens zu verstehen, zielt auf eine theoriebasierte Zuwendung ab. Ich gehe dabei modellhaft vor, um Reflektieren als kritische Geste zu perspektivieren und die sich innerhalb dieses Zugangs artikulierenden Verhältnisse von Wissen, Reflexion und Kritik zuallererst zu beschreiben. Folgend widme ich mich dazu erstens der Denkfigur des Abstands, um diese als konzeptuelles Modell kritischer Reflexion zu lesen. Zweitens betrachte ich plurale mediale Reflexionspraxen als anderes Reflektieren im kunstpädagogischen Feld, um drittens Reflektieren als wissenentrückende Praxis kunstpädagogischer Theoriebildung zu bestärken, sodass die entrückende Geste im Reflektieren als kritikbestrebend betrachtet wird.

 

Situierung: reflexive Praxen des Hinterfragens

Sich mit Kritik als Konzept oder als Theorem zu beschäftigen, ist nicht einfach, da ihre Theoretisierung komplexe und durchaus tradierte Sichtweisen aufruft, die voraussetzungsvoll sind. Nur allzu leicht verstimmt man mit vereinfachten Zugängen andere, die zurecht vor einer Trivialisierung von Kritik warnen (vgl. Masschelein 2003). Um diese Sorge zu wertschätzen und dabei dennoch selbst nicht sprachlos zu werden, situiere ich meine Überlegungen vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen.

Auch wenn bestehende Konzepte von ‚Kritik‘ also über eine Metaphorik des Hinterfragens hinausgehen, so erscheint die im Wort ‚Hinterfragen‘ aufscheinende räumliche Konstellierung eine hilfreiche Annäherung an Kritikpraxen im kunstpädagogischen Feld. Hinterfragen operiert anders als beispielsweise Erfragen in der Vision oder Unterstellung eines möglichen Anders-Seins. Wie Daniela Holzer formuliert, werde Gegebenes „darauf geprüft, ob es nicht auch anders sein könnte“ (Holzer 2019: 733). Gewissheiten werden dabei zugleich vergegenwärtigt als auch prüfend hinterfragt.

Ein prüfendes Hinterfragen beschreibt demgemäß relationale Momente, die ein Abwägen, Informieren, unterschiedlich Anordnen und Umordnen, ein dialogisches oder kontroverses Beobachten umfassen können. Kritik suche dabei „gültige Gewissheiten zu hinterfragen, auf die sie selbst in diesem Akt zurückgreifen muss“, wie Rahel Jaeggi und Tilo Wesche pointieren (Jaeggi/Wesche 2009: 17). Diese doppelte Bewegung erzeugt zuweilen das Gefühl, dass sich Kritik von etwas weg und zu etwas hin bewegt, was einen gespaltenen, aber konstruktiven Modus im Kritisieren aufzeigt. Jaeggi und Wesche präzisieren die Dynamik, die sich darin entwirft:

„Kritik […] unterscheidet, trennt und distanziert sich; und sie verbindet, setzt in Beziehung, stellt Zusammenhänge her. Sie ist anders gesagt, eine Dissoziation aus der Assoziation und eine Assoziation aus der Dissoziation. Noch die radikale Widerlegung ist in diesem Sinne eine Bezugnahme, und noch eine Kritik, die auf den Bruch mit einer bestehenden Ordnung setzt, stellt eine Beziehung zu der Situation her, die überwunden werden soll.“ (Jaeggi/Wesche 2009: 8)

Das hier aufscheinende Kritikverständnis intensiviert in seiner begrifflichen Ausformulierung die Nähe zu einem räumlichen Verständnis im Hinterfragen, das im Sinne eines Umwendens im Zwischen agiert. Dieses Zwischen verstehe ich als produktive Sphäre, in der sich etwas bilden und umbilden kann. Wo sich Bezugnahmen und Distanzierungen ereignen, be- oder entstehen entsprechend Abstände, in denen sich etwas ausfaltet oder figuriert. Im Hinterfragen gibt es so betrachtet einen mehrfach direktionalen deiktischen Operator, der, so der Versuch dieser theoretischen Setzung, einen Abstand bedingt. Diese Räumlichkeit eines Kritikbegriffs verweist zudem darauf, dass die Präposition ‚hinter‘ einer konkreten Situierung bedarf, von der aus die Positionierung überhaupt erst eine Relation bilden kann und von der aus eine Bewegung oder ein Verhältnis möglich wird. Ändern wir die Situierung – im Sinne einer veränderten Position – oder fügen eine zweite oder dritte Position hinzu, kann etwas, das sich vormals als ‚Hinter‘ verortet hat, das neue ‚Vor‘ oder ‚Zwischen‘ werden. Was es braucht, sind Gesten der Verortung, die ermöglichen, uns auszurichten.

Die in Kritik angelegte Doppelbewegung aus Dis- und Assoziation ist weniger banal, als sie anmuten mag. Im sich herausbildenden Abstand konstituiert sich eine Passage der Ermächtigung, die Kerstin Jergus treffend formuliert: „In jedem Fall jedoch ermächtigt eine kritische Artikulation auch die so kritisierten Verhältnisse, indem diesen ein Platz in der Welt zuerkannt wird und man ein Verhältnis zu ihnen einnimmt.“ (Jergus 2019: 74) Die legitime oder nachvollziehbare Platzierung des Kritisierten, so möchte ich an dieser Stelle den Gedanken von Jergus auffalten, bedarf folglich reflexiver Akte. Eine reflexive Kritik zielt sodann auf die Herausbildung eines zumindest temporären Verhältnisses, welches wir gegenüber dem, das wir kritisieren, einnehmen wollen oder müssen.

Kritisieren bestehe in Anschluss an Iris Laner demgemäß in Unterscheidungsakten „zwischen dem, was sich von einem bestimmten Standunkt aus gesehen als so, von einem anderen aus aber als anders darstellt“ (Laner 2016: 275). Im Bild des Hinterfragens transformieren sich die Unterscheidungen in operierende Abstände zwischen den situierten Positionen. Dieses Zwischen möchte ich in Rekurs auf Bernhard Waldenfels entsprechend als ein fungierendes Zwischen betrachten, welches selbst Übergang sei und als „Nicht-Etwas“ sowie „Nicht-Jemand“ erscheine (vgl. Waldenfels 2015: 219). Praktiken des Kritisierens als produktives sowie performatives Geschehen zu denken, in dem sich abständig etwas bilden kann, bekräftigt deren reflexives Moment. Das Reflexive artikuliert sich dabei als ein Betrachten des einen durch ein anderes, als ein Wenden, Umwenden, anders Wenden, als ein Hinterfragen und unterschiedlich Positionieren. Die reflexiven Praxen möchte ich in Hinblick auf sich konstellierende Abstände im Hinterfragen folgend weiter in den Blick nehmen, um die Kontur einer reflexiven Kritikpraxis zu schärfen.

 

Abstand als Denkfigur

Der französische Philosoph François Jullien hat einen beeindruckenden Zugang entwickelt, wie sich Beziehungen zu Anderen ausgehend vom Dazwischen betrachten lassen. Jullien, auch Sinologe, befasst sich vorwiegend mit einem Zwischen von Kulturen, etabliert aber allgemeiner verstanden eine Theorie des Zwischens[1], die maßgeblich auf der Figur des Abstands fußt. Jullien bietet damit eine Wendung im Denken an, die ein Zwischen in seiner Potentialität und Virtualität[2] denkbar macht.

Julliens Position ist für den Gedanken einer reflexiven Kritikpraxis insofern anschlussfähig, als dass sie auf einer Verschiebung im Denken aufbaut, die sich dem Ungedachten zuwenden möchte. So formuliert Jullien: „Ich nenne ‚ungedacht‘, wovon wir beim Denken ausgehen und was wir aus eben diesem Grund nicht denken.“ (Jullien 2014: 20) Ähnlich also, wie sich Kritik in der Doppelbewegung aus Assoziation und Dissoziation artikuliert und nicht umhinkann, jenes mit zu zeigen, wovon sie sich wegbewegt, entsteht das Ungedachte nicht nur in Relation zum Gedachten, sondern in Differenz zu diesem, das gleichsam mithervortritt. Das Ungedachte umwirbt im Gefüge der kritischen Reflexion sodann eine zwar immer noch relationale Situierung, doch initialisiert es zugleich einen neuen Punkt im Koordinatensystem der Gedanken.

Als entscheidende Blickachse verschiebt Jullien ein Denken vom Unterschied zu einem Denken des Abstands (vgl. ebd.: 26). Während der Unterschied lediglich versuche zu identifizieren, um eine Essenz, das Eigentliche, etwa einer Kultur, zu markieren, erschaffen die Abstände ein Dazwischen. Indem wir Unterschiede festlegen, so Jullien weiter, nehmen wir unweigerlich eine erhabene Position ein, von der aus wir uns anmaßen, zwischen Gleichem und Anderem zu urteilen. Diese Herangehensweise könne jedoch nur scheitern, da die Essenz einer Kultur maßgeblich in ihrem stetigen Wandel und der Veränderung zu sehen sei. Der Begriff des Unterschieds verbleibe daher einer der Einordnung, der nichts Eigenes hervorbringe (vgl. ebd.: 27).[3] Der Abstand folge aber einer Logik des Entdeckens und sei vielmehr eine Figur der Störung und Unordnung (vgl. ebd.: 29ff). Statt eine gemeinsame Gattung zu unterstellen, wie es der Unterschied erfordere, erzeuge sich der Abstand durch eine Stelle der Trennung, leite sich von einer Entfernung her (vgl. ebd.: 32). Der Abstand, dynamisch und produktiv, eröffne daher einen Raum des gegenseitigen Musterns (vgl. ebd.: 33f). Insofern wölbt Jullien eine Achse der Alterität in das entstehende Dazwischen hinein, in dem wechselseitige Bezugnahmen möglich werden. Er fordert uns dazu auf, die Abstände wirken zu lassen, als Räume der Reflexion, als Spannungsverhältnis, das zu denken gebe (vgl. ebd.: 34). Der Abstand als ein forschender Begriff, sei erfinderisch (vgl. ebd.: 35). Insofern wird ersichtlich, dass Julliens Ansatz eine reflexive Umschau intendiert, die durchaus Raum gibt, um eine Kritik zu formulieren. Um das Potential dieses Reflexionsraums zu erläutern, zoomt Jullien in den Abstand hinein. Er beschreibt, dass das Dazwischen aufgrund seiner Eigenheit unbemerkt zu bleiben, in seiner Unauffälligkeit bisher im Denken oft übergangen wurde (vgl. ebd.: 50). Das „Dazwischen verweist immer auf etwas anderes als sich selbst“, sodass die Eigenheit des Dazwischen darin bestehe, nichts Eigenes zu haben – das Dazwischen ist nicht (ebd.: 50f). Zugleich – und dies markiert die Komplexität und sprachliche Differenziertheit in Julliens Überlegungen – sei es das Dazwischen, an dem alles passiere, geschehe und sich entfalten könne (vgl. ebd.: 51). Ein derart performativ gefasstes Dazwischen adressiert Veränderungen, lädt zu (Um)bildungen ein und konturiert eine dynamische Umgebung. Welche Bedeutung kann ein solches Dazwischen im Reflektieren einnehmen, wenn wir dieses als kritische Geste betrachten wollen?

 

Dazwischen als Werkzeug

Julliens Begeisterung für das Dazwischen führt ihn dazu, dieses als Werkzeug zu begreifen. Der Abstand, in dem das Dazwischen sein und werden kann, bildet für ihn einen Spielraum der Sozialität und Alterität. Das Denken eines Abstandes selbst, so meine Lesart, eröffnet einen methodischen Zugang, der darin besteht, die sich herausbildenden Verhältnisse, Beziehungen und Relationen zu reflektieren, um diese etwa einer Kritik zu unterziehen. Welches Verhältnis von Reflexion und Kritik bildet sich durch ein solches Denken heraus?

Wählen wir für uns das Ziel, eigenes Wissen kritisch zu prüfen, so kann im Hinterfragen ein Zwischen initiiert werden, das Zugänge bildet, um Wissen zu entrücken. Das Erkenntnisinteresse könnte beim Ungedachten liegen, um sich diesem anzunähern. Wie eingangs in Rekurs auf Daniela Holzer formuliert, prüft eine derartige Reflexion Gegebenes darauf hin, ob es nicht auch anders sein könne (vgl. Holzer 2019: 733).

Sich dem Ungedachten anzunähern, bedeutet für Jullien, das, wovon wir beim Denken ausgehen, und das wir aus eben diesem Grund nicht denken, in den Blick zu nehmen, im Sinne eines Rahmenwechsels (vgl. Jullien 2014: 20). Um einen Zugang zum Ungedachten zu entwickeln, wählt Jullien den Umweg, um einen Abstand bewusst zu initiieren. Diese Wendung solle ermöglichen „das Feld des Denkbaren zu entfalten und neu zu konfigurieren; oder sagen wir: Um durch eine Abkehr vom etablierten Denken gedankliche Ressourcen anderer Art, bislang unerforscht oder brachliegend, aufzubieten“ (ebd.: 41).

Mich interessiert, wie wir diesen Umweg in Kunstpädagogik denken können. Dazu gehe ich zunächst näher auf die Figur der Reflexion ein, um diese in der notwendigen Breite zu betrachten und um ihre medialen Spielräume in kunstnahen Zugängen hervorheben.

 

Reflexion

Will man einen im Kontext der Künste spezifischen Reflexionsbegriff näher formulieren, so kann dieser nicht ohne singuläre Praxen von Reflektieren gedacht werden. Das bedeutet, dass sich potenzielle Modi des Reflektierens am Geschehen selbst ausbilden und durchaus unkontrollierbar hinzutretende Dimensionen und Praxen von Reflexion umfassen. So kann beispielsweise die Reflexion über den eigenen Kunstbegriff auf Ausstellungs- und Kunsterfahrungen, pädagogische wie auch alltägliche Erfahrungen überspringen, durch die etwas sprachlich, bildlich, performativ, gestisch oder mimisch in die Reflexion einbezogen wird. Einen Reflexionsbegriff zu entwickeln, bedeutet daher mögliche Modalitäten und Medialitäten eines Reflektierens in den Blick zu nehmen, die eine Richtung aufzeigen, aber keinesfalls endgültig festlegen, worin die Grenzen eines Reflektierens liegen. Hier wird bewusst eine Komplexität induziert, die im Kontext von Bildung, eine medial ausgedehnte Betrachtung von Reflexion arrangiert.

In Hinblick auf die Medialitäten eines Reflektierens liegt es nahe zu fragen, ob Reflektieren eher im Denken und/oder im Handeln geschieht. In Rekurs auf Edgar Forster, der eine Verquickung aus Denken und Handeln vorschlägt, könne Reflektieren im Sinne eines Zurück- oder Hinwendens von Gedanken als denkendes Handeln und handelndes Denken verstanden werden (vgl. Forster 2014: 589). Als zentrales Movens einer Wissensgenese adressiert Reflexion entsprechend unterschiedlich konstellierte Praktiken und Modi.

Nach Weisen eines Reflektierens im Pädagogischen und im Kontext der Künste zu fragen, wird von einem Anliegen oder gar Anspruch getragen, im Konnex beider Felder von kunstpädagogisch eigenen, vielleicht sogar innovativen und vorbildlichen Reflexionspraktiken auszugehen, um sich den un(ver)fügbaren Bildungs- und Erfahrungsprozessen anzunähern. Welches Verhältnis zwischen Erfahren und Reflektieren wird darin begründet oder welches Verhältnis braucht es, um die implizierten Ansprüche zu berücksichtigen?

Mit einem Experimentieren, um zu sehen beschreibt Georges Didi-Hubermann eine Dynamik (Didi-Huberman 2012), die ich in diesem Zusammenhang adaptiere und auf das Verhältnis von Reflexion und Erfahrung übertrage (vgl. Johns 2021: 89f). Didi-Huberman bezieht sich in seinen Überlegungen unter anderem auf den französischen Mediziner und Experimentalphysiologen Claude Bernard, der den Terminus ‚experience pour voir‘ 1865 im Rahmen seiner Introduction à l’étude de la médecine expérimentale geprägt habe. Bei diesem Experimentieren gehe es darum, eine intuitive, (ver)suchende Haltung einzunehmen, die auf einem Hoffen gründe, dass man etwas findet, ohne genau zu wissen, was es sein wird. Bernard spricht in diesem Sinne von „Experimenten des Herantastens“, in denen eine zunächst unbestimmte Beobachtung zum Anlass einer weiterführenden Recherche werden könne (vgl. Bernard 1966: 50 zit. nach: Didi-Huberman 2012: 197). Abstrahierter formuliert, kann eine experimentelle Umgebung demgemäß initiierte Anlässe des ungezielten Aufmerkens bilden und darin eine Annäherung an Ungedachtes und Ungewusstes.

Die im Experimentieren, um zu sehen begründete Dynamik übersetze ich in ein Reflektieren, um zu erfahren (vgl. Johns 2021: 89f) und gehe davon aus, dass unterschiedliche Reflexionsweisen Erfahrungsräume eröffnen und Erfahrungsprozesse gestalten, strukturieren, leiten oder prägen. Insofern können wir uns durch Reflexion neu ausrichten, neue Bezüge und Distanzierungen erhoffen, annehmen oder uns durch diese als Suchende und Fragende situieren. Wir sind gewillt, das Befragte von seinen Gewissheiten zu entschälen, diese zu prüfen, gänzlich abzulegen oder neu zu denken. Die Künste schaffen eigensinnige Möglichkeiten, um Gewissheiten aufzuzeigen und zu stören, indem sie durch Verfremdungen und Irritationen „unsere gewohnheitsmäßige Normalisierung erst aufscheinen lassen“ und „durch die medialen und modalen Zwischeninstanzen eine ‚Matrix‘ für die Konstitution von Bildungsprozessen“ bilden (Sabisch 2018: 35).

In Hinblick auf Kunstpädagogik und ihren Kunstbezug erscheint es demgemäß naheliegend, Reflektieren auch jenseits der Sprache zu denken. Insbesondere vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Erfahrungsbegriffs (Waldenfels 2002) und dem Umstand, dass Erfahrungen selbst unsichtbar sind und sich nicht beobachten lassen (vgl. Sabisch 2009: 14).

Hilfreich erscheinen auch Ansätze aus der künstlerischen Forschung, die an den Übergängen unterschiedlichster sinnlicher Praxen Erkenntnisformen befragt und theoretisiert. Selma Dubach und Jens Badura verweisen hier auf ein Denken im Medium der Kunst. Sie gehen davon aus, dass es eine Form von Wissen gibt, die sich im Prozess des künstlerischen Tuns oder der künstlerischen Praxis zeige. Ein Denken im Medium der Kunst könne sich entsprechend als Reflexion vollziehen. Dubach und Badura gehen davon aus, dass Reflexion stets selbstbezüglich verlaufe und bereits Erfahrenes thematisiere (vgl. Dubach/Badura 2015: 125). Offener verstanden, kann sich auch etwas unbewusst thematisieren, indem nicht explizit, sondern im Sinne eines tacit knowledge, die genannte Selbstbezüglichkeit auftritt.

Reflektieren, das sich im Zuge eines Denkens im Medium der Kunst vollzieht, verweist auf ein Reflektieren durch ästhetische und künstlerische Praktiken, etwa durch Performatives, durch Bildliches oder Filmisches. Die Besonderheit solcher Reflexionspraktiken, so beschreiben Dubach und Badura weiter, artikuliere sich darin, dass begriffliches Denken mit unbegrifflichem Denken in den Dialog tritt (vgl. ebd.: 126). Verstehen wir diesen Dialog auch als mediale Kontroverse, so haben wir es mit einer besonderen Form des intermedialen Verhandelns zu tun.

Auch Dieter Mersch hat aus medienphilosophischer Perspektive nicht-sprachliche und visuelle Formen des Denkens aufgezeigt, insbesondere in seinen Ausführungen über Epistemologien des Ästhetischen (Mersch 2015). Auch ihm geht es dabei nicht um ein Nachdenken zum Beispiel über Bilder, sondern um ein medial verstandenes Denken durch Bilder. Merschs medialer Reflexionsbegriff greift auch den bereits mit Dubach und Badura angedeuteten Selbstbezug auf, insofern Mersch von einem Reflektieren spricht, um „sich seiner selbst bewusst zu werden“ (Mersch 2014: 36). Dieses ließe sich auch als Entstehen und Transformieren eigener Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisse verstehen, als transformatorischer Bildungsprozess, wie ihn unter anderem Hans-Christoph Koller beschrieben hat (Koller 2012). Reflexion wäre, so verstanden, auch eine Geste der Umordnung und der Bezugnahme, die Verrückungen bildet, durch die Neues bzw. Anderes entstehen kann, zum Beispiel ein Neusehen oder Andersehen. Transformationsprozesse, wie auch der Gedanke eines Umordnens, legen nahe, von einem Zwischen auszugehen, in dem sich beispielsweise der von Dubach und Badura beschriebene Dialog ereignen kann. Die Figur des Abstands tritt hier als Distanz auf, die jenen Verrückungen im Reflektieren auf produktive Weise einen Raum bietet. Die mit Mersch aufgezeigte Selbstreflexion beziehe ich zudem auf den Gedanken einer reflexiven Distanz, wie sie Iris Laner in ästhetischen Bildungsprozessen beschreibt (vgl. Laner 2019: 65), um hier Anschlüsse zwischen Bildung und Reflexion zu verdeutlichen:

„Sich selbst bewusst zu werden in allen Dimensionen, also als leibliches, in der Welt stehendes, verletzliches Bewusstsein, bedeutet nicht zuletzt […] in eine reflexive Distanz zu sich treten zu können, das heißt, zu sich selbst auf Abstand zu gehen, einen quasi anderen, einen veräußernden Blick auf sich selbst zu werfen, der es dann in einem nächsten Schritt erlaubt, sich in ein anderes Verhältnis zu sich selbst und zur Mit- und Umwelt zu setzen. (Selbst-)Reflexion ist damit an die Möglichkeit eines Perspektivwechsels geknüpft.“ (Laner 2019: 68)

Der von Laner herausgestellte Modus des Perspektivwechsels entwirft eine gemeinsame Basis zur Kritik: Wir haben es mit dem Bewusstmachen bestehender Situierungen und Positionen zu tun, die in einer reflexiven Distanz ein Zwischen eröffnen, in dem sich Bezugs- und Distanzierungspraktiken eines Kritisierens hervorbringen können. Die reflexive Distanz operiert dabei als gewichtige Praxis einer reflexiven Kritik, die uns befähigen kann, anders als gewohnt zu denken, Bestehendes zu hinterfragen und Perspektiven zu wechseln, um sich darin für Erfahrungs- und Bildungsprozesse zu öffnen. Reflexive Kritik befragt das Gewohnte mit dem Anspruch, die eigene Position und Situierung ins Wanken zu bringen, obwohl das bisherige vermeintliche Wissen im Rahmen eigener Selbst-, Anderen und Weltverhältnisse funktioniert hat.

 

Reflexion als kritische Geste: Wie kunstpädagogisch (be)deuten?

Um die vorausgegangenen Überlegungen miteinander zu verweben, liegt es nahe, die in der Bezugnahme von Reflexion und Kritik bereits initiierte Brücke zum dialektischen Konzept von Kritik zu benennen:

„Reflexion und Kritik sind eng miteinander verwoben, insbesondere in der Zusammenführung ‚kritischer Reflexion‘ oder ‚reflexiver Kritik‘. Die Übergänge sind fließend und gelegentlich entsteht der Eindruck einer sprachlichen Doppelung.“ (Holzer 2019: 725)

In dieser Perspektivierung ist Reflexion nicht prä- im Sinne von vorkritisch, sondern in sich selbst ein Weg kritischer Betrachtung, Wendung oder Anwendung. Diese theoretische Folie heranzuziehen, begründet sich auch an der Rahmung, die Holzer sorgfältig aufzeigt: Negative Dialektik biete „die Möglichkeit komplexer, mehrdimensionaler, radikal kritischer Denk- und Verhaltensweisen, sie fordert Verflüssigungen des Denkens und Offenheit für Unbestimmbares“ (ebd.: 719). Ein weiterer eingängiger Gedanke Holzers bezieht sich auf die Theorieentwicklung, die methodisch oft nicht ausgeführt werde. Holzer verdeutlicht, dass methodische Überlegungen eine besonders vertretbare Nahtstelle für Neuankommende im Kritischen Denken mit negativer Dialektik bilden können.

Wird Reflexion als kritische Geste entsprechend mit der Notwendigkeit neuer Denkweisen perspektiviert und als methodisches Geländer einer Theoriebildung konturiert, kann Kunstpädagogik damit eine hinterfragende Haltung gegenüber relevanten Erfahrung- und Bildungsfiguren einnehmen. Neben den Vorzügen und Potentialen auf Forschungsebene, sehe ich auch für die kunstpädagogische Praxis einen immanenten Gewinn in (gemeinsamen) reflexiven Anbahnungen, in denen Gegenstände, Fragen und Entwürfe von Kunstpädagogik virulent werden.

Um aufzuzeigen, wie die Konzeption eines Reflektierens, um zu erfahren Anlässe für Theoriebildung eröffnen kann, schlage ich folgend drei kunstpädagogische Umgänge vor, die auf unterschiedliche Weise reflexive Abstände setzen können: initiierte bzw. inszenierte Ungewissheiten, gemeinsam Ungedachtes sowie Spiel und Spekulation.

initiierte bzw. inszenierte Ungewissheiten

Nehmen wir an, dass eine Fähigkeit von Kritik darin liegt, „die Gewohnheiten fundamental aufzurütteln“ (Schäfer 2019: 177), so möchte ich für die Reflexion selbiges Potential nahelegen. Daniela Holzer entwirft einen Kritikbegriff, der auf gezielte Wendungen von Gegebenem ausgerichtet ist. Für Kunstpädagogik schlage ich vor, hier mit initiierten bzw. inszenierten Ungewissheiten zu arbeiten (vgl. Johns 2021: 308). Dabei begreife ich Ungewissheit als treibende Kraft in Erfahrungsprozessen und als Anlass für Reflexionsprozesse. Anknüpfungspunkte sehe ich beispielsweise bei Andreas Gruschka, der aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive befürwortet, Momente von Ungewissheit im Pädagogischen bewusst herzustellen, und zwar im Sinne eines „Rätselcharakters“ (Gruschka 2019: 172). Durch die befragende Extension von Themen und Grundbegriffen des Alltags, die wir selbsterklärend und selbstverständlich behandeln, soll auf diese Weise unser Wissen und Unwissen ins Bewusstsein gebracht werden (vgl. ebd.). Der Modus intendierter Verwunderung ist dabei nicht das Ziel dieser didaktischen Intervention, sondern der Beginn einer reflexiven Umschau.

Auch Birgit Engels „Übungen als experimentelle Annäherungen“ (Engel 2015: 72), die sie als „Öffnung für neue Erfahrungen“ (ebd.: 73) betrachtet, weisen einen inszenierenden Moment von Ungewissheit auf. Solche Übungen, die kein Einüben im Sinne eines Erlernens meinen, sollen experimentell eine reflexive Aufmerksamkeit für etwas herstellen (vgl. ebd.: 72). So werde eine sinnlich-leibliche Bezugnahme „auf eine Sache, die Anderen, einen Raum“ (ebd.) oder sich selbst möglich, wie Engel beschreibt. Im hochschuldidaktischen Kontext könne eine solche Übung exemplarischen Charakter in der Bezugnahme auf pädagogische Praxis haben (vgl. ebd.: 73).

In Engels Ansatz werden erfahrungsbasierte Zugänge deutlich, die sinnlich-leibliche Reflexionsformen für das kunstpädagogische Feld aufzeigen. Durch bspw. gemeinsame performative Übungen, die sich experimentellen medialen Inszenierungen bedienen, können Erfahrungsräume anvisiert werden, die oft anderswo als im Sprachlichen beginnen. Auf diese Weise können neue Abstände im Denken angeboten werden, die in dialogischer Reflexion über das jeweils Erfahrene wiederum Sichten pluralisieren können. Momente der initiierten bzw. inszenierten Ungewissheit können Anlässe zum Perspektivwechsel bieten, zum Hinterfragen des Bestehenden, zum Bewusstwerden dessen, wo die Koordinaten unserer eigenen Position liegen.

gemeinsam Ungedachtes

Ein zweiter Moment ist damit bereits angeklungen: das Ungedachte. Daniela Holzer formuliert die eigene Zuwendung zum Ungedachten als fluides Experimentieren: „Denken muss sich verflüssigen, indem es zumindest den Versuch unternimmt, gewohnte Bahnen zu verlassen, Undenkbares zu denken.“ (Holzer 2019: 733) Wie zur Figur des Abstands bei Jullien ausgeführt, könne ein Zugang zum Ungedachten im Umweg liegen, um das Feld des Denkbaren zu entfalten und neu zu konfigurieren. Solche Umwege können sich kunstpädagogisch perspektiviert nicht nur durch mediale Umwege eröffnen, sondern sind auch als Umwege durch Andere denkbar. Eine Chance für das Ungedachte im Umweg durch Andere sehe ich zunächst im Herstellen und Eingehen immer wieder neuer Kollektivierungen im Denken. So entwirft das Konzept des Denkkollektivs, wie es Ludwik Fleck definiert hat, einen hilfreichen Bezug (vgl. Fleck 1935/2015).

Ein Denkkollektiv fasst Fleck als „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ (ebd.: 54) und definiert in einer klaren wie einfachen Formulierung, wie sich Denkkollektive bilden: „Ein Denkkollektiv ist immer dann vorhanden, wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen.“ (ebd.: 60) Denkkollektive entstehen insofern in der Summe ihrer Beteiligten, die in das Kollektiv mit ihrer Persönlichkeit eintreten, die Fleck als „Personifikation sehr vieler differenter Augenblickspersönlichkeiten“ (ebd.) begreift. Insofern verändert sich das Kollektiv permanent durch die Beteiligten und situiert diese in einem changierenden Gedankengefüge.

Was zunächst abstrakt anmuten mag, kann uns zur Kritikbildung einladen: die Denkkollektive, in denen wir zusammentreten, in ihrer jeweiligen Besonderheit wertzuschätzen und darin vorhandene Abstände wirken zu lassen, um Reflexionsanlässe wahrzunehmen und einzugehen. Die Zirkulation unterschiedlicher Gedanken manifestiert ein gedankliches Terrain der Zu- und Abwendung, der Suche, Abwehr und Neujustierung unserer eigenen Positionierung und Situierung. Diese Perspektive kann uns ebenso dazu veranlassen, zu hinterfragen, wen wir implizit wie explizit in Denkkollektiven ein- und ausschließen, oder uns dazu zu bewegen, bestimmte, zum Beispiel toxische, Denkkollektive nicht einzugehen oder uns aktiv aus diesen zu lösen.

Mit Dubach und Badura habe ich das Denken im Medium der Kunst hervorgehoben und sehe hier eine produktive Verknüpfung zum Denkkollektiv, das auf diese Weise unterschiedliche, auch unbegriffliche, Denkformen betrifft. Adaptionen des Konzepts bilden Blick- und Leibkollektive, die im Plural der Künste mit immer wieder neuen medialen Geländern zu tun haben. Gemeinsam zeichnend zu denken, mit Bildantworten über etwas zu verhandeln oder performativ einen Raum zu erfahren – dies können mögliche Ansätze einer gemeinsamen Suche unseres kunstpädagogischen Denkens sein.

Spiel und Spekulation

Der Zusammenhang von Spiel, Spekulation und Kritik mag sich auf den ersten Blick nicht aufdrängen, doch verdeutlichen Jaeggi und Wesche deren annähernd zirkulative Dynamik:

„Immer dann, wenn es Spielräume, Deutungs- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt, setzt sich menschliches Handeln der Kritik aus.“ (Jaeggi/Wesche 2009: 7) Betont man an den Deutungs- und Entscheidungsmöglichkeiten die Möglichkeiten, so wird deren spekulative Facette hervorgehoben, wenngleich dies eine Setzung meinerseits und keine allgemeingültige Sicht ist. Spiel und Spekulation als elementare Felder von Kritik bieten essenzielle Übergänge zu den Künsten. Ein Erkunden von Reflexionsweisen mit den Mitteln der Kunst und im Spiegel unterschiedlichster medialer Zugänge, bezieht Momente des Zufalls und des Spiels ein. Die Felder Spiel und Spekulation können (aus)probierende Dimensionen für den kunstpädagogischen Diskurs bilden. Sich bspw. im eigenen Sagen zu versuchen (Johns 2022), konturiert spekulative wie auch spielerische Umgänge mit Situierungen, die erlauben ein „(Anders-) Mögliches“ (Hausmann 2022: 45) zu suchen. Konkreter können Entwürfe von Zukunft sichtbar werden, die „vom Hier und Jetzt ausgehende projizierte Bilder von Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten“ (ebd.) anbieten.

Holzer markiert Kritik in Rekurs auf Adorno explizit als „spekulatives und spielerisches Hinausdenken“, das Erkenntnis ermögliche. So sei Kritik spekulativ, „indem Denkexperimente gewagt, spekulative Entwürfe versucht werden und das Denken über Bestehendes hinausgeht“ (Holzer 2019: 733). Im Spiel kann das bisher Ungedachte am Bestehenden entwickelt werden, indem auf experimentelle Weise etwas entsteht, was schon da ist, aber sich auf diese Weise noch nicht gezeigt hat (vgl. Christ 2017: 302). Dabei bedeutet der spielerische Zugang oft eine zeitliche und räumliche Begrenzung (Huizinga 1938/2019: 18), eine Entrückung vom „eigentlichen“ Leben (ebd.: 16), sodass dessen fragile Funktion im Duett kritischer Artikulationen vom schwebenden Gegensatz „Spiel-Ernst“ (ebd.: 17) gekennzeichnet ist.

Reflexion als kritische Geste in der Kunstpädagogik betrifft die Bedeutung wissenentrückender Praxen und zwar nicht nur als Anlass für Kritik, sondern als eine bereits immanente Kritikpraxis. Die Relevanz von Erfahrungen, die Gewohntes entrücken oder entsichern, um eigene und fremde Situierungen zu erkennen und zu verstehen, um sich dem Ungedachten anzunähern, es herauszufordern und zu suchen, zeichnet einen Kritikbegriff, der das Ziel von Kritik in Umstülpungen und Auswuchtungen des wenig Befragten, des in seiner Gewohnheit bewusst oder unbewusst Unangetasteten, verortet. Initiierte und inszenierte, gemeinsame und spielerisch-spekulative Verflüssigungen des Gewohnten können reflexive Abstände bilden, in denen eine theoriebewusste und theoriebildende Kunstpädagogik an ihren eigenen Hinterfragungen wachsen kann. Medial vielfältiges Reflektieren, das von einer Singularität und Vielfältigkeit der Künste getragen wird, erhofft und unterstellt auf diese Weise ein Anders-Denken und Anders-Werden im Sinne von Bildung. Die hier konturierte Sichtweise auf Reflexion als kritische Geste findet ihren Widerhall sowohl in der kunstpädagogischen Praxis als auch in ihrer Theoriebildung. Sie veranlasst Komplexität und produziert Fragliches, das die Suche nach Wissen maßgeblich anregen kann. Reflexion als kritische Geste ermöglicht im Sinne Lebendiger Theorie (Karcher/Rödel 2021)[4] die Durchdringung und Wendung eigener Selbst-, Anderen-und Weltverhältnisse. Sie funktioniert nicht wie ein Uhrwerk, sondern sprunghaft und einfallend, sie wirkt und verhält sich gar widerständig, um auch untergründig in uns etwas auszulösen, das jene Virtualität im Denken („es könnte auch anders sein“) bestärkt.

 

Anmerkungen

[1] In der dt. Übersetzung von Julliens Der Weg zum Anderen (2012) spricht dieser konsequent vom Begriff des Dazwischens. Dies begründet sich m. E. in der in seiner Theorie prominenten Figur des Abstands, die uns ermöglicht, einen Zwischenraum zu Dieses Dazwischen existiere im Hohlraum, „ohne dass eine Bestimmung ihm zukäme“ (ebd.: 50). Da Jullien diese Bestimmung ausschließt, bleibt es ein unbestimmtes Zwischen. Ich selbst spreche von einem Zwischen (ohne Da-), um dessen Unbestimmtheit zu betonen (vgl. Johns 2021). Wo folglich vom „Dazwischen“ die Rede ist, steht es in explizitem Bezug zu Jullien.

[2] Michaela Ott verweist in Anschluss an Gilles Deleuze immer wieder darauf, dass sich der Begriff des Virtuellen weder im Digitalen erschöpfe noch ausschließlich von dessen Warte aus gedacht werden sollte; dazu betrachtet sie das Virtuelle in Verbindung mit dem Aktuellen insbesondere ausgehend von einer zeitlichen Differenz und reflektiert dies am Begriff der Wirklichkeit: „Das Virtuelle und Aktuelle sind beide wirklich, unterscheiden sich aber hinsichtlich ihres Wirklichkeitsmodus: Während das Virtuelle – wie die Zeit – unendliche Differentialität, allerdings gleichsam im Latenzzustand ist, verwirklicht sich das Aktuelle in einer bestimmten zeitlichen Wirklichkeit ist also einerseits immer schon gegeben, andererseits immer gerade im Entstehen. Als Oszillation zwischen zwei Modi bietet sie keine Form, keine Vorlage, nichts Kopierbares, nur die Möglichkeit unbegrenzten Werdens an.“ (Ott 2014: 11)

[3] Der Begriff des Unterschieds bei Jullien darf m. E. nicht verwechselt werden mit der phänomenologischen Figur der Differenz, wie sie etwa Waldenfels einführt. So zielt Julliens Kritik am Unterschied auf dessen Starre, dessen Setzung, dessen bestimmter Unterscheidung, dessen Stillstand ab. Die vielschichtige Figur der Differenz bei Bernhard Waldenfels operiert abweichend in Momenten des unbestimmten „Etwas“. Er führt eine Reihe an Differenzen an, die das Erfahrungsgeschehen in seinen unterschiedlichen Differenzbildungen betrifft – das diastatische Zwischen der Erfahrung (vgl. Waldenfels 2002; Johns 2021: 39f).

[4] „Die Arbeit mit und an Theorie verändert uns: Wir beginnen die Welt und uns selbst in einem anderen Licht zu sehen, womöglich erkennen wir weder das eine noch das andere Wenn wir uns z. B. intensiv mit der Frage des Scheiterns, der Verantwortung oder der Technik auseinandersetzen, verändert das Nachdenken über diese Begriffe auch unseren praktischen Alltag, lässt uns anders wahrnehmen und anders über unsere Beziehungen zu anderen denken. […] Das Verhältnis von Theorie und Leben gestaltet sich als Wechselspiel, als spannungsreiche Beziehung zwischen (wissenschaftlichem) Wissen und der intensiven Auseinandersetzung mit Theorie einerseits und andererseits dem Subjekt, das sich dieser Sache widmet. […] Eben dieses Wechselspiel ist es, das uns verändert: Theorie und Theoretisieren transformieren Selbst-, Welt- und Anderenverhältnisse, verwandeln Individuen in Subjekte, (re-)strukturieren strukturierende Strukturen unseres Denkens und Handelns.“ (Karcher/Rödel 2021, Ankündigungstext)

 

Literatur

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Von Stefanie Johns

Veröffentlicht am 3. August 2025

Themen

Zitiervorschlag

Johns, Stefanie: Wissen entrücken. Reflexion als kritische Geste, in: Iris Laner (Hg.): Kritik (in) der Kunstpädagogik. Ihre Formen, Relationen und Potenziale denken, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2025. Quelle: https://zkmb.de/wissen-entruecken-reflexion-als-kritische-geste/; Letzter Zugriff: 18.09.2025

Review-Verfahren

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