Der Beitrag geht der Frage nach, wie ‚Leistungsdifferenzen’ im Kunstunterricht der Sekundarstufe konstruiert und bearbeitet werden. Auf der Basis der dokumentarischen Interpretation von narrativen Interviews werden Prozesse genderbezogener Differenzkonstruktionen im Sinne des doing difference nachgezeichnet. Kunstunterrichtliche Leistungsdifferenzen werden entlang der Unterscheidung in anerkennenswerte und weniger anerkennenswerte künstlerische Leistung konstruiert und bearbeitet sowie individuell genderbezogen zugeschrieben. Die Kunstlehrpersonen rekurrieren auf diese Unterscheidung – und die kunstunterrichtlichen Praktiken der Schüler*innen ergänzen diese: Schüler*innen werden kontrastierenden Gruppen entlang impliziten, leistungsbezogenen Differenzlinien genderbezogen zugeordnet. Durch die sich aktiv wiederholende Bezugnahme auf diese im Diskurs eingelassene Struktur der Binarität von männlicher und weiblicher Ästhetik wirken Kunstlehrpersonen an der Herstellung einer vergeschlechtlichten künstlerischen Leistung mit. Solche kunstunterrichtlichen Handlungspraktiken führen zu einer Plausibilisierung und Routinisierung bei der Zuordnung von Geschlechterpositionen, was als kunstpädagogisches Differenzdilemma im Beitrag herausgearbeitet wird.
Im kunstpädagogischen Fachdiskurs wird – analog zum bildungswissenschaftlichen Diskurs – auf die kritische Reflexion von Leistungsdifferenzen vor dem Hintergrund ungleichheitstheoretischer (Sternfeld 2013), poststrukturalistischer (Kaiser & Brenne 2022a) und postkolonialer Rahmungen (Mörsch 2017) referenziert. Diese sind durch die Annahme verbunden, dass dominante kulturelle Vorstellungen über die ‚gute‘ und ‚anerkennenswerte‘ Leistung solche Diskurse leiten (Wagener 2020) – so auch mit Blick auf die ‚gute‘ und anerkennenswerte künstlerische Leistung (Kaiser & Brenne 2022b) – die auf der Ebene des Kunstunterrichts Einzelnen hierarchisierend im Modus von besser oder schlechter zugeschrieben wird (Stojanov 2011).
Als „Kern der pädagogischen Ordnung“ (Reh 2013: 674) entfaltet Leistung ihre Wirkmächtigkeit insbesondere in den unterrichtlichen Praktiken und solchen der Leistungsbewertung (Breidenstein & Thompson 2014). Diese insgesamt noch wenig beforschte performative Konstruktion von Leistungsdifferenz im Sinne der binären Unterscheidung von anerkennenswerter und weniger anerkennenswerter bzw. ‚guter‘ und ‚schlechter‘ künstlerischer Leistung entfaltet subjektivierende Wirkung – eben auch als schulisches Leistungsversagen (Ricken 2018: 53). Diesbezüglich wird vielfach auf habituelle Passungsprobleme und Hegemonien verwiesen, die sich auch in Formen des Klassismus, Rassismus oder Ableismus ausdrücken (Akbaba & Bräu 2019). Entsprechend sind Schüler*innen auch im Kunstunterricht beständig mit Verhaltens- und Leistungserwartungen konfrontiert (vgl. Nohl 2019: 29), die von ethnischen (Mörsch 2017), Geschlechter- (Lüth 2015) und Herkunftsdifferenzen (Sternfeld 2013) überlagert sind.
So impliziert das Denken und Sprechen über künstlerische Leistung zugleich auch das Nachdenken über Leistungsdifferenzen und hiermit verwobene Verständnisse von Normalität und Andersheit bzw. Normativität und Diversität, was sich in unterschiedlichsten (kunstpädagogischen) Theoretisierungen der Inklusion niederschlägt (Kaiser & Brenne, 2022a). Kunstpädagogisch stellt sich entsprechend die Frage, was als ästhetisch ‚normal‘ bzw. ‚abweichend‘ wahrgenommen wird und welche Normen diese Beurteilung lenken. Analog sind mit einem Blick auf die Diversität von Schüler*innen die Vorstellungen von Ästhetik, Normativität und der Umgang mit ihrer Diversität nicht unabhängig voneinander zu denken, denn die Annahme einer normativen künstlerischen Ästhetik als Voraussetzung für eine gezielte Förderung fachspezifischer Kompetenzen im Sinne des ‚Künstlerischen‘ bzw. ‚Nicht-Künstlerischen‘ impliziert, dass solche Unterscheidungen durch die kunstpädagogischen Akteur*innen selbst vorgenommen werden und auf einem fachimmanenten Diskurs beruhen (kritisch: Reichenbach & van der Meulen 2010). Es wird damit suggeriert, dass bereits vor der Rezeption und der Produktion von Kunst feststeht, wie der künstlerische Rezeptions- und Produktionsprozess individuell verlaufen wird. Dem geht somit eine gedankliche Entscheidung voraus, die auf spezifischen künstlerischen Normen beruht.
Die Kunstpädagogik hat es – so die These – mit einem ‚doppelten Mandat‘ zu tun, denn die Offenheit und Unbestimmtheit der Gegenwartskunst schließt zum einen unmittelbar an die Kontingenz des künstlerischen Prozesses selbst an (Engel 2015), zum anderen wird über Bestrebungen der Standardisierung von Kunstpädagogik und der gedanklichen Herstellung anerkennenswerter und weniger anerkennenswerter künstlerischer Leistung (Kaiser & Brenne 2022b) die Abweichung von kunstpädagogischen Normen erst markiert.
Der Umgang mit künstlerischen Leistungsdifferenzen ist im Kunstunterricht seit längerer Zeit und bis heute durch die kontinuierliche Reflexion und Rekontextualisierung differenter Bezugsnormorientierungen sowie hier anschließender Formen der Leistungsbewertung geprägt – ausgehend von einer naturalistischen Nachahmungslogik über die Bezugnahme auf Stufenmodelle der Zeichenentwicklung bis hin zur verstärkten Wertschätzung der Authentizität, Originalität und dem expressiven Gehalt der Werke im Kunstunterricht (Peez 2011). Als dominante Referenzen für kunstunterrichtliche Leistung erweisen sich – den aktuellen kunst- und subjektorientierten Ansätzen folgend – individuelle Entwicklungsnormen sowie kriteriale Maßgaben. Mit dem Geschmacksurteil ist jedoch auch die subjektive Evidenz von Beurteilenden angesprochen (Peez 2004), die vorgibt, sich im Sinne Kants (1790) über ein intersubjektives ästhetisches Empfinden, das mit einem spezifischen ästhetischen Phänomen in Zusammenhang steht, zu legitimieren. In Verflechtung mit den kulturtheoretischen Ausgangspunkten Bourdieus (1987) und den hiermit in Verbindung stehenden habituellen Orientierungen von Kunstpädagog*innen ist dieses dann allerdings zunehmend in die Kritik geraten (Otto 1972; Peez 2004). Dennoch nimmt die subjektive Evidenz nach wie vor erheblichen Einfluss auf die kunstunterrichtliche Anerkennung und Bewertung künstlerischer Leistung (Peez 2004), was einer intransparenten Form der Leistungsbewertung Vorschub leistet, bis heute aber gängige kunstunterrichtliche Praxis ist (Peez 2011).
Künstlerische Leistung sowie normative Vorstellungen von ‚guter‘ künstlerischer Leistung erweisen sich somit als verhandelbare Konstruktionen, die sich sowohl historisch als auch kulturell unterscheiden, denn offen bleibt, „welche Lernstandards intersubjektiv im Bereich der visuellen oder ästhetischen Literalität formulierbar sind“ (Busse 2004: 227), was abermals eine Zuspitzung in der Diskussion um Bildungsstandards und die Bedeutung übertragbarer und nachhaltiger Kompetenzen – im Gegensatz zu den früher anvisierten Lernzielen (vgl. die kunstpädagogische Diskussion: Wagner 2018) – findet. An dieser Stelle ist in besonderer Weise ablesbar, dass der Anerkennung und Förderung künstlerischer Leistung kollektiv geteilte Vorstellungen davon zugrunde liegen, was ‘gute’ künstlerische Leistung (im Kunstunterricht) ausmacht und wie diese am besten gefördert wird (Wagener 2020).
Der Kunstunterricht ist im Hinblick auf die Frage nach künstlerischer Leistung mit dem Paradox der allokativen und hierarchisierenden Funktion des schulischen Leistungsprinzips im Widerspruch zur Programmatik kunst- und subjektorientierter kunstdidaktischer Konzeptionen konfrontiert (Legler 1995; Schwerdtfeger 1960; Read 1957; kritisch Otto 1964, 1972). Gängige Kritik ist, dass die hierarchisierende und selektierende Funktion der Leistungsbewertung Prozesse von Einschließung und Ausschließung bzw. Normalität und Andersheit akzentuiert, wobei es in der Kunst gerade um eine Auflösung dieser dialektischen Positionen geht und vielmehr die Kontingenz, also die Unbestimmtheit, Ergebnisoffenheit und Ereignishaftigkeit des Künstlerischen als Bezugspunkt von Kunstunterricht, hervorgehoben wird (u.a. Engel 2015; Kaiser & Brenne 2020). Vor diesem Hintergrund wird die inklusive Weiterentwicklung von Kunstunterricht gefordert, in der Kunstdidaktik jedoch noch oft ohne die spannungsreiche Herausforderung der „Berücksichtigung“ oder „Nicht-Berücksichtigung“ von Differenz – insbesondere von Leistungsdifferenz.
Dieses Desiderat soll mithilfe einer praxeologisch-wissenssoziologischen Perspektive (Bohnsack 2021) aufgegriffen werden, indem gefragt wird, wie in kunstunterrichtlichen Praktiken von Kunstlehrkräften Differenzen bearbeitet und/oder hergestellt werden. Die mikroanalytische Betrachtung nimmt jene Praktiken und Prozesse in den Blick, vor deren Hintergrund soziale Realität – hier die Konstruktion und Bearbeitung von Leistungsdifferenzen im Kunstunterricht – hervorgebracht wird. Im Gegensatz zu anderen konstruktivistischen Perspektiven wird der fachliche und institutionelle Kontext mit den formalen Regeln des Systems Kunst und Schule, die es an seine Mitglieder stellt, nicht ausgeblendet: Künstlerische Leistungsdifferenzen werden als Ausdruck unterschiedlicher alltäglicher kunstunterrichtlicher Praktiken verstanden, in denen Differenzkonstruktionen in zwei nicht voneinander losgelösten Modi erfolgen, sowohl explizit, begrifflich, wie z. B. in Form verbaler Äußerungen, als auch implizit, also in körperlichen und sprachlichen Praktiken eingelagert (Bohnsack & Nohl 2001: 22). Diese Forschung fokussiert die letztgenannten Differenzkonstruktionen und ihre Bearbeitungsformen im professionellen Kunstlehrkräftehandeln.
Diesen wurde im Rahmen des Projekts ‚Leitbilder künstlerischer Leistung‘ nachgegangen. Hierzu wurden in Kooperation mit zehn Schulen des Sekundarbereichs in Niedersachsen, Bremen und Nordrhein-Westfalen sowie in Brandenburg und Berlin narrative Interviews (Schütze 2016) mit Kunstlehrkräften zu ihren Sichtweisen auf Diversität durchgeführt. In die Narration der ganz persönlichen Erfahrungen von Kunstlehrpersonen im Hinblick auf Leistung im Kunstunterricht, von der Förderung bis hin zur Anerkennung – so der Eingangsimpuls, sind Gefühle, Kognitionen und Selbstbeschreibungen eingebettet, während sich Beschreibungen von Handlungsabläufen auf die Darstellung von Wiederholungen, z.B. routinierten Handlungen, konzentrieren (vgl. Rosenthal & Loch 2002: 5). Damit werden Narrationen generiert, die es erlauben, situierte Handlungsabläufe, die hinführende Handlungsgeschichte und ex-post Bewertungen zu rekonstruieren (ebd.), zumal Sichtweisen auf Leistungsdifferenzen nur sehr bedingt durch die Interviewten selbst bewusst expliziert werden. Insofern geht das narrative Interview über reflektierte Alltagstheorien der interviewten Kunstlehrpersonen hinaus, indem es Erinnerungsprozesse und deren Übersetzung in sprachliche Narrationen provoziert (ebd.).
Das Datenmaterial wurde mithilfe der Dokumentarischen Methode analysiert (Nohl 2017), so dass implizite Sinnstrukturen rekonstruiert und fallübergreifende Sinnzusammenhänge mit dem Ziel der sinngenetischen Typenbildung aus dem Interviewmaterial herausgearbeitet wurden. Es bedarf des „Einblicks in das handlungspraktische Wissen und in die Eigendynamik der Interaktion und der habitualisierten Praxis“ (Bohnsack 2021: 120), da tiefer liegende Strukturen im konkreten Handeln nicht mehr bewusst sind, aber eine große Bedeutung für das Handeln der Personen im Feld haben (vgl. ebd.). Die Herstellung kunstunterrichtlicher Differenzordnungen entsteht somit im Vollzug von Unterricht und ist über die Erzählung und Beschreibung des Unterrichts zu rekonstruieren.
Der Umgang mit Differenz im Kunstunterricht stellte sich für Lehrkräfte des Faches Kunst auf besondere Weise als handlungsleitend heraus, da sich hierüber die geteilten Verständnisse zur eigenen Professionalität aktualisieren: Über die Analyse konnte herausgearbeitet werden, dass sich die Verwirklichung einer optimalen künstlerischen Leistung im Sinne der Transformation künstlerischer Begabungen in künstlerische Spitzenleistungen als zentrales Anliegen erweist und die Aushandlung der Kriterien für eine ‚optimale‘ künstlerische Leistung als erstrebenswerte Leitfigur in allen Interviews konstitutiv wird, was exemplarisch in der folgenden Interviewsequenz aufscheint:
„Und das war so ne Sternstunde (.) Da hat sie so sensationell gestisch gearbeitet, dass alle sagten: >Boa, was ist denn da passiert? Die ist gar nicht wiederzuerkennen< Und die hat mit der Veränderung eine der besten Abiturklausuren geschrieben von allen.“
(Frau Pfau, Z. 901-905, Gymnasium Hamburg[1])
Das sich hier dokumentierende Bestreben der Transformation künstlerischer Begabungen in künstlerische Spitzenleistungen erfährt in Bezugnahme auf den Kunstunterricht insofern eine neue Wendung, als sich das Zeigen einer optimalen künstlerischen Leistung an der professionellen Förderung differenter Leistungspotentiale ausrichtet und künstlerisch-ästhetische Prozesse als vergleich-, antizipier- und förderbar im Sinne der Optimierung verhandelt werden.
Dies spitzt sich im Hinblick auf den kunstunterrichtlichen Umgang mit Unterschieden, in besonderer Weise mit Blick auf die drei Vergleichsdimensionen
da sich die Anerkennung und Förderung einer optimalen künstlerischen Leistung über den Verdacht – nach oben und unten – von der Norm abweichender künstlerischer Leistungspotentiale konstituiert (s. Abb. 1).
Gemessen an ihren künstlerischen Leistungen werden Schüler*innen als ‚Andere‘ kenntlich gemacht und zum Identifikationsmoment für die kunstpädagogische Professionalität, so auch bei Frau Sperling, Fachlehrerin an einem Gymnasium in Oldenburg, die einer individualisierten Leistungsförderung einen besonderen Stellenwert einräumt:
„Also das war für mich einfach ganz toll diese vielseitige Begabung von Tom auch zu strukturieren und das dann so‘n geniales Ergebnis dabei rumkommt. […] Und ich bin auch noch ganz euphorisch, weil er jetzt gerade das Ok bekommen hat, dass er genommen wurde in Weimar.“
(Frau Sperling, Z. 475-525, Gymnasium Oldenburg)
Das Bestreben der Überführung künstlerischer Begabungen in künstlerische Spitzenleistungen aktualisiert sich sekundarstufenbezogen, denn es stellt sich hier verstärkt die Herausforderung, kunstunterrichtliche Förderung für die Schüler*innen zu gewährleisten und institutionell zu lenken, die aus Sicht der Lehrpersonen hiervon besonders profitieren – beispielsweise um ein Kunststudium aufnehmen zu können. Ebenso wie race, class und gender scheint auch Leistungsheterogenität als eine von außen kommende ‚Tatsache‘ in der Wahrnehmung von Kunstlehrkräften gesetzt zu sein und in der binären Unterscheidung von ‚guter‘ und ‚schlechter‘ respektive ‚anerkennenswerter‘ und ‚weniger anerkennenswerter‘ Leistung zu operieren. Dieses Verständnis künstlerischer Leistung spiegelt sich alle Dimensionen übergreifend wider.
In allen Interviews hat sich als besonders interessant herausgestellt, dass die Bilder und Ordnungen ‚guter‘ Schüler*innen überlagert sind von genderbezogenen Thematisierungen. Aus diesem Grund soll im Weiteren nicht auf die Vergleichsdimensionen des kunstunterrichtlichen Umgangs mit künstlerischer Leistung eingegangen werden, sondern es sollen dominante genderbezogene Aktualisierungen der Thematisierung von Leistungsdifferenz präsentiert werden, die hier eine Querlage bilden. Hierzu wird exemplarisch für die Studie eine längere Interviewsequenz von Frau Drossel, Lehrerin an einer Gesamtschule in Tuttlingen, angeführt:
„Letztes Jahr haben wir dann ne abstrakte Plastik, die eine innere Eigenschaft, die mich antreibt, gemacht und dabei sind tolle Sachen rausgekommen. Also, Yannik zum Beispiel, der hat da n Wahnsinnsding hingezaubert. Ne ungegenständliche stark abstrahierte Plastik. Boah, das war großartig. Eigene Befindlichkeiten in so’ne symbolische Sprache zu gießen und nicht total platt zu werden. Also nicht zu sagen, so und dann mach‘ ich wieder die Herzchen und Blümchen da rein […] Und wie hab‘ ich dann, sag‘ ich mal, nen bestimmten Abstraktionsgrad und so ne übergeordnete formale Ebene gefunden, dass es eben nicht so platt ist. Aber da hab‘ ich mich mit Rumholzen bei den Noten mehr als zurückgehalten. Und wenn sich die Mädels da echt super Mühe gegeben haben und trotzdem musste dann das dicke Herzchen da rein oder das Blümchen, dann hab‘ ich echt gesagt, das ist trotzdem gut, weil die können das nicht besser, die ist, mein Gott, das Kind ist n sechszehnjähriges Mädel. So. Und dann is‘ n Herzchen und Blümchen jetzt einfach @das Symbol schlecht hin@ die malen sich das dann ja auch immer noch überall hin […] Da kann ich doch nicht reingrätschen und sagen >nee, du musst das jetzt sehen wie‘ n echter Künstler<.“
(Frau Drossel, Z. 379-398; Gesamtschule Tuttlingen)
Am exemplarischen Fall wird der implizite Bedeutungsgehalt, ‚gute‘ Kunst sei männliche Kunst, aufgezeigt. Elaboriert wird dieser Orientierungsgehalt anhand eines Beispiels aus dem Kunstunterricht, welches auf eine ‚ungegenständliche, stark abstrahierte Plastik‘ des Schülers Yannik als Beispiel einer optimalen, ja geradezu ‚wahnsinnigen‘ künstlerischen Leistung rekurriert und einführend die Trias ‚guter‘ künstlerischer Leistung, Ungegenständlichkeit und Männlichkeit herstellt. Im Weiteren wird dieser Zusammenhang ausdifferenziert, wenn Frau Drossel thematisch macht, ‚Mädchen könnten keine Kunst‘ und hierüber die Reichweite dieser Trias über den gegenläufigen Horizont des ‚platten‘, detailliert-emblematischen künstlerischen Arbeitens einschränkt. Weiterbearbeitet wird dieser Orientierungsgehalt, wenn Frau Drossel dann argumentiert, dass ein gewisser Abstraktionsgrad, wie an Yanniks Arbeit ablesbar, Ziel optimaler künstlerischer Leistung sei, sie jedoch die Grenzen dieses Ziels insofern aufwirft, als sie sich mit dem ‚Rumholzen‘ bei den Noten doch stark zurückhalte, wenn die Mädchen dieses Ziel nicht erreichten. Hinter dem Begriff des Rumholzens scheint die Redewendung der ‚Axt im Walde‘ zu stehen. Es dokumentiert sich in diesem Ausdruck, dass Frau Drossel eine entsprechende Konnotierung der eigenen Professionalität ablehnt.
Im Folgenden tritt dann die Vorstellung, Jungen seien die ‚guten‘ Künstler, konturierter hervor, wenn Frau Drossel als negativen Gegenhorizont zur ungegenständlichen Leistung von Yannik die mit Herzchen und Blümchen verzierten Arbeiten der Gruppe der Mädchen beschreibt, die auf barmherzige Weise Verständnis der Lehrperson verdienen, da sie es ‚mein Gott‘ nicht ‚besser können‘. In antithetischer Weise entwirft Frau Drossel das Bild des sechzehnjährigen Mädchens, das aufgrund der peerkulturellen Prägung auf eine entsprechende Ikonografie zurückgeworfen ist, die in den 1990er Jahren als „Mädchenästhetik“ (Kämpf-Jansen 1991) diskutiert wurde, und die symbolisch steht für das Kitschige, das in den künstlerischen Habitus inkorporiert ist. Hier wird das generelle So-Sein einer gesamten Gruppe herausgestrichen.
Divergierend zur männlich konnotierten Position des echten Künstlers kann von den Mädchen eine solche Leistung nicht abverlangt werden. Doch gilt es eben ihre Peerkultur zu schonen, anstatt diese anzutasten – hier ‚reinzugrätschen‘. Dies impliziert im Sinne einer Zwei-Gruppen-Theorie der Mädchen und der Jungen zunächst eine den Rollenerwartungen entsprechende kunstdidaktische Behandlung: Die Etablierung eines ‚Schonraums‘ für eine scheinbar anti-künstlerische Ikonografie der Mädchen bzw. eine Förder-Forderlogik einer Mädchen-und-Jungen-Kunstpädagogik.
Späterhin im Interview wird die Betonung des Nicht-Künstlerischen relativiert, wenn Frau Drossel hervorhebt, dass dieses Merkmal kein unveränderliches sei:
„Also, dass sie dann wirklich ganz viel so klein-futzelig arbeiten, dass das Gesamte aus dem Blick kommt. Die Jungs sind dann eher so das Genie im Chaos. Aber ich hab‘ das Gefühl, die Mädchen sind insofern auch lernfähig, dass das besser werden kann, wenn man ihnen dann zeigt, wie’s gehen kann und sagt >So wie du’s machst, macht’s kein Künstler<.“
(Frau Drossel, Z. 676-680; Gesamtschule Tuttlingen)
Im Spannungsfeld der Berücksichtigung und Nicht-Berücksichtigung von Differenz aktualisieren sich Zuschreibungsprozesse entlang der Kategorie Geschlecht, was mit Hagemann-Whites (1984) Konzeptualisierung von Doing Gender als die Vergeschlechtlichung von künstlerischer Leistung herausgestellt werden kann. Die soziale Konstruktion von Geschlecht als eine in Strukturen geronnene Zweigeschlechtlichkeit (Bourdieu 1997) bleibt übersehen. Durch die sich aktiv wiederholende Bezugnahme auf diese im Diskurs eingelassene Struktur der Binarität von männlicher und weiblicher Ästhetik wirken Kunstlehrpersonen dann selbst an der Herstellung einer vergeschlechtlichten künstlerischen Leistung mit. Solche kunstunterrichtlichen Handlungspraktiken führen zu einer Plausibilisierung und Routinisierung bei der Zuordnung von Geschlechterpositionen, was als kunstpädagogisches Differenzdilemma hervorzuheben ist.
Mit dieser genderbezogenen Konfiguration von künstlerischer Leistung ist eine Ontologisierung künstlerischer Leistungsfähigkeit verbunden, die bei Schülerinnen zu einem Ausschluss aus dem Wettbewerb mit ihren Mitschülern führen und im Zuge dessen mit der Absprache einhergehen kann, sich leistungsfähig zu zeigen und damit ihren Status mädchenhaft konnotierter Kunst zu verlassen. Geschlecht wird somit im Kunstunterricht zu einem Ort der Re-Installation binärer Zweigeschlechtlichkeit – ganz im Gegensatz zu den Erfordernissen einer an ‚inclusion and sustainability‘ (UNESCO 2019) ausgerichteten Gesellschaft.
Künstlerische Leistung ist – so kann resümiert werden – keine feststehende Sinneinheit, sondern wird in fragilen kunstunterrichtlichen Handlungspraktiken genderbezogen zugeschrieben. Leistungsdifferenzen und ihre genderbezogenen Überlagerungen können begriffen werden als im konkreten Unterricht hergestellte Unterschiede, die mit Bedeutung versehen werden und als unterrichtliche respektive schulische Ordnungen wirken. Solche Konzeptionen können somit als Ordnung des professionellen Kunstlehrpersonenhandelns gedeutet und theoretisiert werden, die den Akteur*innen vorgängig ist und zugleich in der Wiederholung, dem Wiedereinsetzen dieser Ordnung, durch die Akteur*innen selbst fixiert wie auch transformiert wird.
Wünschenswert – ja notwendig – wäre deshalb ein stärker strukturbezogener Blick, der die Wirkmächtigkeit des kunstwissenschaftlich und -pädagogisch abgesunkenen Wissens um kunstunterrichtliche Differenzordnungen und die in ihnen fundierten Zuschreibungen und Erwartungen systematischer begreift. Dies wiederum wäre Voraussetzung dafür, Schüler*innen und Lehrpersonen im Kunstunterricht davor zu bewahren, in den immer gleichen Modus geschlechtsbezogener (Selbst-)Zuschreibungen einzutreten.
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