Ausgehend von meinem künstlerischen Umgang mit mich umgebenden Bildern versuche ich hier, den aus Bildkombinationen bestehenden visuellen Diskurs – meinen bildlichen Forschungsprozess – mit Sprache zu flankieren, theoretische Verbindungen herzustellen, Zwischenräume wahrzunehmen, um sie herum weiterzuspinnen. Solch ein Gespinst stelle ich hier vor.[1]
Dabei handelt es sich um ein Experimentierfeld, das ständig neue Formen annimmt und keineswegs durchdacht ist, sondern fragwürdig bleibt. Es kann sich immer wieder ein neues Möglichkeitsfeld für Sinngebungsprozesse öffnen, insofern einmal gefundene Fixpunkte nur eine begrenzte Haltbarkeit und begrenzten Halt vermitteln, bevor sie aufgrund eines neuen Bildeinfalls erweitert, umgebaut oder auch transformiert werden.
Die visuelle und die sprachliche Ebene laufen dabei für mich teilweise parallel, driften auseinander, überholen sich gegenseitig, wiederholen sich oder biegen einfach ab. Es handelt sich um eine mehrfach gewendete Anwendung (vgl. Pazzini et al. 2000). Bilder wenden sich an Bilder und an Text und Textpassage wendet sich an Textpassage und wiederum an Bilder. Manches rauscht sicher auch an dem einen oder anderen vorbei. Während des Vortrags habe ich bewußt die gleichzeitige Mehrspurigkeit von Bild und Text als Versuchsanordnung betrachtet – auch mit dem Hintergedanken auf zukünftiges Forschen. Jetzt im Medium Buch möchte ich allerdings die Text- und Bildspur entwirren und nacheinander präsentieren.
Die Eigenlogik des Bildlichen[2] bildet für mich eine Basis, von der ausgehend es mir nicht um ein vergleichendes Sehen von Bildern, sondern um eine Form von Bilderfahrung geht, die auch Zwischenräume, Leerstellen, Fremdes und Unsichtbares wahrnehmen lässt – ein Sehen in Bildern (vgl. Waldenfels 2010: 66 f.) und besonders auch in Bildzwischenräumen. Die Produktivität dieser ganz eigenen Bildlogik, die gerade nicht der Logik des gewohnten Denkens und der Sprache entspricht, möchte ich gern im Zusammenhang mit sich verändernden Welt- und Selbstverhältnissen in den Blick nehmen und vor diesem Hintergrund Theorieansätze von Bernhard Waldenfels (2010), Rainer Kokemohr (2007), Hans-Christoph Koller (2012) und Karl-Josef Pazzini in Verbindung bringen.
Ein Bild habe ich zu Beginn als gesetzt betrachtet: Es ist Caravaggios Der ungläubige Thomas, das mich in digitaler Form mit der Einladung zur Tagung anlässlich Karl-Josef Pazzinis Emeritierung erreichte. Davon ausgehend habe ich gesponnen – sowohl auf einer Bildebene, als auch gedanklich-sprachlich. Beides versuche ich jetzt – sehr verkürzt und sortiert – zu rekonstruieren.
Der ungläubige, zweifelnde Thomas bei Caravaggio ist noch nicht überzeugt von Jesu Auferstehung, hat aber schon eine Ahnung, der er nachzugehen versucht. Der Bibeltext (vgl. Joh. 20, 24-29) lässt offen, ob allein Jesu Präsenz überzeugend wirkt oder ob, wie es hier ins Bild gesetzt wird, erst das handgreifliche Untersuchen der Wunde die Thomas-Figur anders sehen und denken lässt (vgl. Sabisch 2014). Er zeigt genau den Moment der Versicherung, der zwischen der vorherigen Verunsicherung, aufkeimender Ahnung und der darauf folgenden sicheren Gewissheit stattfindet. Dabei ist Jesus nur der Platzhalter des tatsächlich Unglaublichen, Unfassbaren. Und so bleibt auch im Rahmen dieser drastischen Darstellung des ungläubigen Thomas das eigentlich Zweifelhafte weiterhin unbegreiflich (vgl. Meyer 2002: 245 f.).
Mit der Bekehrung des Paulus setzt Caravaggio noch etwas früher in dem zuvor skizzierten Prozess der Bildung von Gewissheit an und zeigt den Moment direkt nach der Verstörung. Nur ein schwaches Licht in der rechten oberen Ecke des Bildes deutet hier auf den Auslöser der Erschütterung hin. Auch hier scheint er um besonders dramatische Momentaufnahmen einer umwälzenden Entwicklung, Wendepunkte, Schlüsselerlebnisse, unfassbare Zwischenräume innerhalb des Geschehens zu kreisen, die eben nicht greifbar sind. Auch hier wird der zugrundeliegende religiöse Text nicht illustriert, sondern das Thema neu und anders aufgefasst, Ungesagtes kommt vor, die „Bildlichkeit von Bildlosem“ (Waldenfels 2010: 121), Zwischenräume spielen eine Rolle.
Dieser Moment des Stillstandes, des Atem-Anhaltens, der Leere bzw. des Zwischenraumes zwischen einem auslösenden Schlüsselereignis und einer sich daraus ergebenden Reaktion oder Antwort lässt mich an Aspekte von Bildungsprozessen im Sinne der transformatorischen Bildungstheorie von Rainer Kokemohr und Hans-Christoph Koller denken. Kokemohr und Koller wiederum greifen im Rahmen der transformatorischen Bildungstheorie u. a. den phänomenologischen Erfahrungsbegriff von Bernhard Waldenfels und das bei Jacques Lacan durch die drei Register des Imaginären, Symbolischen und Realen hervorgerufene prozesshafte Subjekt auf.
Kokemohr und Koller beschreiben eine grundlegende Veränderung, aufgrund der sich das beteiligte Subjekt auf der gleitenden Signifikantenkette kon- und refiguriert (vgl. Kokemohr 2007: 17-18). Die Auslöser solcher Veränderungen sieht Kokemohr in widerständigen Erfahrungen, die nicht in die aktuelle Kette der Bedeutungszuschreibungen integrierbar sind, sondern das Verhältnis von Subjekt und Welt beiderseits verändern. Diese Transformation, die das alte Ordnungssystem in ein neues verwandelt, kann auf das Subjekt bezogen als ein „Andersdenken oder Anderswerden“ (vgl. Koller 2012: 9) verstanden werden.
Die Konzeption der Transformation aufgrund einer widerständigen Erfahrung greift auf Waldenfels Verständnis von Erfahrung als einem Doppelereignis aus Pathos und Response, bzw. Widerfahrnis und Antwort (vgl. ebd.: 111) zurück. Zwischen Pathos und Response setzt Waldenfels die Diastase, die die beiden Teilbereiche einer Erfahrung gleichzeitig trennt und verbindet, indem sie auf die Vorgängigkeit eines Ereignisses und die Nachgängigkeit einer Antwort verweist. Das vorgängige Widerfahrnis beschreibt Waldenfels als eine Störung des Gewohnten, die unverhofft aus der Bahn wirft, den Erfahrungshorizont durchbricht und damit in verstörendem Kontrast zu unseren Erwartungen steht – aber gleichzeitig auch den Möglichkeitsraum für etwas Neues öffnet. Solch eine Erfahrung von radikal Fremdem kann nach Waldenfels schnell auch Widerstand hervorrufen (vgl. ebd.: 110). In solchen Fällen kann eine Fremdheitserfahrung abgewehrt bzw. verdrängt oder auch abgeschirmt, relativiert bzw. im Rahmen eines Exotismus in ihr Gegenteil verkehrt d. h. gerade willentlich gesucht und damit abgemildert werden (vgl. ebd.: 297).
Eine Alternative zu solch einer abwehrenden Haltung sieht Waldenfels in einer Reaktion des kreativen Antwortens (vgl. Waldenfels 2013: 49), welche stattdessen aus einer Haltung der innovativen Aufmerksamkeit resultiert (vgl. ebd.: 45 und Waldenfels 2010: 115). Diese Art der Aufmerksamkeit liegt zwischen aktivem und passivem Verhalten[3] und ermöglicht ein Betroffensein und Ergriffenwerden des Subjektes aufgrund eines Widerfahrnisses (vgl. Waldenfels 2010: 294-295). Waldenfels spricht einerseits von sekundären Erfahrungen, die im Sinne von Lernen repetitive und reproduktive Prozesse auslösen, und von primärer Aufmerksamkeit (vgl. Waldenfels 2010: 115), die ich als durchlässig und empfänglich für bestimmte starke Formen des Pathos verstehe und die deshalb Umstrukturierungs- und Bildungsprozesse begünstigen kann. Im Falle des Zusammentreffens von einem Widerfahrnis und primärer Aufmerksamkeit kann das Subjekt in das Denken öffnendes Staunen, Verwunderung oder Überraschung versetzt und letztlich das Überschreiten von gewohnten Grenzen angeregt werden. Eine in diesem Sinne grenzüberschreitende Antwort auf ein Widerfahrnis muss notwendigerweise von einem neuen, bisher undenkbaren Ort her artikuliert werden (vgl. ebd.: 157) – trotzdem handelt es sich auch in diesem Fall nicht um eine endgültige Beruhigung möglicher Verstörungen, sondern um eine nur vorübergehend gültige Mitteilung, die ihrerseits jederzeit wieder in Frage gestellt werden kann. Aber: Der Horizont weitet sich und Neuland kommt in der Ferne in Sicht. Aus immer neuen Antwortversuchen kann sich ein Prozess des Weg-Suchens und Weg-Findens ergeben, welcher nicht ziellos abläuft, aber immer, ohne das anvisierte Ziel endgültig zu erreichen – weil die Antwort zwar immer jetzt stimmt, aber gleich schon ihre Gültigkeit verlieren kann.
Bezogen auf Bilder beschreibt Waldenfels ein Widerfahrnis als etwas, das man nicht sehen und sich auch nicht vorstellen kann, etwas Fremdes, außerhalb Liegendes. In dem hier zugrunde liegenden Verständnis des Sehens in Bildern kann ein Bild (oder mehrere Bilder und deren Zwischenräume), aus dem heraus uns ein Blick trifft, quasi „Fragen stellen“ bzw. ein Widerfahrnis darstellen und dementsprechend nach Antworten verlangen, die (noch) nicht „auf der Hand liegen“, sondern erst aus einem neuen Selbst- und Weltverständnis heraus möglich sind. Stehen zwei jeweils für sich les- und denkbare Bilder in einem ungewohnten, verwunderlichen oder sogar verstörenden Zusammenhang, wird die gewohnte Wahrnehmung des Betrachters angehalten und zu einer neue Zusammenhänge ermöglichenden Antwort herausgefordert. Die vom Betrachter zu füllende Leere des Zwischenraums zwischen den Bildern und zwischen ihnen und dem Betrachter scheint mir Ähnlichkeiten zu der Diastase zwischen Pathos und Response bei Waldenfels aufzuweisen. Caravaggios Bildideen wiederum verstehe ich als ein Kreisen um eine Diastase bzw. den Versuch, den Moment der Verunsicherung oder Leere – den Moment Dazwischen – sichtbar oder vorstellbar werden zu lassen. Fragt man anhand des Erfahrungsbegriffes von Waldenfels und anhand der transformatorischen Bildungstheorie nach Auslösern von Bildungsprozessen, also nach Widerfahrnissen, stellt sich heraus, dass Bildungsprozesse, bewusst oder unbewusst, oftmals erst weit zeitversetzt oder auch gar nicht, jedenfalls im Unsichtbaren stattfinden und nur schwerlich, in jedem Fall nachträglich und immer nur mutmaßlich bis zu einem auslösenden Ereignis rekonstruiert werden können. In diesem Sinne sehe und deute ich, ausgehend von Pazzini, Caravaggios Bild.
Obwohl die Fremdheitserfahrungen anlässlich eines Widerfahrnisses subjektiv wahrgenommen und beantwortet werden, nennt Waldenfels einige Empfindungen, die nachträglich auf die Erfahrung eines Widerfahrnisses schließen lassen, wie z. B. Irritation, Verwirrung, Überraschung, Staunen, Verwunderung. Die diesen Empfindungen gemeinsame Plötzlichkeit, Gewalt und Aggressivität provoziert dementsprechend Widerstand und Abwehr, sodass nur wer interessiert ist, sich also mutig dazwischen begibt, sich auch tatsächlich wundern kann. Intuition im Sinne einer Witterung, eines prä-rationalen Gefühls, spielt dabei eine Rolle und das Anhalten von gewohnten Wahrnehmungsmustern – dann können aus der Verwunderung heraus Ahnungen und Einfälle entstehen, die ein Überschreiten der bewährten Seh- und Denkgewohnheiten erst ermöglichen.
Es geht also um Offenheit oder eine Art verwunderungs- also bildungsbereite Haltung, die zwischen Aktiv und Passiv, zwischen Suche und Desinteresse liegt (vgl. Waldenfels 2010: 110). Waldenfels beschreibt eine Durchlässigkeit und Empfänglichkeit für starke Formen des Pathos. Er plädiert für ein Anhalten der gewohnten, identifizierenden Wahrnehmung, wenn es um Bilder geht, ein Anhalten unseres pragmatisch, historisch und ästhetisch vorgeprägten Bilderblicks, um Prozesse der Entbildlichung und Entrahmung anzuregen (vgl. ebd.: 51). Und ganz ähnlich fordert Pazzini eine „Absage an Dauervigilanz“ – solch eine Haltung eröffne einen riskanten, aber riskierenswerten Zwischenraum, in dem Unsichtbares sichtbar werden könne (vgl. Pazzini 2013b). Dieser vorgelagerte Zwischenraum im Sinne einer grundsätzlich verwunderungsbereiten Aufmerksamkeit könnte einem Widerfahrnis womöglich zum Durchbruch verhelfen und somit ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Trotzdem bleiben solche Einfälle oder Einbrüche nicht plan- oder sogar inszenierbar, können laut Waldenfels nicht allein auf unser Vermögen zurückgehen, sondern müssen uns ergreifen (vgl. Waldenfels 2010: 110). In diesem Sinne fühlt sich wohl auch Thomas von Jesus ergriffen, ist gerührt und möchte dieses Unbegreifliche zu gern berühren – was aber eigentlich unmöglich bleiben muss. Thomas’ Getroffen-Werden ist an seinem Gesicht abzulesen – Jesus, als unfassbares Widerfahrnis, wirkt dagegen eher unberührt. Es scheint, als hätte Caravaggio Thomas’ inneren Prozess der Überzeugung für uns sichtbar nach außen gekrempelt. Immerhin zieht das Geahnte, aber trotzdem Unfassbare Thomas unwiderstehlich an – auch wenn er seine Hand von Jesus führen lässt. Es scheint eine grundsätzliche Veränderung mit Thomas zu passieren, die sein gewohntes Denk- und Ordnungssystem zu einem neuen werden lässt.
Die Definitionen des Bildungsprozesses nach Kokemohr und Koller sowie die des Pathos bzw. Widerfahrnisses innerhalb des Erfahrungsbegriffes bei Waldenfels weisen Übereinstimmungen mit Pazzinis Charakterisierung von Wundern auf. Es ist die Rede von Überschüssen, zukünftigem Wünschen, Mut, Irritation, dem Übersteigen normaler Vermögen, Aussetzern, Disziplinlosigkeit, Ungewolltem, neuen Zusammenhängen und bildenden Operationen (vgl. Pazzini 2013a).
Hergestellte Wunder sollen nach Pazzini im Gegensatz zu religiösen Wundern nicht einen Glauben an Gewissheiten festigen, sondern über Irritationen die Überzeugung von zukünftigen Möglichkeiten erzeugen. So können, laut Pazzini, durch Wunder Erzählungen entstehen, die neue Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten ausdrücken – und insofern auf das Antworten innerhalb des Erfahrungsbegriffes von Waldenfels verweisen.
Wenn Wunder so als ein Teil transformatorischer Bildungsprozesse gesehen werden müssen, erhoffe ich mir von Pazzinis Aufzählung von Entstehungsbedingungen von Wundern Hinweise auf Auslöser von transformatorischen Bildungsprozessen. Es gelte, „momenthaft Verdrängung aufzuheben“ und „die Wiederholung auszusetzen“, „den Trieb anzuerkennen als etwas, das unausweichlich einer Repräsentation bedarf“ und „dabei das Unbewusste zu streifen“ vielleicht mittels Intuition (vgl. ebd.).
Um sich also verwundern lassen zu können, muss die Schleife der Wiederholungen, wie sie z. B. das wiedererkennende Sehen eine ist, durchbrochen, müssen Abwehrmechanismen zum Teil außer Kraft gesetzt werden mittels kreativer Aufmerksamkeit oder einem Ausklinken aus einer Daueraufmerksamkeit. Dabei kann laut Pazzini eine Brücke der Suggestion helfen, die in die Zwischenräume in und um das Gesehene und Gesagte entführt, wobei das Wünschen und Begehren aller Beteiligten eine Rolle spielt (vgl. Pazzini 1999: 6). Wenn ich unter Suggestion eine Methode der Verwunderung bzw. Durchbrechung von Gewohntem und insofern Grenzöffnung im Sinne des Erfahrungsbegriffes nach Waldenfels verstehe, stelle ich sie mir vor wie das Eröffnen eines Zwischenraumes, der gewohnte Sicherheiten aufs Spiel setzt. Die Leere in dem Entstandenen Zwischenraum kann Angst auslösen, aber auch Neugierde und Verantwortung wecken (vgl. Pazzini et al. 2000: 39 ff.). Damit Suggestion aber überhaupt erst möglich wird, muss seitens des zu Verführenden die beschriebene Verwunderungsbereitschaft, also eine entspannte Aufmerksamkeit oder, wie Pazzini es auch nennt, eine „aktiv-passive“ oder auch „aktiv-rezeptive Haltung“ (Pazzini 2000: 10) vorhanden sein. Und auch dann kann es nicht darum gehen, Wunder produzieren und z. B. den Schüler*innen präsentieren zu wollen, sondern darum, durch ein Zusammenspiel von Verfremdung und Verwunderung innerhalb eines Zwischenraumes, der wie ein „Spalt des Außeralltäglichen“ (Waldenfels 2010: 132) erscheint, eine „Weckung von Wunderbarem“ (Waldenfels 2013: 49) anzuregen.
Aber was geweckt werden kann, muss ja schon irgendwie da sein als eine Art Vorgefühl für das Kommende, eine Ahnung. Ahnend bin ich noch nicht in der Lage, von einem anderen Ort aus zu antworten, aber dieser Ort taucht unscharf und unerwartet am Horizont auf. Noch bleibt alles offen, darin steckt das Potenzial – ein Möglichkeitspotenzial für Bildung.
Waldenfels beschreibt diese ahnungsvolle Vorstufe als Limbus der Erfahrung, während der die Intuition und die Imagination uns bis dahin ungekannte innere Bilder vor unser geistiges Auge führen (vgl. Waldenfels 2010: 23). Er entlehnt den Begriff von der Bezeichnung der Vorhölle als Limbus, wobei es sich dabei, wie auch die Erfahrung betreffend, wieder um einen Zwischenraum für unentschiedene, offene Fälle handelt.
Treffen solche in Zwischenräumen schlummernden Ahnungen auf unstillbares Wünschen, welches laut Pazzini durch Wunder oder Verwunderung geweckt wird, gibt es kaum noch ein Halten (vgl. Pazzini 2013a: 103). Es passiert etwas[4]. Zwischenräume wie beispielsweise die Leere, um die herum Bildung stattfindet, die Lücke der Diastase zwischen Pathos und Response, der Raum zwischen Bildern wie auch der Spalt im Subjekt selbst zwischen Sehendem und Gesehenem können dabei je anders als Anlässe von Bildungsprozessen fungieren.
Momentan, zu Beginn meiner pädagogischen Schulpraxis, jongliere ich mit Begriffen wie Lernzielorientierung, Kompetenzerwerb, Binnendifferenzierung, Transparenz, Effizienz und Ergebnissicherung … – und halte gleichzeitig Ausschau nach Zwischenräumen für Entsicherungsmomente und haltloses Staunen. Ich frage mich: Wie kann ich in der Schule zusammen mit Schüler*innen über Bildkombinationen (und Bildung) forschen, an Ein- und Entbildungen arbeiten, Leerstellen eröffnen – und dann auch so stehen lassen? Wie finde ich die passende Dosierung von Störungen, damit die Schüler*innen nicht bloße Irritation und Blockade oder sogar Bestärkung in ihrem Denken aus einer Abwehrhaltung heraus erfahren, sondern eine Öffnung möglich wird? Wie kann ich selbst im Schulalltag entspannt aufmerksam bleiben, „Spalte des Außeralltäglichen“ (vgl. Waldenfels 2010: 132) erkennen und nutzen und auch auf Seiten der Schüler*innen eine bildungsbereite Haltung und Ahnungen provozieren? So langsam beginnt sich eine Ahnung zu bilden, wie das gehen könnte – ich erhoffe mir aber weiterführende Einfälle.
Und in diesem Sinne hoffe ich, Herrn Pazzini weiterhin häufig zu begegnen. Meist wahrscheinlich in Form von anregenden Äußerungen oder Texten – wie B. während all der Jahre meines Studiums, ab und zu auch „in der Zeitung“, gestern ganz unerwartet anhand eines Literaturtipps unter Referendaren oder wie beim Schreiben dieses Textes in Form eines 14 Jahre alten Ausdrucks eines Textes mir unbekannter Herkunft in einem Ordner aus meinem Regal:
Ein ganz anderer Zusammenhang, aber: Irritation, Verwirrung, in-Frage-Stellung, Umorientierung, Bewegung. Pazzini sei Dank.
[1] Der Text geht dabei auch auf Überlegungen aus meiner schriftlichen Examensarbeit im Fach Erziehungswissenschaft zurück, die Karl-Josef Pazzini als Erstgutachter betreute: Fugen- und Naht-Bildung: Metaphern gegenwärtiger Subjektkonstitution, Universität Hamburg 2014.
[2] Damit beziehe ich mich z. B. auf die Bildbegriffe von Max Imdahl, Aby Warburg, Bernhard Waldenfels, Gottfried Böhm und Georges Didi-Huberman.
[3 ] Waldenfels’ primäre Aufmerksamkeit sehe ich in einem Zusammenhang mit Pazzinis „Absage an die Dauervigilanz“ (vgl. Pazzini 2013b) und der von ihm beschriebenen „aktiv rezeptiven Haltung“ (vgl. Pazzini 2000: 10). Michaela Ott spricht davon, dass Verwunderung auf eine „passiv-aktive Beweglichkeit der Vermögen“, auf eine Fähigkeit zur Aussetzung automatischer Reaktion bzw. auf schweifende Aufmerksamkeit angewiesen ist (vgl. Ott 2014: 13).
[4] Von passer: von einem Ort zum anderen gehen, überqueren, sich ereignen.
Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.