Curators at Work. At School. Überlegungen zum Lernpotenzial kuratorischer Praxis im Unterricht

Ausgangslage – Material orten, Schatz heben

Seit 1987 gibt es den Prix Ars Electronica, einen internationalen Medienkunstpreis in unterschiedlichen Kategorien. 1998 wurde die Kategorie „u19 – freestyle computing“ initiiert, die als nationale Nachwuchsförderinitiative konzipiert war, 2011 zu „u19 – CREATE YOUR WORLD“ wurde und nach wie vor jährlich für Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre in Österreich ausgeschrieben wird. Dabei „war nie daran gedacht, eine ‚Ach ist daaas putzig‘- Kategorie zu schaffen, sondern die Idee war, den kreativen Ausformungen junger Menschen eine professionelle Plattform zu geben“ (Amann 2008: 320). Thematisch ist alles gefragt, was mit der Gestaltung von Gegenwart und Zukunft zu tun hat, medial sind keine Grenzen gesetzt. So spannen die Einreichungen einen Bogen von fiktionalen Konzepten über Prototypen bis zu ‚fertigen‘ Arbeiten bzw. Produkten, von frühen Computeranimationen und -spielen über Do-it-yourself-Prothesen bis zu realisierten kreativen Industrie-4.0-Konzepten.

Aufgrund der ursprünglichen institutionellen Konstellation, vor allem aufgrund der Involvierung des Österreichischen Rundfunks (ORF), ist Ars Electronica von seinen Anfängen an gut dokumentiert. Nun existieren etwa 60.000 physische Archivalien sowie ein digitales Archiv, in dem unter anderem alle Einreichungen für den Prix Ars Electronica, darunter 7.023 aus der Kategorie „u19“, öffentlich im Internet zugänglich sind. Eine unglaubliche Fülle an Material, die es eben gibt, die aber nicht weiter in aktivem Gebrauch zu sein scheint. Ein häufiger Eindruck von Archiven? Während meiner früheren persönlichen Mitarbeit am Ars Electronica Festival entstand die Lust, einen kleinen Schatz zu bergen, der eigentlich nicht geborgen zu werden braucht, weil er ohnehin offenliegt, dennoch zu schlummern scheint.

Wie wäre es also, die vorhandenen u19-Projekte seit 1987 als Materialsammlung für (schul-) pädagogische Arbeit wahrzunehmen? In diesem Text wird insbesondere darauf spekuliert, sie als Ausgangspunkte für ausstellerische Auseinandersetzungen produktiv nutzbar zu machen. Die Idee ist also nicht ein Ausstellen von u19-Projekten, sondern ein kuratorischer Prozess und ein Ausstellen ausgehend von u19-Projekten in der Schule. Dabei schwingen stets Fragen danach mit, was wie von wem gewusst oder wodurch erkannt werden kann bzw. soll und was derartige Überlegungen für Anforderungen an Lehrer*innenbildung bedeuten könnten.

Der hier vorliegende Beitrag soll einen Einblick in eine Forschungsarbeit bieten, die 2015 zum Abschluss der Lehramtsstudien in Mediengestaltung und Bildnerischer Erziehung an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz eingereicht wurde. Um die hier verwendete Auffassung von Ausstellung zu fassen zu kriegen, werden zunächst fragmentarisch entsprechende kuratorische Konzeptionen vorgestellt. Nachfolgend wird Helga Kämpf-Jansens Konzept der Ästhetischen Forschung als Grundlage für fachdidaktisch pädagogische Überlegungen umrissen, ehe dann Lehrplanbezüge hergestellt und abschließende Überlegungen zur pädagogischen Praxis geschildert werden.

Kuratorische Konzeptionen –im Raum denken, Ausstellungen bildlich herbeireden

Nicht nur im Bereich von Kunstausstellungen entwickelten sich Kurator*innen vermehrt zu gestaltenden Instanzen, die im Vergleich zu Protagonist*innen anderer Tätigkeitsfelder im Kontext Museum stärker vor den Vorhang treten (vgl. Ziese 2010). Herbert Lachmayer weist darauf hin, „dass das kuratorische Fach eine eigene künstlerische wie wissenschaftliche Kompetenz (vor allem auch in der inspirierten Mischung dieser beiden Bewusstseinsfähigkeiten) sei“ (Lachmayer 2013: 16). Und genau dieser Bereich, die „bedeutungsstiftenden Verfahren des konzeptionellen Auswählens, Zusammenstellens und Ordnens bestimmen über die jeweilige Position im aktuellen Diskurs“ (Bismarck 2006: 57) und letztlich auch über das Renommee. Maren Ziese konstatiert über Kurator*innen: „Sie erhalten einen im Kontext des Museums eher ungewöhnlichen Freiraum sowie ein künstlergleiches Prestige“ (Ziese 2010: 61). Dass manche Kurator*innen mehr oder weniger explizit darauf drängen, erst in ihrem Gestaltungsprodukt ‚Ausstellung‘ die eigentliche künstlerische Leistung zu sehen, und damit den Geniebegriff der traditionellen Kunstgeschichte von Neuem bemühen, wird durchaus kritisiert. Wir wollen hier aber noch einen Schritt weiter gehen und gerade den bildnerisch-schöpferischen Aspekt stärker fokussieren und Schüler*innen mehr eigenpraktischen Gestaltungsspielraum – was für ein Wort! – ermöglichen, als Kurator*innen in aller Regel zugesprochen bekommen. Hier lässt sich gut mit dem Konzept der ästhetischen Forschung nach Helga Kämpf-Jansen anknüpfen, worauf später eingegangen wird. Gibt es das Kuratorische im Kontext Schule? Wie könnten Elemente einer ‚Kultur des Kuratorischen‘ im Schulkontext nutzbar gemacht werden? Schule wirkt manchmal wie eine etwas abgeschiedene Welt in der Welt, in der sehr klare Trennlinien zwischen Fachgebieten gezogen werden. Das Kuratorische könnte sich dort womöglich in Versuchen etablieren, themenbezogen nach Bedeutungszusammenhängen und Interdisziplinarität zu suchen.

In der Langfassung dieses Texts wurden Einblicke in die kuratorischen Positionen von Daniel Tyradellis sowie Herbert Lachmayer gegeben, um deren Auffassung des kuratorischen Tätigseins zu klären. Hier würde das den Rahmen sprengen. Hingewiesen sei an dieser Stelle bloß auf den Aspekt des Raumes und der Möglichkeit, in Ausstellungen Denken im bzw. durch Raum zu arrangieren, zu initiieren. Im Unterschied zu anderen Bedeutung produzierenden, Wissen vermittelnden Medien sieht Tyradellis in der Ausstellung ein wesentliches „Potenzial des Mediums, den genuinen Mehrwert, der durch die Objekte und ihre Konstellation im Raum zu gewinnen ist“ (Tyradellis 2014: 125).

Tyradellis kritisiert, dass Vermittlung in Museen meist weniger auf die Annäherung an museale Objekte selbst als auf die Einweihung in fachwissenschaftliche Perspektiven auf diese Objekte hinausläuft, was den Ausstellungsmacher*innen meist gar nicht bewusst und für die Besucher*innen selbstverständlich zu sein scheint (vgl. Tyradellis 2014). Nun sind Jugendliche in den seltensten Fällen akademische Fachwissenschaftler*innen. Schon alleine deshalb könnte man im Konzipieren, Erarbeiten und Gestalten einer Ausstellung sehr hohes Potenzial erwarten, durch Annäherung an Gegenstände aus unterschiedlichen Perspektiven Wissen zu vermitteln bzw. Bildung zu initiieren. Hierbei könnte dem freien Assoziieren eine tragende Rolle zukommen. Auch an Lachmayers Methoden des „Herbeiredens“ bzw. „Frei-Redens“ zu Bilderreihen (Lachmayer 2013: 18) ließe sich produktiv anknüpfen.

Methode – Fragen stellen, ästhetisch forschen

Der Prozess des Ausstellungen-Machens umfasst besonders (vor-)wissenschaftlich-theoretische, intellektuell-konzeptionelle, künstlerisch-gestalterische sowie organisatorische Tätigkeiten und kann auch als Wissensproduktion betrachtet werden. Auch Helga Kämpf-Jansens Konzept der ästhetischen Forschung scheint diese Tätigkeiten bzw. Eigenschaften zu bedingen. Daher bietet es sich als Modell für eine ‚schulpädagogische Methode des Ausstellens‘ an. Ästhetische Forschung meint einen Prozess, der die ihn ausführende Person erfahren lässt, „was es bedeutet, wenn ästhetisches Handeln, vorwissenschaftliche Erfahrung und wissenschaftliches Denken sich auf immer andere Weisen miteinander verbinden und sich so immer neue und andere Zugänge zur Welt, zu sich selbst wie zum anderen Menschen eröffnen“ (Kämpf-Jansen 2002: 7).

Die drei wesentlichen Bezugsbereiche einer ästhetischen Forschungsarbeit findet Kämpf-Jansen in Alltagserfahrungen, künstlerischen Strategien und Kunstkonzepten im Bereich aktueller Kunst sowie wissenschaftlichen Methoden. Für ihr Konzept stellt Kämpf-Jansen fünfzehn Thesen zur Diskussion:

  1. Sinnhaftes gegen unsinnig Verordnetes […]
  2. Sinnenreiches gegen unsinnlich Reduziertes […]
  3. Eine Frage haben […]
  4. Alles kann Gegenstand und Anlaß ästhetischer Forschung sein […]
  5. Die Vorgehensweisen sind nicht additiv, sondern vernetzt […]
  6. Kern ästhetischer Forschung ist die Vernetzung vorwissenschaftlicher, an Alltagserfahrungen orientierter Verfahren, künstlerischer Strategien und wissenschaftlicher Methoden […]
  7. In Alltagserfahrungen sind bereits wesentliche Handlungs- und Erkenntnisweisen vorgegeben – man muß sich ihrer nur bewußt werden […]
  8. Künstlerische Strategien und Konzepte aktueller Kunst bieten den Reichtum ästhetischen Handelns an […]
  9. Kunst darf lügen – zugunsten einer anderen Wahrheit […]
  10. Wissenschaftliche Methoden beschreiben andere Wege und andere Ziele der Erkenntnis […]
  11. Texte lesen und Texte schreiben ist lustvoll […]
  12. Ästhetische Forschung bedarf manchmal ungewohnter und ungewöhnlicher Orte […]
  13. Ästhetische Forschung ist prozeßorientiert und hat doch Ziele […]
  14. Selbstreflexion und Bewußtseinsprozesse erhalten neue Dimensionen […]
  15. Ästhetische Forschung führt zu anderen Formen der Erkenntnis (Kämpf-Jansen 2002: 274–277)

„Am Anfang steht eine Frage, ein Gedanke, eine Befindlichkeit; ein Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier; ein Phänomen, ein Werk, eine Person (fiktiv oder authentisch), eine Gegebenheit oder Situation; ein literarisches Thema, ein Begriff, ein komplexer Inhalt oder etwas anderes“ (Kämpf-Jansen 2002: 19). Es geht also um selbst erarbeitete Fragestellungen, eigene Themen und Interessen der Schüler*innen, und nicht um oktroyierte bzw. kanonische Aufgabenstellungen. Für den schulischen Rahmen schlägt Kämpf-Jansen allerdings vor, Kinder bzw. Jugendliche ihre Arbeitsvorhaben bzw. Fragestellungen aus größeren angebotenen Themenkomplexen auswählen zu lassen, um erstens Überforderung zu vermeiden und zweitens eine thematische Klammer, gemeinsame Interessen zu provozieren (vgl. Kämpf-Jansen 2002). Prix Ars Electronica u19, eine Arbeit daraus, ein dort aufgegriffenes Thema, eine verwendete Technologie, Einreicher*innen und vieles mehr könnten Ausgangspunkte für ästhetische Forschungen bilden. Sich also in sanften Schritten an Ars Electronica oder das Ars Electronica Center heranzutasten, um dann den großen Themenkomplex Prix Ars Electronica u19 attraktiv öffnen zu können, wäre ein sinnvolles und realisierbares Vorgehen.

Effekt – transversal denken, Wissen gestalten

Kämpf-Jansen möchte ihr Konzept als eines verstanden wissen, das Transversalität im Denken bzw. „Quer-hindurch-Denken“ fördert. Damit sind „[…] unkonventionelle, unorthodoxe Weisen, sich anderer Fragen und eines anderen Wissens zu bedienen“ (Kämpf-Jansen 2002: 147), gemeint, die die gewöhnlich linearen, vertikalen und horizontalen Achsen des Denkens eben quer durchbrechen (vgl. Kämpf-Jansen 2002). Traditionelle wissenschaftliche Denkstile mit aktuellen in ein Wechselspiel zu bringen, eröffnet andere Möglichkeiten. „Denken ist hier ein begleitendes, prozesshaftes, entwerfendes (Denken auf Probe), wie ein experimentelles oder ein sich vergewisserndes“ (Kämpf-Jansen 2002: 152). Hierin sieht Kämpf-Jansen die Gemeinsamkeiten mit künstlerischen Prozessen, in denen es „einerseits um unorthodoxe Vorgehensweisen, Grenzgänge, Infragestellungen, die in der Tat eine besondere Weise des Umgehens notwendig machen, wie auch andererseits um klare Bezüge zu tradierten Methoden und gegebenem Wissen“ (Kämpf-Jansen 2002: 152) geht. Im Konzept der ästhetischen Forschung geht es also darum, unerwartete Perspektiven einzunehmen.

Hier lassen sich Parallelen zu Tyradellis ziehen, wenn dieser beschreibt, dass das Denken „darin besteht, das Ungedachte ins Denken zu ziehen, dasjenige sicht- und spürbar zu machen, was im Prozess der Aneignung aus guten oder schlechten Gründen ignoriert, verdrängt, untergeordnet oder marginalisiert wurde“ (Tyradellis 2014: 146). Konkreter beschreibt er:

Man sieht oder erlebt etwas, das man nicht einordnen kann. Sofort beginnt man, nach einer Erklärung zu suchen. In dieser Bewegung besteht Denken. Entscheidend ist, ob man der Frage erlaubt, zu wirken, oder ob man den kürzesten Weg zu ihrer Stillstellung in Gestalt einer vordefinierten, d. h. transzendenten Antwort sucht. (Tyradellis 2014: 147)

Tyradellis sieht im traditionellen Lehr- und Bildungssystem, sei es in der Schule, der Universität oder in Ausstellungen, stets ein Streben nach Hierarchisierung im System des Wissens. Um Dinge davor zu bewahren, von Strukturen und Hierarchien überlagert zu werden und damit ihr Potenzial, auf das Denken einzuwirken, zu verlieren, „kann man sich die Widerständigkeit der Dinge ebenso zunutze machen wie die Vielfalt der Medien und ihre unterschiedlichen Evidenzen“ (Tyradellis 2014: 149). Kämpf-Jansens Konzept der ästhetischen Forschung, das ein „Quer-hindurch-Denken“ von Objekten, Themen, Fragestellungen und Ordnungen bedingt, scheint daher als brauchbare Strategie, sich auf den Weg in Richtung Ausstellungsarrangements zu machen.

In der ästhetischen Forschung wird keine hierarchische Wertung unterschiedlicher Erfahrungen vorgenommen. Kämpf-Jansen sieht im ersten Bezugsbereich, den Alltagserfahrungen, wesentliche Handlungs- und Erkenntnisweisen vorgegeben. Ihr geht es nicht um rein intellektuelles Erkennen. Sondern auch der „neugierig fragende, forschende und entdeckende Umgang mit Dingen und Phänomenen einerseits, wie der handelnde Umgang mit ihnen, das Sammeln, Ordnen, Arrangieren und Präsentieren andrerseits“ (Kämpf-Jansen 2002: 275) sollen als Formen der persönlichen Erkenntnis verstanden werden. Wesentlich ist, dass es nur um subjektbezogene Erkenntnis gehen kann und sich das Neue nur im Verhältnis zu individuell bereits Vorhandenem ergeben kann.

Nun stellt sich aber die Frage, inwiefern sich solche Ausstellungen im Herzeigen von Endprodukten oder in Ergebnispräsentationen erschöpfen. Oder werden in solch einer Ausstellung Rezipient*innen konzeptuell adressiert, um einen Mehrwert für sie zu provozieren? Arrangiere und inszeniere ich etwas, in dem andere bestimmte Erfahrungen machen sollen? Vielleicht aber ist der Unterschied zwischen solch einer Ausstellung und dem Herzeigen eben eines Resultats ästhetischer Forschung gar nicht so groß. Unter Umständen überfordert man daher Jugendliche mit dem Konzipieren und Erstellen eines Ausstellungsarrangements weniger, als man zunächst befürchten könnte. Zu unterscheiden bleibt dennoch, ob Jugendliche ihren Forschungsprozess rein für sich oder von Beginn an mit dem Ziel einer Ausstellung für Dritte durchführen. Diese Unterscheidung bedarf einer pädagogischen Einschätzung und Entscheidung.

Die Entwicklung einer Ausstellung verstehe ich auch in ganz hohem Maße als eine Schärfung und Übung der Wahrnehmung. Im Fragen nach alltagsweltlichen, wissenschaftlichen sowie künstlerischen Bezügen zu einem Thema tragen Jugendliche Forschungs- oder Rechercheergebnisse zusammen. Über deren ästhetisch-gestalterische Verarbeitungen hinaus probieren und üben sie sich mittels deren Reflexion und Kombination in vernetztem Denken. Im Zuge der konkreten Ausstellungsgestaltung lassen sich geistig sowie physisch alternative visuelle Welten imaginieren und kreieren. Der gewohnten, manchmal irritierenden, manchmal bedrängenden, oft auch ignorierten permanenten Konfrontation mit Bildern und anderen Informationen kann so ein eigenpraktisch erstelltes, reflektiertes Bilder- und Informationsformat gegenübergestellt werden.

Schulfach – Bezugsfelder aufzeigen, Lernziele eruieren

In diesem Zusammenhang besteht ein weiteres wesentliches Ziel darin, dass Schüler*innen an einer breiten Palette von Gegenständen sowie Gebieten „– auch auf dem der Wissenschaft und der Politik – die Erfahrung von der freien Gestaltbarkeit sowohl der Wahrnehmung wie der Herstellung wie der Wiedergabe [ihrer] Umwelt machen“ (von Hentig 1969: 26) [1]. In zunehmend komplexeren Verhältnissen und Systemen von Welt orten Cornelia und Kunibert Bering „ein fundamentales Problem einer Pädagogik, die sich als Hilfe bei der Suche nach Orientierung versteht“ (Bering/Bering 1999: 9). Übergreifende Lernziele geraten dabei immer mehr in Zweifel und Ideale wie ‚Reife‘ erweisen sich „vielfach als Projektion auf einen Idealzustand in einer vermeintlich besseren Zukunft“ (Bering/ Bering 1999: 9). Deswegen, so Bering und Bering – wohl noch immer aktuell –, „muss pädagogisches Handeln für Brüche und Differenzen, auch für Grenzen und gerade für das Andersartige, sensibilisieren“ (Bering/Bering 1999: 12). Folglich werde so eine Didaktik nicht nur zu aktiver Teilhabe an der Welt, sondern darüber hinaus zum bewussten Gestalten und Umgestalten der Welt ermächtigen (vgl. Bering/Bering 1999). Die künstlerisch-gestalterischen Schulunterrichtsfächer sind hier ebenso gefordert wie andere ‚Disziplinen‘. Und so paradox es klingen mag, müssen sich Wissens- und Erfahrungsgebiete wohl stärker vernetzen und verbinden, um genannte Brüche, Differenzen und Unterschiedlichkeiten aufspüren zu können. Das Kuratorische, wie es bei Tyradellis, Lachmayer bzw. eher im ‚Genre‘ kulturhistorischer Ausstellungen zu finden ist, könnte hier als Methode fruchtbar gemacht werden. Nebenbei erwähnt lädt auch „u19 – CREATE YOUR WORLD“ ganz gezielt dazu ein, völlig ‚undiszipliniert‘ eigene Ideen und Vorstellungen für die Welt zu präsentieren oder zu realisieren (vgl. Merten n. a.).

Die Diskussion um Bezugsfelder für ästhetische Bildung im Rahmen von Schule lodert – bei regionalen Unterschieden – konstant dahin. Wolfgang Klafki hält vor einem halben Jahrhundert vor dem Hintergrund allgemeiner Didaktik fest, dass Konzeptionen der Kunstdidaktik stets auf die Erschließung der gesamten bildnerischen Gegenwart eines jungen Menschen zielen müssen: „Jede neue kunsterzieherische Konzeption muß nachweisen, daß sie dem jungen Menschen zuerst und zuletzt diese seine bildnerische Gegenwart aufschließt“ (Klafki 1999: 89). Er meint weiter, „daß sich Kunsterziehung auf die ganze bildnerische, für das ästhetische Betrachten und Urteilen relevante Wirklichkeit beziehen muß“ (Klafki 1999: 88), und zählt dazu Architektur, Industriedesign, Wohnraumgestaltung ebenso wie Tapeten, Geschirr, Kleidung und Mode sowie Werbeplakate und Schaufensterdekoration (vgl. Klafki 1999). Franz Billmayer fordert die ‚Kunstpädagogik‘ gezielt auf, auch die multimodale und multimediale Kommunikation mit ihrem erheblichen Anteil visueller Ausformung in das Zentrum ihres Interesses zu rücken. Das setzt voraus, Kunst und Kultur breiter aufzufassen, als sie von Kunstinstitutionen präsentiert werden (vgl. Billmayer 2011). Gert Selle ist überhaupt sicher, dass ästhetische Bildung mit institutionalisierter Pädagogik kaum zu beeinflussen ist, und sagt: „Längst ahnen wir, dass die neue Medienkultur die von ihr definierten ästhetischen Erziehungs- und Bildungsaufgaben höchst effektiv selbst übernommen hat“ (Selle 2004: 8). Jahrzehnte vorher schon wies Diethart Kerbs explizit darauf hin, „dass pädagogisches Nachdenken und Forschen auch dann sinnvoll ist, wenn es sich nicht auf Schule und Unterricht bezieht“ (Kerbs 1970: 20). Er verweist damit auf Unterhaltungsindustrie, Massenmedien, kommerzielle Popkultur sowie auch nicht-kommerzielle jugendliche Subkulturen und meint, diese seien „für die ästhetische Bewußtseinsbildung möglicherweise sehr viel ausschlaggebender als das bißchen Unterricht, das wir veranstalten können – eben deshalb müssen wir die Phänomene erforschen und in Rechnung stellen, wenn wir pädagogisch etwas ausrichten wollen“ (Kerbs 1970: 20).

Die u19-Einreichungen weisen von Beginn an ein breites Spektrum inhaltlicher wie medialer bzw. technologischer Auseinandersetzungen auf. Zu weiten Teilen sind sie in der Freizeit junger Menschen entstanden, basierend auf bestimmten Interessen, Motivation und Eigeninitiative. Sie lassen vielfältigste Einflussfaktoren vermuten sowie in fantastische Denk- und Gestaltungswelten einsehen. Sirikit Amann nennt u19 „[…] ein digitales Breitbandantibiotikum gegen etablierte Sichtweisen, das Fremdes vertraut erscheinen lässt, und es ist in vielen Bereichen ein Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen und Themen“ (Amann 2008: 320). Bisweilen lässt sich nur spekulieren, ob tatsächlich nur die Teilnahme am Preisausschreiben selbst oder nicht auch die Auseinandersetzung mit den dort eingereichten Projekten die genannte Wirkung zeigen würde.

Egal als was man Ausstellungen in ihrer Flüchtigkeit begreift, am Ende steht praktisch immer ein ästhetisches, sinnlich erfahrbares Wissens- bzw. Gestaltungsgefüge im Raum. Jugendliche zur eigenpraktischen Erfahrung eines Weges zu solch einem ‚Produkt‘ anzuregen, mag für alle Beteiligten ein Abenteuer sein, eben ein riskantes Unterfangen, ein spannendes Experiment, mutiges Wagnis, an dessen Ende aber, etymologisch betrachtet, mitunter ein – zumindest zeitweiliges – Ankommen bzw. Ereignis steht.

Down-to-earth – pädagogisch wirken, Unterricht gestalten

Im vorgeschlagenen Ansatz der ästhetischen Forschung richten Kinder und Jugendliche ihre Aufmerksamkeit auf konkrete, ausgewählte Werke oder mediale Erscheinungen und assoziieren sie zunächst auf kognitiver Ebene mit ihnen bereits Bekanntem. Sodann bzw. parallel nähern sie sich durch künstlerische Verfahren, skizzieren, experimentieren, adaptieren, verfremden, arrangieren. Sie befragen, analysieren, kategorisieren, kommentieren, präsentieren die ausgewählten Forschungsgegenstände und das, was im Forschungsprozess entsteht (vgl. Kämpf-Jansen 2002). Und sie machen es für andere individuell erfahrbar.

Konkret kann durch so einen Prozess von einer Schärfung der Wahrnehmung ausgegangen werden. Durch das eigenpraktische Tun sollen die Schüler*innen nicht zuletzt Achtsamkeit und kritische Wertschätzung gegenüber konzeptioneller sowie bildnerisch gestalterischer Arbeit ausbauen, insbesondere jener in Museen. Sie sollen neue Perspektiven auf Ausstellungen sowie andere Formen der Wissensproduktion bzw. -inszenierung erschließen und für sich nutzbar machen. Zugleich soll ein sorgsames Bewusstsein bezüglich Sammlungen und Exponaten geübt werden. Dinge bewusst miteinander verknüpfen zu können, mag zur (Medien-) Kritikfähigkeit beitragen. Ein wesentliches Lernziel im Bereich ästhetisch-praktischer wie konzeptioneller Fähigkeiten liegt im Bereich der Präsentation, des Informationsdesigns, des Storytelling. Letztendlich könnte hier wie auch in anderen Bereichen eine Brücke zu Berufsorientierung geschlagen werden.

Ausstellungen-Machen als schulpädagogische Methode lohnt in mehrerlei Hinsicht. Denn es setzt auch eine kritische Auseinandersetzung mit der Institution Museum sowie dem Medium Ausstellung, mit ihren jeweils unterschiedlichen Zielen, kuratorischen Konzepten sowie Vermittlungsstrategien etc. voraus. Wenn also unterschiedliche Museen und Ausstellungen als außerschulische Bildungsorte aufgesucht werden, ehe sich Schüler*innen selbst ausstellerisch betätigen, sollen sie nicht nur als Lernorte, sondern auch als Lernobjekte wahrgenommen werden.

Im Zuge der Implementierung eines neuen Reifeprüfungsmodells in Österreich war 2014 in einer Handreichung des zuständigen Bundesministeriums zu lesen, dass bildnerisch-gestalterische Arbeiten im Rahmen der nun erforderlichen ‚vorwissenschaftlichen Arbeiten‘ (VWA) seitens der Schüler*innen explizit erwünscht seien (vgl. BMBF 2014). Angeregt von u19-Projekten eine Forschungsfrage zu entwickeln, auf diese mit der Methode der ästhetischen Forschung einzugehen und auf eine Ausstellung zuzuarbeiten, schien dafür unglaublich reizvoll. Umso trauriger, dass die aktuellen Informationsquellen zu VWA nicht mehr darauf schließen lassen, dass eigens ‚Bilder‘ entwickelt und als Teil der VWA verstanden werden können. Kämpf-Jansen sagt über den ästhetischen Forschungsprozess:

In der Komplexität aller Gegebenheiten hat am Ende eine Erforschung innerer und äußerer Gegebenheiten stattgefunden, wo das zu Erforschende […] in so vielen Fassetten [sic!] sichtbar und erfahrbar gemacht wurde, dass mit dem Abschluss der Arbeit von einer Bewusstseinsänderung und einem anderen Stand der Erkenntnis gesprochen werden kann. (Kämpf-Jansen 2002: 238)

Eine Ausstellung zu entwickeln, könnte als Gelegenheit genommen werden, so einen Prozess zu vollziehen und das eigene Denken zu überraschen. Wenigstens sollte es als Versuch gelten, Neugier zu wecken und etwas überhaupt erst interessant erscheinen zu lassen. Es soll Lust darauf machen, selbst zu gestalten. Darüber hinaus soll es Interesse daran wecken, Dinge auf ästhetisch-gestalterischen Wegen zu ergründen und dabei immer wieder die Wege anderer Verfahren zu kreuzen oder ein Stück weit mitzugehen. Dass die Methode auf viele Themen und Objekte anwendbar ist und nicht nur von „u19“ ausgehen muss, versteht sich von selbst. Vielleicht entsteht in der Ausführung der hier entwickelten, bislang nicht erprobten Methode am Ende gar keine Ausstellung. Vielleicht führt die hier vorliegende Spekulation in der Praxis doch zu (anderen) künstlerisch-gestalterischen Werken, etwa einem Video, einer Performance, Sound Art, einem Plakat, einer Website, einem Text oder einer Werbung. Es bleibt das Unvorhersehbare, Überraschende in der Ausstellung, in der Forschung, in der Kunstpädagogik.

Anmerkung

[1] Ich zitiere Hartmut von Hentig hier trotz seiner problematischen Rolle im Zusammenhang mit dem systematischen Kindesmissbrauch an der Odenwaldschule, weil er im pädagogischen Diskurs wichtig war.

Literatur

Amann, Sirikit (2008): Digitales Breitbandantibiotikum. u19 gegen etablierte Sichtweisen. In: Leopoldseder, Hannes/Schöpf, Christine/Stocker, Gerfried (Hrsg.): Ars Electronica 2008: A New Cultural Economy. Wenn Eigentum an seine Grenzen stößt. Ostfildern: Hatje Cantz, S. 320–323.

Ars Electronica Linz GmbH (n. a.): Ars Electronica Archive – Prix. Online: http://archive.aec.at/prix [04.12.2019]

Bering, Cornelia/Bering, Kuniberg (1999): Zur Einleitung: Vom Umgang mit der Komplexität. In: dies. (Hrsg.): Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges. Oberhausen: Athena, S. 9–12.

Billmayer, Franz (2011): Shopping – Ein Angebot zur Entlastung der Kunstpädagogik. In: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb. Online: http://www.zkmb.de/index.php?id=149 [16.02.2015]

Bismarck, Beatrice von (2006): Curating. In: Butin, Hubertus (Hrsg.): DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln: DuMont, S. 56–59.

Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2014): Die kompetenzorientierte Reifeprüfung: Bildnerische Erziehung – reifepruefung_ahs_lfbe.pdf. Online: https://www.bmbf.gv.at/schulen/unterricht/ba/reifepruefung_ahs_lfbe.pdf?4ktn8p [26.02.2015]

Kämpf-Jansen, Helga (2002): Ästhetische Forschung. Wege durch Alltag, Kunst und Wissenschaft. Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. Köln: Salon, 2. Auflage.

Kerbs, Diethart (1970): Zum Begriff der ästhetischen Erziehung. Wiederabdruck aus GesamtschulInformationen. 6. Jg. (1972), Heft 3, S. 46–60. In: Otto, Gunter (Hrsg.) (1975): Texte zur Ästhetischen Erziehung. Kunst – Didaktik – Medien 1969 bis 1974. Braunschweig: Georg Westermann, S. 12–24.

Klafki, Wolfgang 1999 [1966]: Kunstpädagogische Konzeptionen und allgemeine Didaktik. In: Bering, Cornelia (Hg.) / Bering, Kunibert (Hg.) (1999): Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges. Oberhausen: Athena, S. 87–90

Lachmayer, Herbert (2013): Staging Knowledge. In: ders. (Hrsg.): Staging Knowledge – Inszenierung von Wissensräumen als Forschungsstrategie und Ausstellungsformat. München: Wilhelm Fink, S. 14–29.

Merten, Hans Christian (n. a.): u19 – CREATE YOUR WORLD – Prix Ars Electronica | u19 – CREATE YOUR WORLD. Online: http://www.aec.at/u19/de/prix [04.12.2019]

Selle, Gert (2004): Ästhetische Erziehung oder Bildung in der zweiten Moderne? Über ein Kontinuitätsproblem didaktischen Denkens. Bearbeitet von Jurin, Katarina und Salomo, Rikke. In: Pazzini, Karl-Josef/Sturm, Eva/Legler, Wolfgang/Meyer, Torsten (Hrsg.): Kunstpädagogische Positionen, Band 3. Hamburg: Hamburg University Press.

Tyradellis, Daniel (2014): Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten. Hamburg: edition Körber-Stiftung.

von Hentig, Hartmut (1969): Das Leben mit der Aisthesis. In: Otto, Gunter (Hrsg.) (1975): Texte zur Ästhetischen Erziehung. Kunst – Didaktik – Medien 1969 bis 1974. Braunschweig: Georg Westermann, S. 25–26.

Ziese, Maren (2010): Kuratoren und Besucher. Modelle kuratorischer Praxis in Kunstausstellungen. Bielefeld: Transcript.

Von Katharina Edlmair

Veröffentlicht am 7. Mai 2023

Zitiervorschlag

Edlmair, Katharina: Curators at Work. At School. Überlegungen zum Lernpotenzial kuratorischer Praxis im Unterricht, in: Annemarie Hahn, Nada Rosa Schroer, Eva Hegge, Torsten Meyer (Hg.): Curatorial Learning Spaces. Kunst, Bildung und kuratorische Praxis, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2023. Quelle: https://zkmb.de/curators-at-work-at-school-ueberlegungen-zum-lernpotenzial-kuratorischer-praxis-im-unterricht/; Letzter Zugriff: 26.04.2024