Wie werden Sexualität und Körperlichkeit in der Schule zum Thema? Wie werden sie von Schüler*innen eingebracht? Und wie können sie im Sinne des Unterrichtsprinzips Sexualpädagogik von Lehrpersonen ins schulische Lehren und Lernen eingebracht werden? Welche Ansätze gibt es dafür in den künstlerisch-gestalterischen Unterrichtsfächern?1 Und mit welchen sexualpädagogischen Fragen und Herausforderungen sind Lehrer*innen im schulischen Alltag konfrontiert?
In einer Gesprächsrunde thematisieren Marlies Brommer, Tobias Dörler und Caro Estrada-Steiger, alle drei Lehrer*innen für künstlerisch-gestalterische Fächer, mit Rafaela Siegenthaler und Marion Thuswald, Mitarbeiter*innen im Forschungs- und Bildungsprojekt Imagining Desires, diese Fragen. Dabei kommen Erfahrungen aus der eigenen Praxis und dem kollegialen Austausch in der Schule ebenso zur Sprache, wie offene Fragen und Spannungsfelder, die sich in der schulischen Thematisierung von Sexualität und Körperlichkeit zeigen.
Die zweistündige Gesprächsrunde wurde (audio) aufgezeichnet, transkribiert, anschließend gekürzt und in Absprache mit den Teilnehmer*innen sprachlich bearbeitet. Der Text folgt im Wesentlichen der thematischen Chronologie des Gesprächs.
Marion Thuswald: Ich lade euch ein, euch kurz vorzustellen und davon zu erzählen, wie ihr in eurer schulischen Arbeit mit Fragen, Themen und Herausforderungen rund um Sexualität, Intimität, Körperlichkeit in Kontakt gekommen seid bzw. in Kontakt kommt.
Tobias Dörler: Ich bin zum einen als Lehrender an Unis im Lehramtsstudium tätig. Zudem bin ich Lehrer an einer Berufsbildenden Höheren Schule (BHS) für Kunsthandwerk – der KunstModeDesign Herbststrasse. Das ist eine fünfjährige Schulform von der 9. bis zur 13. Schulstufe. Ich unterrichte ein Fach, das sich Mediale Darstellungsverfahren nennt und dem Fach Bildnerische Erziehung ähnelt. Manchmal unterrichte ich auch in der Holzwerkstätte.
Caro Estrada-Steiger: Ich habe bis zu meiner momentanen Elternkarenz am Bundesrealgymnasium und Bundesoberstufenrealgymnasium (BRGORG) Henriettenplatz im 15. Bezirk in Wien gearbeitet. Dort unterrichtete ich etwa zwei Drittel meiner Stunden in Oberstufenklassen (9. bis 12. Schulstufe) und ein Drittel in der Unterstufe (5. bis 8. Schulstufe) in Bildnerischer Erziehung und Textilem Werken. Aufgrund des überdurchschnittlich hohen Anteils an Schüler*innen mit sogenanntem ‚Migrationshintergrund’, wird unsere Schule öfters als ‚Brennpunktschule’ bezeichnet. Ich selbst lehne diesen Begriff ab und finde diese Zuschreibung sehr problematisch, vor allem für das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein unserer Schüler*innen. Die Tatsache, dass wir besonders viele Schüler*innen mit den unterschiedlichsten Backgrounds haben, bringt jedoch einige Besonderheiten mit sich. Da wir viele Schüler*innen haben, welche selbst teilweise traumatisierende Fluchterfahrungen gemacht haben, war es mir in den letzten Jahren besonders wichtig, möglichst viel zum Thema Flucht und (der) Solidarität mit Geflüchteten zu arbeiten. Mir war es besonders wichtig nicht nur über Geflüchtete zu sprechen, sondern in möglichst vielen Projekten vor allem Gespräche mit Geflüchteten, also den direkten Austausch und Begegnungen auf Augenhöhe, zu ermöglichen. 90 Prozent der Schüler*innen am Henriettenplatz haben eine muslimische Religionszughörigkeit.
Marlies Brommer: Ich bin jetzt das fünfte Jahr im Schuldienst. Ich war an einer Neuen Mittelschule (NMS) und an Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) und bin jetzt auf einer Art Gesamtschule, wo NMS und AHS Schüler*innen gemeinsam unterrichtet werden (Wiener Mittelschule).
Mit dem Thema Sexualpädagogik habe ich schon in unterschiedlicher Weise Kontakt gehabt. Im Fach Bildnerische Erziehung haben wir viel über Diskriminierung oder das Geschlechterverhältnis gesprochen. Ich war dieses Jahr auch im Projekt erwachsen werden bei uns an der Schule eingebunden. Im Rahmen dessen beschäftigten sich alle Fächer eine ganze Woche lang mit dem Erwachsenwerden. Dabei konnte ich mich in dreierlei Weise einbringen: Zum einen haben wir im Fach Bildnerische Erziehung zur Thematik Beziehungen und Social Media gearbeitet. Dabei ging es etwa um Fragen von Beziehungen auf Instagram: Kann man sich da verlieben? Was schreibe ich wem? Dazu gab es viele Gespräche, Diskussionen und auch Referate von Schüler*innen.
Zum zweiten war ich in Biologie als Assistentin dabei, als es um den Körper ging. Ich fand mich unerwartet in der Situation wieder, mit einer Bubengruppe Arbeitsblätter zum Körper zu bearbeiten, die nicht (mehr ganz) aktuell waren. Das war schwierig aber auch interessant, da die Gruppendynamik für mich unerwartet angenehm und wertschätzend war. Und zum dritten war ich noch in einer sogenannten Vertrauensrunde, die für Mädchen und Buben getrennt stattfand. Dort konnten die Mädchen mit einer Lehrerin, also mit mir, über selbstgewählte Themen und Fragen sprechen.
Tobias Dörler: Wie alt waren die Schüler*innen?
Marlies Brommer: Das war eine dritte Klasse [7. Schulstufe] und wir haben uns als Lehrer*innen-Team2 darauf geeinigt, dass es in dem Projekt um verschiedene Beziehungen, Gefühle, den Körper und solche Basics gehen sollte, weil im folgenden Jahr darauf aufgebaut würde und dann Verhütung, sexuell übertragbare Krankheiten und anderen Themen bahandelt werden. Dieses Erwachsen werden-Projekt ist institutionalisiert bei uns an der Schule. Das machen alle Teams in der dritten oder vierten Klasse und es existiert schon sehr lange. Deshalb gibt es bereits Material und diese Vertrauensrunde ist ein Element, das etabliert ist.
Marion Thuswald: Die Schüler*innen blieben dabei im üblichen Klassenverband?
Marlies Brommer: Mädchen und Buben wurden manchmal getrennt. Wir haben auch diskutiert, ob wir die Schüler*innen der beiden Klassen mischen sollen, aber wir wollten dann doch, dass sie in ihrem Klassenverband bleiben – auch wenn Mädchen und Burschen getrennt waren –, weil sie sich da wohler fühlen als mit der anderen Klasse.
In unserem Projekt waren auch nur jene Lehrpersonen dabei, die normalerweise in der Klasse unterrichteten, aber manchmal wird auch jemand eingeladen oder die Klassen machen Exkursionen in unterschiedliche Institutionen z.B. in das Verhütungsmuseum, besuchen eine Gynäkologin o.ä.
Die Schüler*innen freuten sich total auf diese Woche, weil sie dann auch keine Hausübung haben. Sie waren aufgeregt, weil es ums Erwachsenwerden geht und sie meinten, es gehe endlich um Sex – und sie wollen jetzt alles wissen.
Marion Thuswald: Die Schüler*innen haben das Thema Erwachsenwerden mit Sex assoziiert?
Marlies Brommer: Ja, obwohl wir es offengelassen haben, aus der Erfahrung heraus, dass sonst Kinder manchmal zu Hause bleiben, weil ihre Eltern sehr skeptisch sind. Wir haben nur ins Mitteilungsheft geschrieben: „Nächste Woche Projekt erwachsen werden“. Diese Offenheit hat das Projekt noch interessanter gemacht für die Schüler*innen. Sie waren dann teilweise auch enttäuscht, dass nicht alles in der ersten Stunde erklärt wurde, was sie wissen wollten. Die Erwartungshaltung war: Es geht um Sex und die Lehrer*innen erzählen uns jetzt darüber. Und die Enttäuschung war dann, dass wir über Instagram gesprochen haben, das fanden sie langweilig. Wir haben dann aber besprochen, was das miteinander zu tun hat.
Tobias Dörler: Während du erzählt hast, ist mir eingefallen, dass das Thema Sexualität bei uns öfters nebenbei in der Holzwerkstätte auftaucht. Weil die Schüler*innen so intensiv den ganzen Nachmittag arbeiten und vielleicht auch, weil wir viele Gruppen mit ausschließlich Mädchen haben, wird das Thema von ihnen selbst eingebracht. Es kommt in den Gesprächen während der Arbeit auf.
Insbesondere am Anfang der Oberstufe, wenn sie viel in den Werkstätten arbeiten, sind Themen wie Sexualität, Beziehungen und so weiter oft Thema in Gesprächen untereinander. Es besteht bei uns in den Werkstätten oft ein großes Vertrauensverhältnis, sodass sie auch vor mir und mit mir solche Inhalte thematisieren. Sie wollen wissen, wie ich dazu stehe oder loten Grenzen aus.
Marlies Brommer: Ich glaube, das macht der andere Rahmen. Ich kenne das auch vom Unterrichtsfach Werken. Da sind ja nur etwa zwölf Schüler*innen in einer Gruppe. Da binden sie mich in Themen ein, die sie untereinander besprechen oder stellen eine Frage. Ich glaube, das wird durch diese andere Arbeitsweise ermöglicht, die nicht frontal ist. Die Atmosphäre ist irgendwie beweglicher; sie arbeiten, sprechen dazu und dabei kommen alle möglichen Alltagsthemen auf.
Tobias Dörler: Oft werden Begrifflichkeiten eingeworfen, die Schüler*innen irgendwo aufgeschnappt haben. Am Anfang der Oberstufe wissen sie selber oft gar nicht genau, was diese bedeuten. Es gibt meist ein paar Schüler*innen, die die Themen vorgeben und manchmal geht es auch um das Ausloten, ob ich als Lehrperson dieses Thema selber kenne oder/und ob ich ihnen auch Informationen geben könnte.
Marlies Brommer: Es geht um das Einordnenkönnen und gelegentlich auch um Provokation. Ich kenne das vom Musikhören. Manchmal dürfen sie beim Arbeiten Musik hören und wenn sexistische Rap-Texte kommen, warten sie auf meine Reaktion und sind gespannt auf die Diskussion. Manchmal rede ich mit ihnen über die Sprache, den Text, die Beschimpfungen. Oft ziehen sich solche Themen über Wochen. Bis dann wieder jemand einen solchen Song einschaltet und jemand anders sagt, „Ah, dreh das ab, das ist mir doch zu sexistisch!“ Manchmal ändert sich ihre Sichtweise sogar innerhalb einer Stunde, das ist interessant zu beobachten und zeigt, wie wichtig es ist, wie Lehrer*innen reagieren.
Marion Thuswald: Und was sind das für Worte und Themen, welche die Schüler*innen einbringen?
Tobias Dörler: Oft sind es Worte, die ich in dem Moment auch gar nicht einordnen kann, also Jugendausdrücke, wo ich dann merke, dass ich einen Jugenddiskurs verpasst habe. Ich bin mir dann nicht ganz sicher, ob das Worte sind, mit denen sie mir nur eine kurze Reaktion entlocken wollen oder etwas, wo sie wirklich Informationen haben bzw. länger darüber diskutieren wollen. Also Beziehungsmöglichkeiten in verschiedenster Form, sexuelle Orientierungen in verschiedenster Form bzw. eigene Erlebnisse, die sie zum Thema machen und wo dann nicht so ganz klar ist, ob das wirklich passiert ist. Manchmal kommt angesichts der Erzählungen bei mir die Frage auf, ob ich die Schüler*innen schützen muss oder ob sie prahlen. Ich finde das schwierig abzuwägen.
Marion Thuswald: Meinst du, sie erzählen von Grenzüberschreitungen, die sie selber machen oder die ihnen passieren?
Tobias Dörler: Beides. Ich muss ihnen dann klar machen, dass – wenn manches wirklich passiert ist – dies besprochen werden und auch Konsequenzen haben muss. Schwierig ist da die Balance. Ich find es ja auch schön, wenn es nicht so ernst sein muss, sondern einfach mal so grundsätzlich Thema sein kann, aber trotzdem sind manche Themen zu ernst, um nichts dazu zu sagen.
Marlies Brommer: Worum geht es da? Um sexuellen Missbrauch?
Tobias Dörler: Das ist manchmal schwierig einzuschätzen in der Oberstufe. Sie sind in einem Alter, in dem sie grundsätzlich selbst entscheiden können, ob und mit wem sie Sex haben wollen. Die Frage ist also, wie die sexuellen Handlungen zustande gekommen sind. Und wie alt die andere Person war. Ohne kontrollierend sein zu wollen, ist es wichtig herauszufinden, ob sie Hilfe brauchen. Es ist in jedem Fall sehr zu begrüßen, dass sie es aktiv thematisieren.
In einem Semester hat zum Beispiel eine Schüler*innengruppe sexuelle Orientierung und Körperlichkeit als gemeinsames Thema für mein Unterrichtsfach gewählt und wir haben Comics gezeichnet. Eine Schülerin hat dargestellt, wie sich ein Tanzlehrer der Protagonistin im Rahmen des Tanzens nähert und wie furchtbar sie das empfindet und wie sehr es sie ekelt, wenn er sie berührt.
Marion Thuswald: Oh! Das klingt recht klar nach Grenzüberschreitung, nach Übergriffen in einer pädagogischen Beziehung, wo es nicht nur um das Alter der Beteiligten geht, sondern auch um die Frage der Ausnützung eines Abhängigkeitsverhältnisses.
Marlies Brommer: Bei der erwähnten Vertrauensrunde mit den Mädchen ging es oft um das Gedrängtwerden durch gleichaltrige Burschen und darum, dass sie zu sexuellen Handlungen überredet werden. Das sind natürlich Grenzüberschreitungen und wir haben intensiv darüber gesprochen, was eigentlich wollen heißt, welche Gefühle es gibt und was sie (mir) signalisieren und wie ich drüber sprechen kann. Das sind Fragen, die unter den Gleichaltrigen wichtig sind.
Tobias Dörler: Im Fach Mediale Darstellungsverfahren taucht jedes Jahr das Thema Körperlichkeit auf: Sie wählen das entweder in Kleingruppen als Thema oder als ganze Gruppe und dann arbeiten wir gemeinsam daran. Im Bereich der digitalen Medien, also Video oder Fotografie, arbeiten die Schüler*innen oft in Kleingruppen zu zweit, zu dritt, zu viert oder manchmal auch als ganze Klasse an einem Video. Dort gebe ich oft ein Rahmenthema; meistens dass sie zu einem gesellschaftskritischen Thema arbeiten sollen. Dann wählen die Schüler*innen für sich in der Kleingruppe meist ein spezifisches Thema, bei dem es um die Verhandlung von Körpern in Medien geht.
Wenn ich am Anfang des Schuljahrs mit ihnen Themen sammle, zu denen sie arbeiten wollen, nennen sie auch manchmal sexuelle Orientierung, geschlechtliche Vielfalt und Körperlichkeit. Wenn diese Themen das Überthema für alle sind, hat das den Vorteil, dass ich sie mit allgemeinem Input für alle verknüpfen kann. Das Interesse ist da meist groß und die Schüler*innen sind sehr bereit, zu diesen Themen zunächst einmal Informationen zu bekommen und dann darauf basierend zu diskutieren.
Ich nehme Themen wie etwa Gender oder sexuelle Orientierung auch als Querschnittsmaterie wahr, die immer wieder auftauchen, wenn wir gerade an anderen Themen dran sind.
Caro Estrada-Steiger: Ganz am Anfang meiner Unterrichtstätigkeit, wollte ich mit einer Gruppe aus dem Medienzweig in eine Fotoausstellung gehen. Das Semester hatte gerade begonnen und ich hatte sie erst zwei, drei Mal gesehen. Ich wusste inzwischen, dass in dieser siebten Klasse Burschen dabei waren, die sich sehr mit ihrer Religion beschäftigten. Ich habe sie gefragt, ob es ein Problem für sie sei, wenn wir in die Ausstellung des chinesischen Fotografen Ren Hang gehen, der für seine Nacktfotos bekannt und in China deshalb mehrmals verhaftet worden ist. (Die Ausstellung gab‘s noch vor seinem Suizid 2017.) Ich dachte damals, dass es eine spannende Auseinandersetzung mit dem Thema hätte sein können. Sie meinten, das wäre für sie schon ein Problem, es sei harām nackte Körper zu sehen. Ich weiß nicht, ob sie privat hingegangen wären, aber mit mir als Lehrerin wollten sie nicht hingehen. Sie waren sehr solidarisch untereinander und der Rest der Gruppe wollte dann auch nicht hingehen. Schließlich sind wir in eine andere Fotoausstellung gegangen.
Tobias Dörler: Es ist spannend, wie das Thema Religion eine Barriere darstellt, wenn man über sexuelle Orientierung oder Sexualität generell spricht. Mir kommt vor, dass es bei allen Religionen ähnlich ist. Ich denke an das Schulbuchprojekt zurück, wo wir uns in verschiedenen Schulen mit Schulbüchern beschäftigt haben und die Bücher daraufhin untersucht haben, wie Personengruppen und ihre Lebenssituationen in Schulbüchern diskriminiert werden. Ich erinnere mich an eine Gruppe von Schüler*innen, bei der es um die Darstellung von schwulen Personen ging. Für manche der Mädchen war das Thema aufgrund ihres katholischen Hintergrunds schwierig zu behandeln.
Mir scheint, es ist bei allen Religionen ähnlich: Wenn jemand sehr strenggläubig ist, taucht schnell diese Grenze auf.
Das heißt nicht unbedingt, dass man nicht trotzdem an dem Thema arbeiten kann oder dass nicht auch der Wunsch von Schüler*innen da ist, diese Grenze doch zu überschreiten oder zu verschieben oder zumindest drüber zu reden.
Marlies Brommer: Ich frag mich manchmal, ob manche Altersgruppen weniger voreingenommen sind als andere. Ich habe das Gefühl, dass die Jüngeren (zwischen 10 und 14) Sachen oft leichter annehmen oder weniger Ablehnung zeigen. Ich habe z.B. in einer dritten Klasse Unterstufe zwei Burschen, die sich sehr zugewandt sind. Sie sitzen gegenseitig auf dem Schoß und berühren sich immer wieder mal. Irgendwer hat mal gesagt, das sei schwul und die ganze Klasse hat sich darüber aufgeregt und gemeint: „Das ist ganz normal, jeder darf sein, wie er will.“ Es scheint mir bei den Jüngeren weniger festgefahren. Kontroversen und Diskussionen finden sich eher bei älteren Schüler*innen ab ungefähr 15 Jahren.
Caro Estrada-Steiger: Es kann sein, dass sie dann erst an ihre Grenzen stoßen, wenn sie älter werden und merken, was für sie vorgesehen ist und wie sie sich dagegen wehren oder wie sehr sie sich damit identifizieren können.
Marlies Brommer: Vielleicht auch, weil das Thema Sexualität dann präsenter wird für die Schüler*innen.
Tobias Dörler: Mir scheint, dass mit der Pubertät die Suche nach Identität zum Thema wird und diese mit extremer Unsicherheit verbunden ist. Grenzen werden plötzlich Thema. Die Schüler*innen finden, dass irgendwas gar nicht geht, pervers erscheint oder ähnliches. Grenzziehungen machen es leichter, sich auf eine klare eigene Position zu beziehen. Im Sinne von ‚So bin ich und das sind meine Dinge und das Andere ist schlecht‘. Erst später, Richtung Matura3 hin, wenn sie ihre eigene Identität gefunden haben, scheint es leichter, dass Themen anders verhandelt werden untereinander, die Akzeptanz ist größer.
Marion Thuswald: Wie arbeitet ihr mit visuellem Material? Und wie geht ihr damit um, dass viele Darstellungen von einem männlichen Blick auf Frauen geprägt sind?
Marlies Brommer: Das Spannende in der klassischen Kunstgeschichte ist ja, dass bestimmte Motive ganz oft auftauchen. Hier kann man das ganz gut zeigen: den weiblichen Blick und den männlichen Blick, der sich so oft wiederholt. Zum Beispiel gibt es das Motiv Susanna im Bade, das ist eine klassische Szene, die ganz oft vorkommt. Zum Beispiel die Darstellung von Tintoretto: Die Frau ist nackt und schön, die Männer beobachten sie, eigentlich ‚spannen‘ sie. Das Bild zeigt stark die männliche Perspektive. Artemisia Gentileschi hingegen hat dieselbe Szene aus anderer Perspektive gemalt: Die Frau ist angeekelt. Man sieht es an ihrem Blick. Es geht in diesem Bild nicht darum, wie sie aussieht, sondern auch um die Gefühlsebene, also wie sie sich vielleicht fühlt, wenn sie bespannt wird. An solchen unterschiedlichen Bildern zu gleichen Motiven kann man viel vergleichen. Das sind gute Beispiele, weil sie aus derselben Zeit stammen und dasselbe Motiv haben, aber einmal aus männlicher und einmal aus weiblicher Perspektive. Es gibt jedoch aus dieser Zeit viel weniger weibliche Perspektiven.
Tobias Dörler: Das ist ein Riesenproblem, wenn man kunstgeschichtlich arbeitet, dass man merkt, wie Frauen sukzessive aus der Geschichtsschreibung rausgeschrieben worden sind. Über Künstlerinnen gibt es noch immer wenige Bücher. Es ist weiterhin schwierig, zu Material und Bildern zu kommen. Spannend ist auch, wenn man merkt, wie Frauen, also Künstlerinnen, den männlichen Blick kopiert haben. Darum braucht es eine überlegte Auswahl der Bilder. Manche Frauen haben ja auch diesen männlichen Blick kopiert, um überhaupt Eingang in die jeweilige männlich dominierte Kunstcommunity zu bekommen.
Marion Thuswald: Es gibt ja in der Kunstgeschichte auch viele Darstellungen, die Sexualität und Beziehungen mit Gewalt verbinden, die also etwa Entführungen, Vergewaltigungen oder Zwangsheiraten darstellen. Arbeitet ihr damit und wenn ja wie?
Tobias Dörler: Also, ich finde das schon wichtig diese gewaltvollen Darstellungen zu thematisieren. Gerade in Bezug auf klassische Motive. Die Venusdarstellungen stellen ja eigentlich oft Vergewaltigungsszenen dar. Es ist zwar hart, aber wesentlich das zu benennen und den Schüler*innen bewusst zu machen, wie etwa in antiken Sagen und deren künstlerischen Darstellungen sexuelle Gewalt an Frauen normalisiert wird.
Marion Thuswald: Aus heutiger Perspektive wird in diesen Bildern Gewalt ästhetisiert.
Tobias Dörler: Ja, das gewaltvolle Motiv wird etwa verpackt in irgendeinen Goldregen und muss gemeinsam dekonstruiert werden. Dazu braucht es am Anfang Informationen von uns als Lehrpersonen.
Marion Thuswald: Wie reagieren die Schüler*innen darauf?
Marlies Brommer: Unterschiedlich. Es kommt auch auf die Gruppendynamik an. In einer meiner Klassen gab es dieses Jahr das Thema Gleichberechtigung und Unterdrückung der Frauen und viele Burschen meinten z.B.: „Die Frauen jammern, aber die Männer sind auch arm, die Männer werden auch geschlagen!“ Das habe ich als unangenehm empfunden. Die Burschen beschweren sich dann über ‚diesen andauernden Feminismus‘, der ihnen von den Lehrerinnen aufgezwungen wird. Es folgte eine ganz unangenehme Diskussion, vor allem, weil in der Klasse gar keine anderen Meinungen geäußert wurden. In einer anderen Klasse kann es sein, dass es eine fruchtbare Diskussion darüber gibt. Aber manchmal sind die Meinungen ziemlich festgefahren und es wird als Lehrerin schwierig zu reagieren oder das Thema produktiv zu wenden.
Caro Estrada-Steiger: Beziehungsweise müsste man sehr lang und breit ausholen, sich viel Zeit nehmen oder immer wieder daran arbeiten.
Marlies Brommer: Ja, wenn das möglich ist. Ich habe mit dieser Klasse wiederholt an solchen Themen gearbeitet, aber ich hatte das Gefühl, dass die Situation so verfahren und gruppendynamisch schwierig war, dass wir nicht mehr vorangekommen sind.
Es gab nur diese eine Stimme von jenen, die das schlecht gefunden haben. Die Anderen wollten gar nichts mehr dazu sagen, auch wenn ich mir relativ sicher bin, dass sie nicht dieser Meinung waren – vor allem die Mädchen nicht. Aber hier passiert dasselbe, was auch gesellschaftlich passiert: Ein paar Burschen waren sehr dominant und haben alle möglichen Inhalte niedergebügelt mit relativ forscher Sprache und am Ende war die Diskussion tot und keiner wollte mehr drüber reden. Das ist ja etwas, das gesellschaftlich oder medial auch oft passiert.
Rafaela Siegenthaler: Jetzt haben wir viel über Dekonstruktion und Kritik gesprochen. Gibt es Bilder, die ihr bewusst einspeist als affirmative, positive, andere Repräsentationsformen oder Identifikationsangebote im Sinne von Empowerment? Habt ihr da Bilder mit denen ihr gerne arbeitet?
Tobias Dörler: Es ist nicht in allen Bereichen der Kunst leicht, solche Werke zu finden. In der Fotografie ist es leichter, da gibt es unendlich viel und es ist sehr spannend Beispiele zu zeigen, die diverse Darstellungen von Körpern und auch nicht-heterosexuellen Beziehungen repräsentieren. Bei Malerei finde ich das viel schwieriger, da tue ich mir oft schwer, alternative Darstellungen zu hetero-cis und Körpernormen zeigen. Es gibt weniger Alternativen, die man den Schüler*innen zeigen kann, weil viele bekannte Künstler*innen für diese Alternativen in den letzten 50 Jahren bewusst andere Medien gewählt haben.
Spannend finde ich, wenn man ihnen verschiedene Bilder anbietet und sie mit dem Auftrag auswählen lässt: „Beschäftigt euch zu zweit mit den Bildern und analysiert eines dieser Bilder.“ In so einem Pool von Bildern können auch welche sein, die nicht den Normen entsprechen, die sie im Kopf haben. Es ist spannend zu beobachten, welche Bilder sie dann auswählen. Und wie sie darauf kommen, was das Bild bedeutet.
Wenn das nicht so offensichtlich ist, dann wählen sie Bilder aus und merken erst in der Analyse, was da überhaupt dargestellt ist. Ein spannendes Beispiel ist Pete and the Wolfman von Elizabeth Peyton. Die Darstellung ist androgyn und die Schüler*innen haben ziemlich lang gemeint, das sei ein heterosexuelles, küssendes Paar, bis sie irgendwann darauf gekommen sind: „Moment, dieser Titel!“ Es war ein spannender Moment als sie entdeckten, dass das überhaupt kein heterosexuelles Paar ist. Sie hätten das Bild wahrscheinlich nicht ausgewählt, aber auf diese Weise analysierten sie so ein Beispiel.
Marlies Brommer: Ich mache das auch oft mit Fotografie, da ist es einfacher etwas auszuwählen, dass den Schüler*innen von der Ästhetik her gefällt; also wie es gemacht ist, die Farben oder Ähnliches. Da gibt es auch eine wahnsinnige Fülle an Inhalten auf der fotografischen Ebene, von Alltag, Werbung, künstlerischer Fotografie…
Marion Thuswald: Du bietest Bilder an, die die Schüler*innen ästhetisch ansprechen und bietest ihnen dabei eine inhaltliche Breite?
Marlies Brommer: Genau. Ich habe das Gefühl, Schüler*innen wollen etwas, was ihnen zuerst einmal gefällt, dann tun sie sich leichter. Wenn ich Material auflege und sie suchen etwas aus, ermuntere ich sie oft auch dazu, das zu nehmen, das sie am hässlichsten finden und dann zu erklären warum. Das machen sie aber nicht. Sie wollen über das sprechen, das ihnen am besten gefällt und es ist ihnen kein Anliegen, darüber zu diskutieren, warum ihnen etwas am wenigsten zusagt. Ich meine jetzt gar nicht, dass die Körper auf den Bildern den Schönheitsidealen entsprechen, sondern dass den Schüler*innen die Komposition der Bilder gefällt, der Stil.
Marion Thuswald: Du hast auch von Alltagsbildern gesprochen. Welches visuelle Material verwendet ihr neben Kunst sonst noch?
Tobias Dörler: Also ich finde es wichtig über Werbung zu reden, diese zu analysieren. Auch Eigendarstellungen in den sozialen Medien, auf Plattformen wie Instagram oder YouTube beschäftigen sie sehr.
Marlies Brommer: Ich greife Phänomene auf, die sie vielleicht aus den Online-Medien kennen oder auch Personen, die sie da vielleicht kennen. Ich finde aber auch Dokumentarisches wichtig. Pressefotografie fällt bei mir etwa auch unter Alltagsbilder.
Tobias Dörler: Ich wollte noch einen Zugang erwähnen: Wenn man an Themen arbeitet, die im BE-Unterricht vorkommen, find ich es manchmal ganz spannend, wenn Dinge einfach offenbleiben, z.B. eine Gender-Identität plötzlich vage wird. Wenn Uneindeutigkeit nicht gleich in eine neue Eindeutigkeit umschlägt, sondern mal offenbleiben kann. Das löst manchmal Verwirrung aus. Ich finde es okay, wenn sie verwirrt sind in dem Moment. Ich versuche das mit einem gewissen Spaß zu verknüpfen, also ihnen meinen Spaß an der aktuell auftretenden Ungewissheit zu vermitteln. Vielleicht ist es im Moment absurd für sie, aber ich schlage dann vor, dass wir uns mal verschiedene Kunstwerke ansehen und Unklarheit dazu so stehen lassen oder möglichst viele verschiedene Interpretationsmöglichkeiten der Schüler*innen dazu sammeln. Also nicht, dass ich als Lehrer*in sofort erzähle, in welchem Kontext ein Kunstwerk entstanden ist und was die Künstler*in darstellen möchte. Sondern erst später – als eine mögliche Interpretation.
Marion Thuswald: Wie geht ihr mit persönlichen Fragen und Intimität um? Das ist ja in der Schule auch die Frage: Wie viel Persönliches wollen die Schüler*innen von sich zeigen oder auch nicht?
Caro Estrada-Steiger: Ich habe mit Bildanalysen gute Erfahrungen gemacht. Ich lasse meine Schüler*innen gerne Analysen zu Bildern schreiben, die sie selber aussuchen. Bei den Bildern, die ich zur Auswahl anbiete, achte ich dabei immer auf mindestens 50 Prozent Frauenanteil bei den Künstler*innen. Ich habe oft den Eindruck, dass sich Schüler*innen sehr schwer tun zu artikulieren, was sie überhaupt sehen. Ich habe einen einfachen Fragenkatalog mit dem sie arbeiten: „Was siehst du? Was kannst du noch entdecken, das du vorher nicht gesehen hast? Beschreibe das Bild jemandem, der das Bild nicht sehen kann. Was glaubst du, könnte die Künstlerin oder der Künstler gemeint haben?“ usw. Da schreiben sie oft sehr persönliche Dinge. Öfters ist es insbesondere für Schüler*innen, die sich sonst sehr wenig artikulieren im Unterricht, einfacher sich schriftlich zu äußern. Manchmal gibt es dann Anknüpfungspunkte, um aus der Analyse Projekte oder Referate zu entwickeln oder auch Gruppenarbeiten. Aber es geht mir vor allem darum, dass sie üben genau hinzusehen und eigene Assoziationen und Gefühle auch in Worte zu fassen.
Marlies Brommer: Ich habe das auch schon gemacht, dass sie Fragen an sich selbst gestellt und beantwortet haben, ohne es jemandem zu zeigen. Ich finde die Frage, was zu intim ist, eine Gratwanderung. Manchmal kann es schon schwierig sein, ganz einfache Fragen vor der ganzen Klasse zu beantworten. Bei dem Projekt erwachsen werden gab es am Anfang Fragen wie etwa: „Was bedeutet mir Freundschaft?“ oder „Wer bin ich?“ Fragen, zu denen man sich vielleicht in diesem Alter nicht in der Klasse auseinandersetzen will, aber es schon gut ist, selber drüber nachzudenken. Und als ich sie nach der Einzelarbeit gefragt habe, war die Rückmeldung, dass sie das schön gefunden haben, sich zu solchen Fragen etwas zu überlegen, ohne es mit den Anderen zu besprechen.
Sie mussten die Fragen und Antworten aber schon aufschreiben, weil das Verschriftlichen, glaub ich, etwas macht.
Marion Thuswald: Seid ihr auch mit intimen Fragen von Schüler*innen an euch konfrontiert? Welche Fragen sind das, wie geht ihr damit um?
Marlies Brommer: Ja, solche Fragen kommen vor allem von Jüngeren. Sie fragen alles Mögliche: Ob ich schon Sex gehabt habe? Mit wem? Wann? Wie? Da sag ich dann einfach: „Das möchte ich jetzt eigentlich nicht beantworten.“ Ich erkläre, dass ich es zu privat finde oder sage dann auch manchmal, warum ich es nicht sinnvoll finde, wenn ich die Frage beantworte. Manchmal frag ich sie auch, ob sie sicher sind, dass sie von meinen Antworten so viel profitieren würden. Sie antworten dann manchmal: „Ich wollt‘s nur probieren, ob Sie was drauf sagen.“
Tobias Dörler: Wenn es um eine Positionierung geht, also um meine Einschätzung zu einem intimen Thema, dann habe ich es manchmal im Nachhinein schon bereut, dass ich ein Gespräch abgebrochen habe. Sie reden dann untereinander weiter und ich denke mir dann, dass es doch wichtig gewesen wäre, etwas dazu zu sagen. Es geht ja nicht darum, persönlich zu antworten, sondern Themen können auch allgemeiner besprochen werden.
Marlies Brommer: Das finde ich auch. Wenn sie mich fragen; „Wann haben Sie das erste Mal Sex gehabt?“, dann spreche ich mit ihnen darüber, was ‚das richtige Alter‘ bedeutet und warum es den Schüler*innen wichtig ist, wann ich oder andere Sex hatten. Das ist als Antwort ausreichend. Es geht ja nicht unbedingt um mich.
Caro Estrada-Steiger: Ich glaube, es ist auch ein Unterschied, in welcher Situation man solche Sachen gefragt wird, ob die ganze Klasse zuhört oder ob das ein Gespräch ist, wo ich vor einer kleinen Gruppe von Schüler*innen gefragt werde. Also ich versuche schon, möglichst offen und authentisch mit solchen Fragen umzugehen und diese auch zu beantworten. Auch wenn Fragen vielleicht provokant gemeint waren und ich den Verdacht habe, dass sie sich vielleicht gar keine Antwort darauf erwartet hätten. Manchmal ist es auch so, dass sie dann vielleicht überrascht sind von dieser ehrlichen und direkten Antwort und ich dadurch dann die Chance habe, das Blatt zu wenden von einer provokanten Frage hin zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema. Jedenfalls finde ich es wichtig, auf solche Fragen möglichst authentisch zu reagieren. Wenn mir eine Frage wirklich zu weit geht, dann sage ich das auch einfach. Das ist in dem Fall dann meine authentische Antwort darauf.
Marlies Brommer: Manchmal braucht es das. Vielleicht geht es nicht nur um die Fragen, sondern auch um die Klärung der Grenze. Die richtige Distanz zu den Schüler*innen – das finde ich schon wichtig.
Marion Thuswald: Du spricht schon Themen an, über die ich auch gerne reden würde: Grenzen in der pädagogischen Beziehung, Anziehung zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen und Verliebtsein von Schüler*innen in Lehrpersonen. Das sind Herausforderungen, die in der Schule präsent sind und mit denen ein professioneller Umgang gefunden werden muss.
Tobias Dörler: Ja, Grenzen zu ziehen ist wichtig. Wenn Lehrer*innen beispielsweise in ihrer Beziehung labil sind, dann können sie sehr offen dafür sein, dass Schüler*innen private Dinge fragen. Wenn von Schüler*innen positives Feedback auf Persönliches kommt, werden Grenzen vielleicht schneller überschritten. Also nicht wirklich krasse Grenzen, aber der Eindruck entsteht, dass das zu weit geht und die professionelle Ebene abhandenkommt, wenn etwa Schüler*innen Lehrer*innen bei ihren Beziehungsproblemen beraten und sie bestätigen.
Manche Schüler*innen finden es absurd, wenn Lehrer*innen so agieren, andere spielen bis zu einem gewissen Grad mit, oder sie fühlen sich verpflichtet, den Lehrer*innen Anerkennung zu zeigen. Natürlich erscheint es für manche Schüler*innen spannend, wenn man der Lehrperson diese Bestätigung geben kann, an der sie sich anhalten kann – und man sie umgekehrt auch fallen lassen kann. So ein Spiel können Schüler*innen auch spielen. Das passiert nicht auf sexueller Ebene, sondern es geht darum, Zuwendung zu geben und wieder zu entziehen. Es ist absurd, wenn Lehrer*innen sich darauf einlassen, das sollte nicht vorkommen. Denn wer emotional von der Zuwendung von Schüler*innen abhängig ist, kann von ihnen auch verletzt werden. Und sei es etwa auch nur, dass Schüler*innen sich aus dieser Rolle – Lehrer*innen privat Anerkennung oder Zuwendung zu geben – wieder auf eine professionelle Schüler*innen-Rolle zurück begeben wollen. Das alleine kann bei Lehrer*innen in dieser anfälligen Situation schon eine Verletzung hervorrufen.
Und was dann auch schon Thema geworden ist, sind Lehrpersonen die eine Liebesbeziehung mit einer ganz jungen erwachsenen Person haben, die also ähnlich alt ist wie die Schüler*innen. Es beschäftigt die Schüler*innen, wenn ihr Alter mit dem von Lehrpersonen oder deren Beziehungspartner*innen überlappt. Da wollen einzelne Schüler*innen sehr direkt Liebesbeziehungsdetails erfragen. Auch wenn sie selber eine Beziehung zu einer viel älteren Person haben, wird das zum Thema und sie wollen von mir wissen, wie ich mich dazu positioniere.
Marlies Brommer: Ich kenne das auch, dass Schüler*innen in Lehrer*innen verliebt sind. Ich habe das auch mitbekommen bei Kolleginnen, die Liebesbriefe von Schülern bekommen. Da muss man immer wieder Grenzen ziehen und den Schüler*innen klarmachen, dass man als Lehrerin nicht Teil ihrer Gruppe ist, weder vom Alter her noch von der Rolle. Man muss klar kommunizieren ohne sie zu beleidigen. Manchmal können sie noch gar nicht wirklich einordnen, welches Gefühl das ist, das sie empfinden, ob das jetzt Liebe ist oder einfach Wertschätzung für eine Person. Bei den Jüngeren, die zum Beispiel etwas für mich zeichnen, ist es vielleicht Bewunderung oder einfach Zuneigung, vielleicht auch Verliebtsein. Bei den Größeren ist das manchmal ein Spaß, dass sie mir flirtend begegnen. Ich habe schon erlebt, dass sie mich angetanzt haben. Ich spüre da keine Anziehung und finde das dann eher komisch.
Marion Thuswald: Gibt es eine Kommunikation unter Kolleg*innen über diese Erfahrungen?
Marlies Brommer: Es gibt schon Kolleg*innen, die fragen, wie sie tun sollen. Ich habe das Gefühl, es kommt bei jüngeren Kolleginnen öfter vor. Die sind vielleicht noch mehr Projektionsfläche. Männliche Kollegen haben teilweise Angst und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, weil ihnen vorgeworfen werden könnte, sie hätten das provoziert. Das kommt mir schwieriger vor wie vielleicht unter weiblichen Kolleginnen, die das Thema eher humorvoll verhandeln. Für männliche Kollegen ist es schwieriger, wenn Schülerinnen in sie verliebt sind oder Briefe schreiben. Es gibt ja auch Fälle von Übergriffen in Schulen, wo Schülerinnen von Lehrern belästigt werden. Kollegen haben Angst, dass – wenn Schülerinnen ihnen Liebesbriefe schreiben – die Situation quasi umgedreht wird und ihnen Übergriffigkeit vorgeworfen wird.
Caro Estrada-Steiger: Mir ist selbst mal etwas sehr Unangenehmes passiert. Als ich anfangs noch Nachmittagsbetreuung gemacht habe, hat ein Junge bei der Weihnachtsfeier Gitarre gespielt. Das war der Sohn einer Frau, die auch Betreuung an der Schule gemacht hat. Als ich mich für seinen Einsatz bedankt habe, habe ich auch zu ihm gesagt, dass er ganz toll Gitarre spielt. Daraufhin hat er sich laut seiner Mutter leider in mich verliebt. Sie hat es mir erzählt und das sehr lustig gefunden. Ich war jedoch ziemlich schockiert, es war eine skurrile und beschämende Situation für mich. Als es sich dann mal ergeben hat, habe ich mit ihm geredet und erklärt, dass ich um vieles älter und außerdem glücklich verheiratet und seine Lehrerin bin. Ich wollte ihn nicht verletzen oder traurig machen, aber es war mir sehr wichtig, dass er diese Grenze versteht.
Tobias Dörler: Es ist immer auch die Frage, wie viel Anerkennung man welchen Schüler*innen zukommen lässt und wann sie plötzlich auf diese Anerkennung extrem ansprechen, wie in deinem Beispiel. Es gibt Situationen, wo man merkt, dass Schüler*innen ein großes Bedürfnis nach Anerkennung haben. Sie ordnen diese dann aber anders ein als sie gemeint ist. Sie nehmen sie nicht als Anerkennung, die man von einer Lehrperson bekommt, sondern es spricht sie auf einer anderen Ebenen an.
Marion Thuswald: Ihr habt die professionellen Rollen thematisiert. Was wäre eurer Einschätzung nach sinnvoll, um angehende Lehrpersonen gut auf solche Herausforderungen vorzubereiten? Was habt ihr in eurer Ausbildung an Unterstützung, Methoden usw. kennengelernt?
Tobias Dörler: Mir kommt vor, was im Studium in Bezug auf Sexualpädagogik gar nicht Thema ist, sind rechtliche Fragen. Diese erscheinen während des Studiums oft als unwichtig. Aber ich finde diese Fragen sind gerade bei diesem Thema essenziell, also wo sind die rechtlichen Rahmenbedingungen, wo sind die Grenzen davon, welches Detailthema wie in der Schule behandelt werden darf? Vielleicht ist das im Studium noch nicht so spannend, weil manche Fragen erst in der Berufspraxis auftauchen: An wen kann ich mich wenden, um etwa im Voraus oder während der Umsetzung eines sexualpädagogischen Unterrichtskonzeptes, die Involvierung der Eltern oder von den Schüler*innen thematisierte Übergriffigkeiten zu besprechen? Wo bin ich selber zu stark gefordert und brauche andere Personen, die mich unterstützen? usw.
Marlies Brommer: Das Beziehungsgeflecht in der Schule ist einfach kompliziert: Schüler*innen, Kolleg*innen, Eltern, Direktion – man hat so viele unterschiedliche Beziehungen.
Caro Estrada-Steiger: Das finde ich schon auch kompliziert: Einerseits ist Sexualpädagogik ein Unterrichtsprinzip und soll in allen Fächern behandelt werden und andererseits ist man als Lehrperson immer für alle Inhalte voll verantwortlich, auch für die von externen Vortragenden. Ich mache mir schon Sorgen, dass dann auf einmal zu Hause etwas erzählt werden könnte, das vielleicht aus dem Kontext gerissen wurde und in den eigenen Worten der Schüler*innen etwa seltsam klingt. Oder den Eltern aus anderen Gründen nicht passt. Und dass die von mir vorbereiteten Inhalte bzw. die Rolle von Sexualpädagogik im künstlerischen Unterricht dann auf einmal anders betrachtet und generell in Kritik geraten könnte.
Tobias Dörler: Manche Themen bräuchte es dann in der Fortbildung oder Supervision und nicht während des Studiums.
Marlies Brommer: Es muss nicht alles im Studium vorkommen, ja, das stimmt. Viele Themen sind erst in der Praxis interessant. Wen interessiert im dritten Semester des Studiums so ein Thema wie Elternarbeit?
Tobias Dörler: Ich finde es wichtig, Rahmenbedingungen im Studium mitzubekommen, weil ich glaube, dass viele Lehrer*innen das Thema Sexualpädagogik abblocken – aus Angst irgendwelche Grenze zu verletzen. Beispielsweise ein Thema zu behandeln, wo die Eltern hätten einbezogen werden sollen und es das Risiko gibt, dass sich Eltern beschweren. Je mehr mir im Studium die Rahmenbedingungen klar werden, desto mehr kann ich das auch dann später aktiv thematisieren.
Marion Thuswald: Vielleicht hilft es zur Entlastung, sich klar zu machen, dass wir in der Schule nicht nicht-sexualerzieherisch agieren können. Wenn wir sexualpädagogische Themen negieren oder verweigern – was ohnehin schwer möglich ist –, dann ist das auch eine sexualerzieherische Botschaft an die Schüler*innen. Und wir verweigern ihnen damit möglicherweise auch Unterstützung und wichtige Lern- und Bildungsprozesse.
Rafaela Siegenthaler: Gibt es Erfahrungen mit Eltern?
Marlies Brommer: Ich habe einmal mit einer Mutter telefoniert, die gesagt hat, dass sie ‚das‘ schon in der Volksschule verboten hat, weil die Mädchen alle schwanger werden, wenn sie soviel Sexualpädagogik kriegen. Und dann gibt es Eltern, die ihre Kinder zu Hause lassen, wenn sexuelle Themen behandelt werden, das finde ich schwierig. Ich halte das für eine Frage der Kommunikation. Es muss erklärt werden, dass dies ein Lehrinhalt ist, genauso wie die binomische Formel und es eine Teilnahmeverpflichtung für alle gibt. Es ist besser, dass wir uns als Lehrpersonen mit den Eltern konfrontieren, als dass die Kinder dann plötzlich nicht kommen.
Tobias Dörler: Manche Schüler*innen sind auch abgeschreckt, weil sie meinen, dass das Thema ein potentielles Konfliktpotential mit den Eltern darstellen könnte und bei der Besprechung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ausweichen. Mir kommt vor, sie verschließen sich gerade der Vielfaltsperspektive, also alternativen Perspektiven außerhalb von Heterosexualität und Cis-Geschlechtlichkeit. Nicht unbedingt, weil sie diese Perspektive persönlich ablehnen, sondern weil sie meinen, dass ihre Eltern diese Perspektive ablehnen könnten.
Marlies Brommer: Ich habe den Eindruck, viele Eltern können sich auch nicht vorstellen, was Sexualpädagogik bedeutet. Viele denken es geht um Sexstellungen. Sie wissen nicht, dass wir eigentlich ganz viel über Gefühle sprechen, über Wollen und Nicht-Wollen und dass wir Präventionsarbeit machen, um Übergriffe zu verhindern.
Caro Estrada-Steiger: Ich muss gestehen, dass ich mir da schon schwertue, weil wir fast gar keinen Elternkontakt haben, ich kenne die meisten Eltern nicht. Am Elternsprechtag kommt, wenn überhaupt, die Mutter einer Schülerin, die sich besonders für Kunst interessiert. Das war in meiner vorherigen Schule ganz anders. Ich finde es schade und schwierig, dass es so wenig Kontakt mit den Eltern gibt. Und dieser auch erst, wenn überhaupt, zustande kommt, wenn sich die Eltern z.B. an solchen Themen stoßen. Eine gute Gesprächsbasis im Vorfeld wäre da schon hilfreich.
Marion Thuswald: Was Eltern oft gut verstehen ist der Schutz der eigenen Kinder, also der Präventionsgedanke: Wenn Sexualität insgesamt von einem Schleier des Gefährlichen oder Verbotenen umgeben wird, dann ist es schwer für die Schüler*innen ein Gefühl für ihre Grenze zu entwickeln und zwischen Einvernehmlichkeit und Übergriffen zu unterscheiden. Wenn sie keinen positiven Bezug zu Sexualität haben, dann können sie schwerer klar spüren, was übergriffig ist. Deshalb braucht es eigentlich auch aus dem Präventionsgedanken heraus – und der ist ja den meistens Eltern zugänglich – eine Sprache für Körperteile, für Genitalien, für Empfindungen und für sexuelle Handlungen. Wenn das Thema Sexualität insgesamt von sehr viel Scham umgeben ist, ist es viel schwieriger, Übergriffe zu benennen.
Caro Estrada-Steiger: An unserer Schule gab es einen Schüler aus der 5. Klasse [9. Schulstufe], der eine Ausbildung bei Jugend gegen Aids gemacht hat und Peer-to-Peer-Workshops an unserer Schule anbieten wollte. Anfangs war man seitens der Schulleitung von dem Projekt sehr begeistert, dann machte sich jedoch große Verunsicherung breit und diese Workshops wurden an unserer Schule vorerst nicht genehmigt. Der Schüler begann daraufhin Workshops in mehreren anderen Schulen zu halten. Es hat zwei Jahre gedauert, bis der Schüler einen dieser Peer-to-Peer Workshops bei uns halten durfte. Das Konzept dieser Workshops sah vor, dass die Schüler*innen zwar bis zu einem gewissen Grad beaufsichtigt wären, sich die Lehrperson jedoch phasenweise in einen Nebenraum zurückziehen würde, sodass die Schüler*innen ungestört miteinander diskutieren und Fragen stellen könnten. Das wurde nicht gerne gesehen. Es gab diese Angst, die Schüler*innen könnten miteinander über ein heikles Thema sprechen, ohne dass sie dabei von einer Lehrperson beaufsichtigt wären.
Marion Thuswald: Die Schüler*innen reden ja sowieso miteinander.
Marlies Brommer: Im besten Fall reden sie drüber!
Caro Estrada-Steiger: Die Befürchtung war glaube ich tatsächlich, dass die Schüler*innen miteinander über Sex reden, noch dazu im Schulgebäude, ohne Beaufsichtigung. Dies kristallisierte sich während eines Gespräches mit einer befreundeten Kollegin heraus. Ich habe das damals nicht verstanden. Ich habe mir gedacht, es kann doch nichts Besseres passieren, als dass die Schüler*innen angeregt werden, miteinander über diese Themen zu sprechen, noch dazu in einem Setting, wo wissenschaftliche Informationen weitergegeben werden und ein ausgebildeter Peer diese Themen bespricht. Ich finde, je weniger man darüber spricht, desto gefährlicher ist es. Ich muss noch dazu sagen, dass die Peermediation in unserer Schule eigentlich eine lange Tradition hat und sehr gut angenommen wird. Peer-to-Peer Projekte sind also eigentlich nichts Neues oder Ungewohntes in unserer Schule. Ich persönlich finde, dass Peer-to-Peer Projekte, ähnlich wie bei der Gewaltprävention, auch hier ein großes Potential hätten.
Andererseits finde ich es nicht gut ein Thema mit Gewalt durchzupeitschen, wenn es die Schüler*innen selbst ablehnen und zu sagen: „Wir machen jetzt aber ein Projekt zu Sexualpädagogik im BE-Unterricht, ob ihr wollt oder nicht“. Meine Sorge ist, dass sie sich nicht ernst genommen oder respektiert fühlen. Ich finde das ist eine Gratwanderung. Ich denke, man muss die Schüler*innen auch bereits ein bisschen besser kennen, bevor man diese sehr persönlichen Themen aufmacht.
Marion Thuswald: Die Frage ist auch, welchen Zugang man findet. Man muss ihnen ja nicht die Nacktbilder aufzwingen, die sie nicht sehen wollen. Es lässt sich vielleicht aber über Beziehungsformen sprechen oder über Werte und Sexualität. Über die Beschaffenheit von Körpern Bescheid zu wissen, ist jedenfalls für alle wichtig.
Marlies Brommer: Bis zu einem gewissen Grad sind die Themen auch einfach Inhalte in dem künstlerischen Feld, in dem wir arbeiten und welches wir vermitteln wollen. Ich denke, dass – egal welche Religion – auf alle religiösen Gefühle nicht immer Rücksicht genommen werden kann in einer staatlichen Institution.
Caro Estrada-Steiger: Aber dann kann die Lehrer*innen-Schüler*innen-Beziehung darunter leiden. Ich finde es braucht bei dieser Thematik einfach sehr viel Fingerspitzengefühl, was gerade passt und was gerade angenommen werden kann.
Was ich mir sehr gut vorstellen kann ist, das Thema zu verpacken und immer wieder irgendwo einzuweben. Ich glaube, dass die Schüler*innen damit weniger Probleme hätten. Es gibt, denke ich, so eine Grenze, wo es auch für Schüler*innen zu persönlich (und privat) wird. Die Privatsphäre meiner Schüler*innen zu respektieren ist mir jedenfalls sehr wichtig. Ich finde es darf zu keinen Situationen kommen, in welchen Schüler*innen das Gefühl bekommen, sie müssten aus Gruppenzwang heraus oder um eine gute Note zu bekommen Privates preisgeben.
Marlies Brommer: Sexualpädagogik heißt ja nicht, dass sie etwas Persönliches oder Privates sagen müssen.
Rafaela Siegenthaler: Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
[1] Zu dieser Frage siehe folgende Publikationen: Thuswald, Marion/Sattler Elisabeth (2016): teaching desires. Möglichkeitsräume sexueller Bildung im künstlerisch-gestalterischen Unterricht. Wien: Löcker. Schmutzer, Karla/Thuswald, Marion (2019): Mit Bildern zu Lust und Begehren arbeiten. Kunst- und sexualpädagogische Methoden und Materialien für Schule und Lehrer*innenbildung. Hannover: fabrico.
[2] In dieser Schule arbeitet in der Sekundarstufe 1 ein Team von Lehrer*innen mit zwei Klassen eines Jahrgangs zusammen.