We are lost – woher kommt die nächste Kunst? Kommentar zum Beitrag von Johannes M. Hedinger

Nicht mehr aus der schöpferischen Kraft des Menschen heraus, sondern aus der intelligenten Maschine, die ihn künstlich auf körperlicher und mentaler Ebene erweitert, entstehen zukünftig die zeitgenössischen künstlichen Arbeiten, die in der Welt der Künste rezipiert und diskutiert werden.

An die Stelle des Endes des Künstlers und des Endes der Kunst tritt also die Erweiterung des Künstlers, bzw. die Erweiterung der Kunst. Aus eigener Hand bzw. Wahrnehmung und mittels eigener geistiger Anstrengung künstlerisch tätig zu sein, ist nicht mehr notwendig, stattdessen wird diese Form der ästhetischen Praxis ausgeführt von künstlich intelligenten Robotern, die künstliche Kunst durch logische, mathematische Errechnung produzieren. Künstlich künstlerische Tätigkeiten bedürfen dabei bestenfalls der Anleitung und Begleitung durch den Menschen, der also Kraft seines geistigen Vermögens mental operational in Entstehungsprozesse eingreift. Ist das die Zukunftsvision zur Produktion der nächsten Kunst?

Selbstbewusst und -befreiend zu sagen, „ich bin nicht kreativ und das ist auch gut so“, ist inzwischen die grundlegende Voraussetzung, um sich seiner Rolle als Künstler*in heute und morgen bewusst zu sein. Kreative Arbeiten vollrichten kann jeder und künstlerisch tätig zu sein kann heute auch bedeuten, künstlich intelligente Maschinen bei der Ausführung künstlich künstlerischer oder innovativer Arbeiten (vgl. Conti 2016: Minute 13:05) zu steuern und zu begleiten. Sich dem zu widersetzen und das Feld der Künste keiner modernen Digitalität und Robotik zu überlassen, wird dabei, befragt man den eigenen Verstand, zwangsläufig zum Thema.

Der Künstler muss sich also gegenüber der intelligenten, mit wachsender Vielfalt an Fähigkeiten ausgestatteten Robotik behaupten und beweisen. Hier hilft eine Rückbesinnung darauf, was die künstlerische Arbeit in ihrem Kern eigentlich aus- und besonders macht. Lässt sich der schöpferische Akt von Künstler*innen berechnen?

Zumindest ist es heute noch so, dass das menschliche Vermögen, mittels seiner Sinne und Intuition sich und seine Umwelt wahrzunehmen und mit ihr zu kommunizieren, noch von derartiger Komplexität durchzeichnet ist, dass eine Übertragung dieses Vermögens in explizite, logische und eindeutig codierte Regelsysteme (bisher noch) unmöglich ist. Ein viel größerer Teil des Wissens und Denkens des Menschen, welches auch als „schweigendes Wissen“ (Sabisch et al. 2017: 79 nach Polanyi 1959: 73) bezeichnet werden kann, ist ihm also nicht explizit verfügbar und paradoxerweise nimmt genau dieser Teil den entscheidenderen Einfluss auf seine Denk- und Handlungsmechanismen. (vgl. Kahneman 2011: 32 ff.) Gerade künstlerische bzw. ästhetische Praktiken bieten hier die Möglichkeit, diese Facetten einer Einflussnahme aufzudecken. (vgl. Sabisch et al. 2017: 89 f.)

Sich als Künstler*in zu vergegenwärtigen, was die eigene künstlerische Arbeit im Kern ausmacht, könnte ein Anhaltspunkt für eine Grundlage sein, gegenüber modernen, künstlichen Intelligenzen und Robotern Arbeitsfelder zu markieren, die nur aus Menschenhand zu bewerkstelligen sind. Dies erfordert eine fortwährende Reflexion der Wertigkeit und Funktionsweise der Künste und künstlerischen Arbeit im Spannungsfeld mit den Naturwissenschaften und ihren Entwicklungen von künstlich intelligenten Robotiken.

René Descartes’ „ich denke, also bin ich“ umformuliert in ein „ich poste, also bin ich“, muss also nochmals überdacht werden. Sowohl das Denken als auch das Posten (Fake News) sind heute keine Tätigkeiten mehr, die allein dem Menschen zugeschrieben werden können, auch wenn man von der Bedingung ausgeht, dass das Sein an lebendige Materie geknüpft sei. Descartes’ Formulierung müsste dahingehend erweitert und angepasst werden, welche Form des Denkens und davon ausgelöste Möglichkeiten des Handelns dazu führen, dass Menschen nicht durch Technologien zu ersetzen sind. Der hier verfasste Beitrag und Kommentar zu Hedingers „Let´s get lost“ liefert dafür möglicherweise einen ersten Gedankenanstoß.

Literatur

Conti, Maurice (2016): The incredible inventions of intuitive AI. TEDxPortland. Online: https://www.ted.com/talks/maurice_conti_the_incredible_inventions_of_intuitive_ai [15.04.2017].

Kahneman, Daniel (2012): Schnelles Denken, Langsames Denken. München: Siedler Verlag.

Sabisch, Andrea/Wollberg, Ole/Zahn, Manuel (2017): Ästhetische Praxis und Schweigendes Wissen. In: Kraus, Anja/Budde, Jürgen/Hietzge, Maud/Wulf, Christoph (Hrsg.): Handbuch Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen. Weinheim: Beltz Juventa, S. 79-91.

Von Pauline von Katte

Veröffentlicht am 25. November 2017

Themen

Zitiervorschlag

von Katte, Pauline: We are lost – woher kommt die nächste Kunst? Kommentar zum Beitrag von Johannes M. Hedinger, in: Torsten Meyer, Andrea Sabisch, Ole Wollberg, Manuel Zahn (Hg.): Übertrag. Kunst und Pädagogik im Anschluss an Karl-Josef Pazzini, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/we-are-lost-woher-kommt-die-naechste-kunst-kommentar-zum-beitrag-von-johannes-m-hedinger/; Letzter Zugriff: 15.01.2025

Review-Verfahren

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