Was haben Ausstellungsräume und Universitäten gemeinsam? Beiden wird die Funktion zugesprochen, etwas her- und etwas auszustellen, das innerhalb ihrer Räumlichkeiten besondere Geltung erlangt: Kunst im ersten, und akademisches Wissen im zweiten Fall. Das, was hier gezeigt und verhandelt wird, wird durch den Raum, in dem dies geschieht, als Zeig- und Verhandelbares bestätigt. Ausstellungsräume wie Universitäten besitzen die Wirkmächtigkeit, Kunst und Wissen als solche zu legitimieren. Und beide nutzen dies als eine wichtige Ressource, um den eigenen Einflussbereich geltend zu machen. Denn auch bei institutionellen Räumen – dies erforscht das Feld der Raumsoziologie seit den 1970er-Jahren – handelt es sich um etwas Her- und Ausgestelltes. Sie werden durch Handlungen und Praktiken – Regeln, Konventionen, Gesetze und administrative Abläufe – hervorgebracht, welche zwischen dem Zeig-/Sagbaren und dem nicht Zeig-/Sagbaren trennen (Lefebvre 2006 [1974]). Denn nicht alles darf gezeigt und verhandelt werden und nicht jeder darf die Gesten des Zeigens und Verhandelns ausführen. Institutionelle Räume produzieren also Ein- und Ausschlüsse und nehmen dabei eine Differenzierung des Raums vor – sie produzieren Differenz (vgl. Irigaray 2006 [1984]).
Auch der physische Raum spielt bei dieser Differenzproduktion eine Rolle. Er markiert Grenzlinien zwischen dem Innen und dem Außen der Institution, innerhalb derer bestimmte Handlungsweisen gefördert und andere eingegrenzt oder gleich ganz unterbunden werden. Auch wenn die impliziten Botschaften der Architektur – ihre Anweisungen, Verbote und Einladungen – zunächst unauffällig sind, wenn sie gar ganz hinter weißen Wänden und Oberdeckenbeleuchtung zurücktreten sollen, so können sie nicht als neutral bezeichnet werden. Architektur legt Nutzungsweisen nahe, die von den Nutzer*innen mal mehr, mal weniger bewusst angenommen und reproduziert wird. Jede architektonische Anordnung produziert Bedeutung und erlangt damit soziale und politische Wirkmächtigkeit. Doch diese ist niemals ganz statisch, niemals ganz eindeutig, sondern wird besonders in den Momenten ihrer Durchquerung in ihrer Kontingenz adressierbar. Immer dann, wenn die anwesenden Akteur*innen in Verhandlung mit sich selbst und dem Raum treten und die nahegelegten Deutungen, Handlungsweisen und Blickrichtungen infrage stellen.
Eine dieser Akteur*innen, die das Befragen und Verhandeln in besonderer Weise beherrscht und weitere Akteur*innen als Betrachter*innen in ihr Spiel miteinbezieht, ist die Kunst. Was passiert also, wenn die Kunst aus dem Ausstellungsraum in die Universität wandert? Genau gesagt: wenn die Universität durch die Kunst zum Ausstellungsraum wird und dort, anstatt präsentiert und verhandelt zu werden, selbst die Bedingungen ihrer räumlichen, architektonischen und institutionellen Verortung befragt?
Im Sommersemester 2018 stieß man auf dem Außengelände der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln auf sieben Objekte der Künstlerin Mirjam Thomann, die in vielen ihrer Arbeiten die vorliegenden räumlichen, institutionellen, architektonischen und medialen Bedingungen zu ihrem künstlerischen Material macht. Es handelte sich um hüfthohe, karnatfarbene Stahlrundrohrgestelle, die vereinzelt oder in geringem Abstand zueinander rund um das Hauptgebäude der Fakultät platziert wurden. Die temporären Setzungen der Künstlerin markierten Stellen im Außenraum, die man wohl am besten als Orte des Übergangs bezeichnen kann: auf der Wiese vor dem Hauptgebäude, auf dem Parkplatz vor der Fakultätscafeteria oder vor dem Seiteneingang, wo sich die Raucher*innen in den freien Minuten zwischen den Seminaren treffen.
Obwohl die Gestelle auf den ersten Blick entfernt an Elemente eines Leitsystems oder einen Fahrradständer erinnerten, brachen sie durch ihre ungewöhnliche Platzierung und Farbigkeit mit dieser einfachen Zuordnung. Der Titel, Lean in, lässt dagegen an ein Möbel denken, das erst vor Kurzem vermehrt im öffentlichen Raum in Transitzonen und Wartebereichen aufgetaucht ist. Manch einer mag sich an den Versuch erinnern, einen sogenannten Leaning Rail im Nahverkehr benutzt zu haben. Gedacht als „most minimal accommodation“ (vgl. National Association of City Transportation Officials), lassen sich die halbhohen, schräggestellten Flächen jedoch weder als Sitzgelegenheit noch für ein kurzes Nickerchen nutzen. Bestimmt für eilige Pendler, die nicht etwa abhängen, sondern sich vor allem reinhängen wollen, sind die Leaning Rails ausschließlich zum Anlehnen designt. Sie rufen dabei Posen hervor, die als Versuch gelesen werden können, den sich bewegenden Körper räumlich und zeitlich in den beschleunigten Rhythmus von Mobilität und Effizienz einzutakten.
Die fleischfarbenen Bügel von Mirjam Thomann dagegen scheinen keine spezifische Nutzungssituation aufzurufen. Und so muss man ihnen gegenüber eine forschende Haltung einnehmen. Bei der Arbeit Lean in geht es weniger darum, die zeitgenössischen Posen der Mobilität und des Auf-dem-Sprung-Seins einzuüben. Vielmehr erzeugt die potenzielle Funktionslosigkeit der Objekte eine situative Offenheit, die dazu anhält, den eigenen Körper in ein Verhältnis zum umliegenden Raum zu setzen. Indem sich die Gestelle angewöhnten Gesten der Nutzung entziehen, können sie zu prothesenartigen Werkzeugen der Wahrnehmung werden. Sie stoßen eine sinnliche Erkundung der sonst wenig beachteten Ränder der Fakultät an und weisen dorthin, wo nicht wie gewohnt repräsentiert, gezeigt und verhandelt wird: auf die Sphären, in denen das imaginierte Innen und Außen der Institution ineinander übergehen.
Und so gleicht das Abschreiten der einzelnen Arbeiten rund um das Hauptgebäude einem performativen Parcours. Indem die architektonischen Anordnungen der Fakultät durch die Lean ins unterbrochen werden, verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf die Texturen, Perspektiven und Atmosphären der eher abseitigen Bereiche der Fakultät. Welchen Blick eröffnet die Position auf die Außenwände des Gebäudes? Welche Gegenstände strukturieren den Ort und geben ihm seinen Charakter? Wie verhalten sich die Menschen, die hier vorbeikommen? Die durch Thomanns Interventionen vorgenommenen Setzungen schlagen eine tastende Wahrnehmung der Umgebung vor und berühren ein Raumverständnis, dem man sich mit der poetischen Sprache der Philosophin Luce Irigaray nähern kann. Raumerfahrung kommt bei Irigaray einer taktilen Grenzerfahrung gleich, die sich aus dem Aufeinandertreffen in Intervallen des Kontakts und der Trennung ergibt – Körper, die sich annähern, berühren und wieder entfernen: „Der Ort ist in dem Gegenstand und der Gegenstand ist in dem Ort. Der Ort ist innen und außen und er begleitet die Bewegung; er ist deren Ursache und er begleitet sie, in einer Ausdehnung, die ins Unbegrenzte geht. Jeder Ort umschließt den ihm vorgehenden. Bleibt nur die Frage, wo der Übergang, die Schwelle ist, so daß die Ausdehnung stattfinden kann“, schreibt sie in ihrer Abhandlung Der Ort, der Zwischenraum. Eine Lektüre von Aristoteles: Physik IV, 2–5 (Irigaray 2006 [1984]). Zwei sich berührende Determinanten, die in Bewegung einen Zwischenraum bilden – für Irigaray ist dies nicht nur Wesen der Raumerfahrung, sondern auch die Bedingung für das Denken einer Differenz. Ein Denken, das auf der grundsätzlichen Anerkennung und nicht auf hierarchischen Ausschlüssen oder Verdrängung des*der Anderen beruht.
Thomanns Lean ins auf dem Campus der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln lassen sich so als Wegmarken der Erkundung jener Schwellen und Übergänge beschreiben, an denen räumliche Differenz und institutionelle Dispositive durch unerwartete Positionierungen jenseits einstudierter Gesten, Posen, und Perspektiven durchkreuzt und damit verhandelbar werden.
Irigaray, Luce (2006 [1984]): Der Ort, der Zwischenraum. Eine Lektüre von Aristoteles: Physik IV, 2–5. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 244–260.
Lefebvre, Henri (2006 [1974]): Die Produktion des Raums. In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 230–342.
National Association of City Transportation Officials: Transit Street Design Guide. Seating. Leaning Rails. Online: https://nacto.org/publication/transit-street-design-guide/station-stop-elements/stop-elements/seating/ [01.03.2021]
https://nacto.org/publication/transit-street-design-guide/station-stop-elements/stop-elements/seating/ [01.03.2021]