An der Festung rütteln: Aufforderung zur Erschütterung. Kommentar zum Beitrag von Eva Sturm

Ein Begriff, den Eva Sturm auf der Hamburger Tagung zitierte, hat sich zentral in meiner Erinnerung verankert: die „paranoide Festungsmentalität“, die es nach Karl-Josef Pazzini zu lockern gilt. Beim Nachdenken über die Debatten im Warburg-Haus habe ich mein Skizzenbuch durchgeblättert und auch dort taucht er auf. Warum bleibt er zurück? Weil er zur Selbstbefragung auffordert?

Selbstbefragungen – genau das lese ich in Eva Sturms Text, in dem sie sich mit den Potenzialen von kunstpädagogischer „Bildungsarbeit“ auseinandersetzt. Pazzini schreibt, Sturm zitiert: „Die paranoide Festungsmentalität verhandelt nicht, sie muss die Position der Überlegenheit vor der Verhandlung suchen.“ Das fordert jede statische Positionierung heraus. Eva Sturm nimmt diese Selbstbefragung auf. Sie geht den eigenen Optionen der Differenzbildung nach – und das ohne den Gestus des Immer-schon-gewusst-Habens. Es ist ein Verhandlungstext. Er stellt eine Gratwanderung dar – zwischen der kritischen Einsicht in koloniale und damit auch rassistische Verstrickungen, die Bildungsprozesse betreffen können, und der Bewusstheit um die eigene Eingeschriebenheit in Geschichte und Gesellschaft – einkalkuliert: die eigenen Beschränkungen und blinden Flecken.

Eine Gratwanderung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass man sich nicht auf der „sicheren Seite“ weiß, und genau das scheint die Voraussetzung für tatsächlich produktive Verhandlungsprozesse zu sein – die Voraussetzung für das Einreißen, zumindest aber das Öffnen, der Festung. Eine große Aufgabe, ein Kraftakt: der vermeintlichen eigenen Überlegenheit auf die Schliche kommen, sich von sich selbst überrumpeln lassen – sogar von eigener Scham.

In Sturms Text wird deutlich: Die „paranoide Festungsmentalität“ forciert Praktiken des Ein- und Ausschließens, sie operiert mit eindeutigen, nicht verhandelbaren Zuweisungen – statisch, unverrückbar, meist dominant. Festungen machen nicht sichtbar, verdecken, schließen ein, grenzen aus. Eva Sturm geht es hingegen um die Frage nach den Praktiken der Sichtbarmachung. Irritation macht sichtbar. Ihr Seismograph ist – in wertschätzendem Rückbezug auf Pazzini – die „Erschütterung“. Selbstverständlich Unverrückbares wird aufgebrochen, an statischem Gemäuer wird gerüttelt: „Die Irritation ist eine Erschütterung des bislang Nichtbefragten, Unbekannten, Nichtbeachteten“, auch das habe sie von Pazzini gelernt.

In kunstpädagogischen Bildungsprozessen spielt das Sehen, das Hinschauen, häufig eine zentrale Rolle. Genau diese Praxis des Sichtbarwerdens und Sichtbarmachens „am“ und „im Bild“ stellt Eva Sturm zur Debatte. Die Reflexion des „Angeblickt-Werdens“ und der Betrachter*innenposition ist in ihrem Text zentral. Sehen und Macht werden in Beziehung gesetzt. Wenn Susanne von Falkenhausen sich in ihrer Beschäftigung mit Maja und Olympia „dem normativen Programm“ der Gattung des Akts aus einer feministischen Perspektive widmet (vgl. Falkenhausen 2003), so erweitert Eva Sturm diesen kritischen Blick um eine postkoloniale Auseinandersetzung.

In Bezug auf kunstpädagogische Bildungsprozesse erscheint eine solche kolonialismuskritische Auseinandersetzung höchst relevant, denn in diesem Feld sind Aspekte von Migration und vor allem die gesellschaftliche, mithin auch individuelle Verwobenheit in diese Geschichte(n) häufig noch wenig berücksichtigt.

Beim Nachdenken über die künstlerischen Arbeiten von Jean-Ulrick Désert und Hansel Sato, die Eva Sturm zur Debatte stellt, tritt mir prominent Folgendes in den Blick: Es ist das (Ab-) Arbeiten (an und) mit den Überlieferungen einer westlich-eurozentristischen Kunst- und Bildgeschichte. Unweigerlich kommen hier Befragungen des Kanons in den Blick, seine Verwicklungen in eine (post)koloniale Geschichte. Es geht in den thematisierten künstlerischen Interventionen also auch um eine kritische Beschäftigung mit den Ordnungen der Sichtbarkeit, mit Wissensordnungen, mit deren Zuschreibungen, mit deren Etablierung von Zugehörigkeiten. Ein produktiver, nicht zuletzt kunstpädagogischer Bildungsprozess lebt – so meine Lesart von Eva Sturms Beitrag – von den Erschütterungen dieser als selbstverständlich operierenden, mithin rassistischen Wissensordnungen. Ein Anliegen wäre dann, die Dichotomien, die Differenzbildungen, die diese Wissensordnungen konstituieren und stabilisieren, in ihrer aktuellen sowie historischen Verfasstheit zu beleuchten, sie damit zu reflektieren und im besten Falle zu transformieren (schauend, zeichnend, modellierend, lesend, denkend etc.).

Möglicherweise funktioniert dies dann, wenn wir Komplexitätssteigerungen nicht verhindern: Wenn wir die heterogenen Zugehörigkeiten und Differenzen in mehrdimensionalen Kategorien fassen, nicht exklusiv in jenen bekannten homogenisierenden „Groß-Sammelbecken“ von Kultur, Geschlecht, Nation etc.

Wie aber handeln im Feld komplexer Zugehörigkeiten – jenseits des Essenzialismus? Bei Karl-Josef Pazzini und Eva Sturm wird deutlich: Verhandlung kann als Korrektiv fungieren. Den Diskurs suchen, um den Abbau undurchlässiger Festungen ringen: Das ist eine höchst vielversprechende Perspektive. Sie öffnet und destabilisiert zugleich – das muss man wissen und das wissen sie auch, Pazzini und Sturm.

Literatur

Falkenhausen, Susanne von (2003): Maja und Olympia: der Streit um den weiblichen Akt. In: Braunmühl, Claudia von (Hrsg.): Etablierte Wissenschaft und feministische Theorie im Dialog. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, S. 125-133.

Von Katja Hoffmann

Veröffentlicht am 19. April 2024

Zitiervorschlag

Hoffmann, Katja: An der Festung rütteln: Aufforderung zur Erschütterung. Kommentar zum Beitrag von Eva Sturm, in: Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2024. Quelle: https://zkmb.de/an-der-festung-ruetteln-aufforderung-zur-erschuetterung-kommentar-zum-beitrag-von-eva-sturm/; Letzter Zugriff: 14.05.2024

Review-Verfahren

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