Kunst kann einen paradoxalen Aufenthaltsraum bieten, der nicht messerscharf entscheidet zwischen dem Vorstellbaren, dem Berührbaren, den Inhalten und Formen, dem Richtigen und dem Falschen, dem Moralischen und dem Unmoralischen. (Pazzini 2015: 299)
Aktuell kollidiert weltweit ein wahnsinniger und gewalttätiger Ikonoklasmus mit ebenso wahnhafter und totaler Idolatrie. Während die zeitgenössischen Ikonoklasten gewaltsam alle Bilder der anderen zu vernichten suchen, um die Welt buchstäblich eindeutig zu machen, kleiden sich die Bildgläubigen in konfektionierte und sinnentleerte Bilder. Gemeinsam aber glauben alle bzw. nutzen sie gezielt den Glauben an die „dokumentarische“, die beweisende, „wahre“ Dimension der Momentbilder.
Kunstwerke dagegen – wenn sie gelingen, wenn sie angehen [1] – verneinen bzw. öffnen einerseits das Entweder-Oder von Bildverneinung, Zerstörung und Abstraktion im Namen eines Allgemeinen und einen egozentrischen, belanglosen Bildglauben, andererseits befragen sie immer auch den Beweischarakter oder Wahrheitsanspruch der Bilder selbst. Sie können, dort, wo sie auf Wahrnehmende treffen, einen Zwischenraum eröffnen, in dem die Unmöglichkeit des einen wahren Bildes deutlich wird und zugleich die Unumgänglichkeit und Notwendigkeit der Bilder für das persönliche wie das gemeinschaftliche Leben erfahrbar ist.
Bei unseren gemeinsamen Überlegungen zu diesem Konflikt ist uns deutlich geworden, dass die meisten Bilder und Bildwerke von Belang, dass die angehenden, treffenden, die Gegenwart zerreißenden Bilder etwas Gewaltiges und zugleich Gewaltsames in sich tragen, die das „Eigene“, die Voreinstellungen und Gewissheiten stören. Sie wurden geschaffen, um der Begegnung mit dem Unbegreiflichen, dem, was „vom prinzipiell fremden Anderen kommt“, (Pazzini 2015: 292) Raum zu geben. Die in ihnen und über sie statthaben könnende „gesellige Inszenierung einer Beziehung hin zum Transzendenten“ beschreibt Karl-Josef Pazzini als ursprünglichen Grundimpuls des Religiösen, um das Unvorstellbare und Undenkbare mit anderen zu teilen und auszuhalten. Hier eröffnet sich vielleicht der Raum, den Pazzini als „paradoxen Aufenthaltsraum“ (ebd.: 299) charakterisiert hat. Es ist genau diese Setzung einer Beziehung zum Unvorstellbaren, welche die Bildskeptiker und Ikonoklasten provoziert, ge- gen Bilder und Bildwerke, gegen ihre für sie unkalkulierbare, spektakuläre und unerträgliche Macht anzugehen.
Es stellt sich jedoch die Frage, ob man paradoxale Aufenthaltsräume überhaupt gezielt erzeugen kann. Wann ereignen sie sich in der Begegnung mit Kunstwerken und/oder in pädagogischen Prozessen? Wir haben zur Annäherung an eine Antwort einen heterogenen Bilder-Parcours angelegt. Der Parcours beginnt mit Caravaggios Komposition des unmöglichen Gottesbeweises, einem Bild, das uns mitten hinein in die Paradoxie stellt. Danach beschäftigen wir uns mit den von Talibankriegern vernichteten Gottesbildern von Bamyian, des Weiteren mit Robert Morris’ „Untitled. Box for Standing“ im Madrider Museum Reina Sofia sowie mit Birgit Heins Versuch, in „Abstrakter Film“ die Gewalt „an sich“ zu zeigen. Abschließend widmen wir uns einem Video und einem mehrjährigen Projekt von Francis Alÿs, damit einem Künstler, der immer wieder aufs Neue versucht, Räume für Ereignisse zu öffnen, auch auf die Gefahr hin, dass wenig oder fast nichts passiert.
Die gewählten Beispiele konfrontieren auf unterschiedliche Weise mit der Unmöglichkeit der einen Wahrheit und bezeugen aus verschiedenen Perspektiven, dass Wahrheit, wie Pazzini schreibt, „vor allem auch mit der Verarbeitung von Enttäuschung und Trennung zu tun“ hat. Er fügt an: „Wahrheit nenne ich die Berührung mit dem Uneindeutigen, dem Paradox, dem Aushalten der Spannung sowie mit der Aporie. Sie unterscheidet sich von der Richtigkeit, von der Reduzierung auf Regelhaftigkeit; diese würde Komplexität und Singularität ausblenden.“ (Ebd.: 291)
Der ungläubige Thomas im Bild von Caravaggio (1602-03) muss sich versichern. Ihm reicht der Blick auf das Wundmal, auf das Bild der Wunde nicht aus. Er muss zuerst den Finger in die Wunde legen, um zu glauben. Mit diesem Bild ermöglicht uns Caravaggio, einem zwar konzentrierten, zugleich aber blinden Ertasten der Wahrheit zu folgen. Geleitet in der vom Maler suggestiv angelegten Spiralbewegung wandert unser Blick über die Arme, den Kopf Jesu, die Köpfe der hinzudrängenden Zuschauer und den Kopf des Zweiflers, dann über den von Christus geführten Arm bis zur unsichtbaren Spitze des Zeigefingers. Der Finger dreht sich in die Wunde, die der Schwertstich hinterlassen hat, wodurch der Tod Christi am Kreuz sichtbar bewiesen wurde. Mit dem zeigenden Ertasten wird im Bild der Gegenbeweis erbracht. Das Gemälde – anders als eine apparative Momentaufnahme – wurde vom Künstler dicht und komplex komponiert, um die Opposition von Lüge/Schleier/Fetisch auf der einen Seite und Wahrheit/Wort auf der anderen Seite zuzuspitzen. Das Bild führt einen unmöglichen Beweis. Die Szene zeigt sich als Zeugnis einer Wahrheitserfahrung, die dem Bild nicht nur misstraut, sondern es zugunsten einer anderen, einer vermeintlich wahreren, weil greifbaren Realität verwirft, die aber ihrerseits nur im blickenden Betrachten des Bildes eindringlich erfahren werden kann. Wir fühlen den Finger in der Wunde, wir durchdringen mit ihm die Bildoberfläche und ertasten eine an sich unmögliche Dimension: Das Wundmal, in das Thomas, ins dunkle Nichts blickend mit dem Finger eindringt, ist zugleich der Riss im Bild(schirm), durch den „die Wahrheit“ paradoxal Eintritt hat: Die Wahrheit der Auferstehung Christi von den Toten.
Christus erträgt diesen so erfolgten zweiten Stich mit hingebungsvollem Blick auf die eigene Hand, welche die Hand des Zweiflers in die Wunde führt. Ganz anders dagegen schauen die Zeugen der Szene: Sie blicken – wie wir – gebannt und fokussiert auf den Finger in der Wunde, damit auf den vor ihren Augen gezeigten Beweis und Gegenbeweis. Caravaggio eröffnet mit dem Bild einen Raum der „Gesellung“, wie ihn Pazzini mit Bezug auf Freud nennt, in dem wir uns als Betrachter neben die Jünger stellen. „Geselligkeit hat eben eine Voraussetzung darin, dass die Gesellen einen gemeinsamen Lebensraum, einen großen Saal teilen – gerade dann, wenn es keine Lösung gibt.“ (Pazzini 2015: 300) Wir schauen also mit den Jüngern staunend auf die minutiös dargestellte, unmögliche Beweisführung. Zweifel und Beweis werden so ineinander verschlungen, dass uns als Betrachter*innen am Ende nur der Glaube bleibt.
Bildhauen heißt ins Material eindringen: Aus einem Stein oder aus Holz wird ein Bild herausgehauen. Oder andersherum ausgedrückt: Das spätere Bildwerk ist virtuell vor seiner Herausbildung im Stein bereits enthalten. Es wird vom Künstler im Material entdeckt und durch Entfernung des überschüssigen Materials offenbar. Solange man den bildhauerischen Prozess als göttlich inspirierten Akt begriff, ließ sich so eine Beziehung zwischen Offenbarung und göttlicher Wahrheit stiften.
Auch die 53 und 35 Meter hohen Buddha-Statuen von Bamyian sind direkt aus dem Berg herausgearbeitete, gewaltig große Gottesbeweise oder Gottesmahnungen. Sie wurden im sechsten Jahrhundert von buddhistischen Mönchen angefertigt, die zudem Kleidung und Gesichter in mehreren Lehmputzschichten modellierten und im Anschluss die Statuen wie die Nischen, in denen sie standen, bemalten. Die Statuen haben allerdings ihre religiöse Bedeutung und Bindekraft verloren, als sich nach dem Jahr 1000 n. Chr. der bildfeindliche Islam in dieser Region durchsetzte.
Bilddokumente zeigen den antiken Kultort Bamyian vor und nach der Sprengung durch radikalislamische Taliban im März 2001. Dass die Statuen erst zu diesem Zeitpunkt mit einer Fatwa belegt und dann im Namen der Ehre des Islam vollends gesprengt wurden, während in den Jahrhunderten zuvor nur Teile (Gesichter, Bemalung, Hände, Geschlechtsteile) zerstört worden waren, ist natürlich nicht allein naive Reaktion auf ihre „falsche“ religiöse Macht. Die Zerstörung ist vielmehr provozierende Antwort auf die über die Jahrhunderte gewachsene weltweite Anerkennung der Statuen als Kulturdenkmale.
Was ist genau mit der Sprengung der Statuen vernichtet worden? Da unzählige Fotografien ihre vormalige Existenz belegen, verbleibt auch ihre Geschichte in der Welt, ebenso wie die Geschichte ihrer Zerstörung durch Bilder belegt ist. Vor Ort verblieben sind zudem die Höhlen, die entleerten Umräume der gewaltigen Steinskulpturen, die als in den Berg geschlagene Leerstellen auf die vormalige Anwesenheit von etwas und seine nun erfahrbare Abwesenheit verweisen. Sie sind demonstrativer Beleg für die Definitionsmacht der Taliban, welche die Welt ausschließlich im Namen des Islam auslegt.
Verschwunden aber ist der erfahrbare, der sichtbare und zugleich ertastbare Gottesbeweis ebenso wie ein „Raum der Gesellung“ im Angesicht eines Transzendentalen, den alle Religionsgemeinschaften noch heute teilen könnten – so verschieden sie auch sind. Die große Bestürzung der internationalen „Kulturgemeinschaft“ und die – bislang gescheiterten – Anstrengungen zur Rekonstruktion sind in diesem doppelten Verlust zu suchen: Die in den westlichen Gesellschaften permanent erfahrene Unmöglichkeit des Gottesbeweises wird auf den Wunsch einer Rettung der authentischen Zeugnisse der Vergangenheit übertragen, weshalb auch eilig auf den Markt gebrachte chinesische Kopien der Statuen als Kitsch erlebt und verworfen wurden. Die Sprengung erzeugt eine Leere und zugleich eine schmerzliche Verlusterfahrung, weil ein bedeutendes historisches Monument menschlicher Wahrheitssuche vernichtet wurde, das die moderne Diesseitigkeit zu durchbrechen vermochte.
Das Objekt „Untitled. Box for Standing“ (1961) von Robert Morris öffnet die Bildfläche als leeren Umraum, als Nischenraum.[2] Bei Morris wird der leere Raum selbst zum Bildwerk. Von der Nutzung des Bildwerks als Umraum zeugt nur ein kleines schwarzweißes Foto, das den Künstler in der Box abgebildet zeigt. Man könnte sagen: In der Ausstellungsversion erscheint der Mensch vom ausgestellten Objekt „abstrahiert“, d. h. er ist davon abgezogen worden. Die Box – als auf das Maß des stehenden Künstlers bezogener Raum – wird zum abstrakten Raum für einen Abwesenden, gleichsam zu einem offenen Sarg.
Die Box könnte damit als Fühlraum menschlicher Abwesenheit charakterisiert werden. Sie ist, wie Didi-Huberman für die ganze Gruppe der anthropomorphen Minimalobjekte von Morris notiert „(…) ein visuelles Objekt, das den Verlust, die Zerstörung, das Verschwinden der Dinge oder der Körper zeigt.“ (Didi-Huberman 1999: 17)
In seinem Buch „Was wir sehen blickt uns an“ geht es um die paradoxe Figur des Sehens als eines Verlierens. Gerade das minimale Bild(werk) lässt nach Didi-Huberman unser „Sehen in Unruhe“ geraten (ebd.: 79), es fordert ein Sehen heraus, das eben kein Haben ist, kein tautologisches Wiedererkennen, sondern eines, das uns „dialektisch in Beziehung“ (ebd.) bringt zu dem, was wir sehen. Er beginnt seine Überlegungen mit der ästhetischen Erfahrung eines Grabmals, das seinerseits auf jenes deutet, was verloren ist, auf den Körper im Grab. Aber das, was uns im Kern berührt, so Didi-Huberman, ist, dass uns dieses Sehen „mit dem unmöglich zu sehenden Bild dessen konfrontiert, worin ich in meinem eigenen zukünftigen Schicksal eines ausgezehrten, reglosen, bald in einem mehr oder weniger ähnlichen Volumen verschwindenden Körper gleich sein oder ähneln werde.“ (Ebd.: 21) Das, was wir nie sehen werden, ist das Bild unseres eigenen, verstorbenen Körpers. Es ist die Angst davor, nicht zu wissen, was aus unseren Körpern wird. Was sich hier auftut, ist, so Didi-Hubermann, die „Wunde der Angst angesichts des Grabes“ (ebd.: 23). Als „phantasmatische Trostkonstruktion“ (ebd.: 30) gegen diese Angst deutet er die vielen Bilder von Gräbern und fehlenden Körpern in der christlichen Tradition, für die das leere Grab des auferstandenen Christus Modell ist. Er nennt sie „Flucht-Bilder“, Bilder der Flucht vor der Angst vor dem Tod und dem toten Körper, der in der Welt zurückgelassen werden muss.
Bei Morris zeigt ein kleines schwarzweißes Foto neben der Box einen singulären Moment. Man sieht den Künstler darauf mit halbgeschlossenen, niedergeschlagenen Augen wie ein Standbild in seiner Box stehen. Seine Arme hängen schlaff am Körper herab. Er füllt auf eine sehr stille, untätige, rein aufnehmende Weise den Raum, in den er sich selbst gestellt hat – und befindet sich damit in ikonographischer Verwandtschaft nicht nur mit den Buddha-Statuen, sondern auch mit frühchristlichen Standbildern. Morris steht modellhaft in der von ihm geschaffenen abstrakten Form: Als Figur und als Körper. Sein Ausdruck und seine Haltung sind ausdruckslos, vielleicht demütig, vielleicht resignativ, vielleicht ängstlich – angesichts des im Bild erbrachten Beweises: Nichts Anderes, nichts Transzendentes, nur der Mensch befindet sich in und zwischen den Bildern.
Das, was uns an „Untitled. Box for Standing“ angeht, ist die Berührung durch die Konnexion von Abwesenheit und imaginärer Anwesenheit, von Vergeblichkeit und Tod einerseits und Selbstbehauptung und Selbsterhalt andererseits. Dergestalt eröffnet das schlichte Objekt einen Raum, in dem man in eine Auseinandersetzung mit dem Nicht-Wissen eintreten kann.
Für „Rohfilm“ (1968) wurde Filmmaterial buchstäblich bildhauerisch bearbeitet.[3] Die Filmemacher Wilhelm und Birgit Hein wollten die filmische Illusion als Illusion von Bewegung und Lebendigkeit verschwinden lassen und stattdessen eine neue optische Erfahrung ermöglichen. Der Film sollte vor allem zeigen, was Film ist: ein „Häutchen“, engl. film oder dünne Folie, Zelluloid, Kunststoff, die pure, „rohe“ Materialität.
Dafür montierten sie wahllos Filmmaterial und bearbeiteten es zum Teil brutal. Sie verklebten „Dreck, Haare, Asche, Tabak, keine Stückchen von Filmbildern, Randlöcher, perforiertes Klebeband“ (Hein 1971: 149), filmten das Ergebnis ab, behandelten es dann abermals mit Hitze, filmten das Ergebnis wiederum ab, ließen die neuen Filmstreifen mal langsamer mal schneller laufen, filmten auch diesen Zustand ab und so weiter … Die Tonspur gibt am Ende nur noch das Rattern des Abspielgerätes und das Knistern des Zelluloids wieder. (Vgl. ebd.)
„Rohfilm“ zeigt den Betrachter*innen, was sonst unsichtbar bleibt und was sie eigentlich auch nicht sehen wollen, und zwar das Filmmaterial selbst sowie einzig die Spuren aufgenommener Bilder und Bewegungen, die aber keine Geschichten mehr erzählen, sondern nur noch als Erinnerungsfetzen ab und zu aufflackern. Diese Mischung und Rohheit des Films berührt uns und führt den Film als Film in seiner Anfällig- und Vergänglichkeit vor. Es ist die unvermittelte Kollision von illusionistischen Bildresten und sonst verdeckter Materialität, die einen paradoxalen, einen für die Betrachter*innen in keine Richtung auflösbaren Seh- und Fühlraum zwischen Material und Bild schafft.
Knapp ein halbes Jahrhundert später – als das Zelluloid durch digitales Datenmaterial abgelöst ist –, zeigte Birgit Hein 2013 im Kasseler Fridericianum ihr neuestes ca. neun Minuten langes Filmprojekt mit dem Titel „Abstrakter Film“.[4] Auch hier geht es um die zerstörerische und vernichtende Gewalt, die bereits in „Rohfilm“ im Kaputten, Verschmutzten, im Flimmern und Rauschen des Materials ästhetisch spürbar wurde. Nun ist sie jedoch thematische Referenz, der sich Hein mit „abstraktem“ Filmmaterial anzunähern versucht.
Das Ausgangsmaterial ist sogenanntes Raw-Videomaterial, das oft unmittelbar von Amateuren auf Online-Plattformen wie YouTube, Flickr oder Facebook hochgeladen wurde, um es einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die Handyvideos, die von der Künstlerin verarbeitet wurden, dokumentieren den Krieg und die Gewalt vor Ort in Syrien, und Libyen. Dieses Material ist nicht geschönt, nicht ästhetisiert, sondern durch den laienhaften Umgang mit der Kamera geprägt, der das Signum des Authentischen, des unmittelbaren Dabei-gewesen-Seins trägt: ungeschickte Kameraführung, verwackelte, verschwommene Bilder, Rauschen und Störgeräusche auf der Tonspur, die belegen, dass hier nichts inszeniert wurde.
Aus der Fülle des im Internet gesammelten Materials wollte Birgit Hein die Gewalt, das Gewalttätige an sich herausdestillieren. Sie wählte dazu Videosequenzen von Menschen aus, die von dem Kriegsgeschehen selbst betroffen waren und dort unter Beschuss gerieten. Aus den gesammelten Sequenzen isolierte sie allein die Schuss-Szenen, also die Momente, in denen der Prozess des kontrollierten, bewussten Filmens außer Kontrolle geriet (weil der Filmende mit der Kamera in der Hand losrennen musste, um sich in Sicherheit zu bringen, oder weil er hinfiel und die Kamera nicht gestoppt wurde, sondern automatisch weiterlief). „In dem Moment“, sagt Hein, „wo geschossen wird, fliegt das Bild auseinander“ (Hein in Krautkrämer 2014). Das sind für sie die Momente, von denen sie annimmt, dass sie das Sehen öffnen auf das Unfassbare der Gewalt.
Birgit Hein geht davon aus, dass das Einbrechen der Gewalt in den konkreten Situationen, die den mit der Kamera involvierten Beobachter vor Ort zum betroffenen Subjekt der Situation machten, uns als Rezipient*innen ebenfalls unmittelbar in den Kontakt mit dem Realen dieser Situation bringt. Sie behauptet mit ihrem Film, dass das bloß technisch erzeugte Material einen unmittelbaren und zugleich abstrakt allgemeinen Zugang zum Moment der Gewalt schaffe. Durch die schnellen Schnittfolgen der Szenen, in denen „die Bilder auseinanderfliegen“, soll, wie sie betont, ein „Zustand von Gewalt“ (Hein in Krautkrämer 2014) erfahrbar werden. Was wir dann aber tatsächlich sehen in diesem Film sind Bilder, die uns an Collagen erinnern und die impressionistische, sehr malerische Anmutungen haben: Wir denken an Turner, Gerhard Richter, Verwischungen, Unschärfen. Die Bilder sind jedoch derart abstrakt und allgemein, so entkontextualisiert, dass sie uns nicht mehr berühren, sondern beliebig und auswechselbar wirken. Allein die Tonspur irritiert die Schnittfolge, weil sie der Abstraktion entgegenarbeitet und diese in Teilen aufhebt. Im Unterschied aber zu den Bildern bleibt der aufgezeichnete Ton durchaus konkret. Er wirkt jedenfalls weit weniger abstrakt und entmenschlicht und konfrontiert die Rezipienten unausweichlich und immer wieder mit dem kriegerischen Kontext. Er ist zudringlich, dringt ein und ist schwer aushaltbar, man kann sich ihm nicht entziehen, denn das Ohr lässt sich nicht verschließen. Der Ton ist synchron und genau an die einzelnen Bildsequenzen gebunden. Der synchrone Ton verweist somit auf die Realität der Situation, die die Bilder dokumentieren und belegt ihre dokumentarische „Wahrheit“.
Es ist der Sound, der erschreckt und die abstrakten Bilder rückwirkend schrecklich werden lässt. Er wirkt wie eine nachträglich angelegte Beglaubigung des abstrakten Materials, durch die das Anliegen des Films – die Darstellung von Gewalt an sich – gewahrt wird. Denn während die bildlichen Gewaltfragmente einen weiten Spielraum aufmachen, verengt der Sound den Film ganz und gar auf die aneinandergeschnittene Abfolge zugespitzter Schreckensmomente. Immer und immer wieder fallen Schüsse. Wir sind damit in einer aussichtslosen Situation gefangen. Vor den eigentlich leeren Bildern werden wir in einem Zustand der permanenten Betroffenheit fixiert durch das, was der Sound in unserer Phantasie in Bewegung setzt.
Die Konfrontation von abstrakten Bildern und dokumentarischen Sound eröffnet damit gerade keinen „paradoxalen Aufenthaltsraum“, sondern fixiert uns in einer betroffenen fatalistischen Haltung gegenüber dem gesammelten Material. Das ist bereits in Birgit Heins Konzeption begründet. Sie hebt die singuläre Gewalterfahrung in einer allgemeinen Struktur auf und monumentalisiert sie durch Objektivierung, Entzeichlichung und Entkontextualisierung. Damit nimmt die Filmemacherin den einzigartigen Filmfundstücken ihren dokumentarischen Charakter, d. h. ihren an sich selbst durchaus prekären Anspruch darauf, eine vergangene Situation zu bezeugen. Die Reduktion der Auswahl auf die „rein objektiv“ aufgezeichneten Momente zerstört die Referenz auf Wahrheit E.: Denn die im Moment des Kontrollverlusts gesammelten Kamerabilder erscheinen gerade deshalb so allgemein und damit wahrheitslos, weil in ihnen kein Blickender mehr nach einer Wahrheit oder zumindest nach der Möglichkeit der Wahrheit sucht.
Im Unterschied zu Heins Anliegen, die Beobachtungen anderer für wahr zu nehmen und zu einer monumentalen Wahrheit zu vergrößern, nimmt Francis Alÿs abwartend das Geschehen um sich herum wahr, die alltäglichen, banalen Situationen, die ihm überall auf der Welt begegnen. Dabei begrenzt er mit der Kamera die Sichtausschnitte, schafft gewissermaßen Bildrahmen, innerhalb derer sich etwas für ihn und für andere sichtbar ereignen kann. Dass immer etwas geschehen wird, ist für ihn unzweifelhaft, aber was genau und wie es geschieht, mit welcher Intensität etwas geschieht, zeigt sich erst im Ereignis.
Für das Video „Looking up“ (2001)[5] hat er das schlichte Pflaster eines Platzes als Hintergrund gewählt, das er von oben filmt. Zu hören ist ein indefiniter Brei aus Stadtgeräuschen Mexiko-Stadts: Straßenverkehr, Musik, Stimmen, Pfiffe. Vereinzelt laufen Menschen durchs Bild, bis nach knapp einer Minute ein großer Mann in die Mitte des Bildes tritt und nach oben schaut. Er bewegt sich kaum. Nach kurzer Zeit lockt sein Blick nach oben einen ersten Neugierigen an, der sich umdreht und ebenfalls nach oben schaut, sich dann aber schnell wieder abwendet. Weitere Passanten treten hinzu, schauen nach oben, sehen nichts, gehen weiter. Doch jeder, der neben den Mann tritt und nach oben schaut, lockt weitere Zuschauer an, so dass sich nach kurzer Zeit eine ganze Gruppe von Menschen ansammelt, die gemeinsam verwundert nach oben schauen. Der Mann verlässt die Szene und die Zuschaueransammlung löst sich wieder auf.
Ein einziger blickender Mensch irritiert das passive Sehen der Passanten und lenkt ihre Aufmerksamkeit nach oben ins Leere. Es braucht nicht viel, um Nicht-Sehen sichtbar zu machen. Das Video liefert ein Modellbild für die Eröffnung eines beiläufigen paradoxalen Aufenthaltsraums. Die Inszenierung ließe sich überall wiederholen und erzeugte – vermutlich – abermals einen Schnitt im Strom der Zeit und eine befremdliche Unterbrechung des gewohnten Sehens. In allen seinen Arbeiten umkreist Alÿs die Vergeblichkeit, die Traurigkeit und Paradoxie des Lebens und nimmt sie zum Anlass für Verschiebungen und Bewegungen der Wirklichkeit, die er in Bildern festhält. Die Bilder der Verschiebungen, die im deutlichen Unterschied zu er- klärten Utopien stehen, zeugen von der Möglichkeit anderer Erfahrungen und eröffnen Spiel- räume für Zukunft in der Welt. Bisweilen sogar in großem, geradezu gewaltigem Maßstab. So hat Alÿs von 2000 bis 2002 für „When Faith moves mountains“ in Lima, Peru, 800 Freiwillige dazu angestiftet, eine Sanddüne nahe einer armen Vorstadt in der Wüste real und symbolisch zugleich zu verschieben.[6] Mit Schaufeln in der Hand und alle in weißen T-Shirts starteten die Freiwilligen in einer Linie stehend und bewegten in dieser Formation Schritt für Schritt und Sand vor sich her schippend die Düne. Neben vielen Fotografien belegt ein dokumentarisch angelegtes Video das zweijährige Projekt.
Alÿs geht von der genauen Wahrnehmung einer Situation aus, in die er kommt. Er sucht beobachtend nach einer Idee, einem Konzept, das etwas an der Situation trifft und versucht schließlich Menschen davon zu überzeugen, sich auf diese andere, ungewöhnliche Situation einzulassen, die Situation um- oder mitzugestalten. Er plant minutiös, aber das eigentlich besondere Moment seiner künstlerischen Vorgehensweise ist das offene, risikobereite Vertrauen darein, dass etwas passiert. Karl-Josef Pazzini fasst diese Risikobereitschaft wie folgt zusammen: „Das Risiko liegt darin, an einen ungewöhnlichen Prozess und die beteiligten Menschen zu glauben, weil damit das Gewohnte schon verlassen ist. Glauben im Sinn von Alÿs ist das Eingeständnis, dass das Vorhandene nicht alles gewesen sein kann. Es beinhaltet ein Zurücktreten (resignation, heißt es bei Alÿs) von der Forderung nach Totalität und dem Wunsch nach Gewissheit, ein Investment in ein abstraktes, nicht genau umschreibbares Versprechen in die Zukunft.“ (Pazzini 2015: 288)
Ohne Wunder- und Wahrheitsgläubige zu sein, die nach Beglaubigungen suchen oder diese radikal abwehren bzw. vernichten müssen, bemühen sich Künstler*innen, sich und ihre Rezipient*innen mit der Unmöglichkeit der einen Wahrheit und im gleichen Zug mit der Flüchtigkeit und Ambivalenz von Wahrheiten im Plural zu konfrontieren. Pädagog*innen sollten diese offene und abwartende Haltung gegenüber der Wahrheit dessen, von dem gezeugt oder das erzeugt wird, aushalten und teilen. Dann ist es möglich, Kunstwerke als unentschiedene Fühl- und Aufenthaltsräume zu erfahren, in denen wir die gemeinsame Welt als grundsätzlich veränderbar ansehen und denken können.
[1] „Angehen“ steht hier nicht als Floskel, sondern dafür, dass Kunstwerke nicht als Kunst gegeben sind, sondern dass sich ein Bild(werk) als Kunst erst allmählich entfaltet, wenn es viele Menschen über Zeiträume hinweg – durchaus kontrovers – angeht, d. h. angreift und berührt.
[2] Abbildung der Arbeit im Bestand der Sammlung der Reina Sofia, Madrid. Online: http://www.museoreinasofia.es/sites/default/files/obras/AD04898_4.jpg
[3] Rohfilm ist auf YouTube zur Ansicht eingestellt: https://www.youtube.com/watch?v=v-jrN_MVmnM [15.12.2016].
[4] Der Film wurde im Rahmen der Veranstaltung „Schwindel der Wirklichkeit. Die Welt als Bild“ in der Akademie der Künste Berlin gezeigt und ist im Internet abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=o79s60WZHbQ [8.12.2016].
[5] Francis Alÿs stellt das Video zur Ansicht und zum Download auf seiner Homepage zur Verfügung: http://francisalys.com/looking-up [Stand 15.12.2016].
[6] Francis Alÿs stellt das Video zur Ansicht und zum Download auf seiner Homepage zur Verfügung: http://francisalys.com/when-faith-moves-mountains [15.12.2016].
Didi-Huberman, Georges (1999): Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München: Fink.
Hein, Birgit (1971): Film im Underground. Von seinen Anfängen bis zum Unabhängigen Kino. Frankfurt/M.: Ullstein.
Krautkrämer, Florian (2014): Medienspezifik der Revolution – Ein Gespräch mit Birgit Hein zu Abstrakter Film. Online: http://dkritik.de/interview/birgithein [22.4.2016].
Pazzini, Karl-Josef (2015): Bildung vor Bildern. Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse. Bielefeld: Transcript.
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