Grenzen sind wichtige Werte. Damit sie überhaupt bestehen können, werden entgrenzende Diskurse gebraucht. An Grenzen sind Widerstände, real, artifiziell, imaginär oder auch symbolisch. An Widerständen findet Bildung statt. Der Wunsch nach Überwindung von Grenzen mobilisiert, schreckt aber auch ab. Es geht nicht um ein Sowohl-als-Auch, sondern um die Öffnung eines Spannungsfeldes in den individuellen Subjekten, aber auch zwischen unterschiedlichen Subjekten, die in einem Zusammenhang stehen. Zusammenhang kann in Streit und Übereinstimmung gewonnen werden.
Aus dem Konzept zur Tagung sprach – so las ich – eine Sehnsucht nach Vermischung, auch Einebnung von Unterschieden von Kunst und Kunstvollem überhaupt, auch interpretierbar als Wunsch nach Zusammenhang. Das Gefängnis soll verlassen, traditionelle Grenzen überwunden werden. Unklare Zuständigkeiten und Praktiken der Produktion „zwischen“ (Künsten, Moral, Wissenschaft, Recht und Politik), ein erweiterter Begriff von Kunst wurden im Exposé der Tagung bejaht. Die Sehnsucht der Verschmelzung von Kunst und Alltag entspricht nicht zuletzt der Kunst, wie Peter Gorsen schreibt (vgl. Gorsen 1974). Sie hat darin ein Moment, das sie bewegt: aus dem Alltag herauskommen, aus dem Trott des Gewohnten, um zu zeigen, was darin nicht von Übel ist, was ein Zuviel-an-Leid verursacht, den Genuss tödlich werden lässt. Die Grenze ist eine, die dauernd wird und vergeht. Die Grenze kann man aber nicht haben (Abb. 1).
„In einer von kultureller Globalisierung geprägten Welt konturieren sich Praktiken der Produktion von Bedeutung zwischen Künsten, Moral, Wissenschaft, Recht und Politik“ (Meyer/Dick/Moormann 2015).
Ein solches Zwischen ist historisch immer wieder anders bedingt, gegenwärtig z. B. durch die Dauerkrisen der Finanzwirtschaft, die unübersehbar werdenden ökologischen Veränderungen, die als Klimakatastrophen erscheinen, die Entgrenzungen durch Staatszusammenbrüche und folgende Fluchtbewegungen und soziologisch gesehen, die Bedrohung der bürgerlichen Mittelschicht und deren Werte. Lange Zeit nur durch Bestechung von Gehaltserhöhung und Sicherheit von Arbeitsplätzen still und verständig gehalten, entdeckt sie die fehlende Anerkennung, was ein Moment von Bildung sein könnte, und wird aber Pegida.
Diese Krisen durch Datamining, aus z. T. gezielter, vor allem aber flächendeckender Überwachung ohne Verdacht und Intelligenz zu umzäunen, wird schwerlich gelingen, es sei denn mit Gewalt. Denn diese Strategie ist lediglich von einer ziemlich hohen, eindimensionalen Intelligenz bestimmt, die die Berührung scheut, wie einst der Teufel das Weihwasser. Die Feuchtigkeit des Menschlichen wird gemieden, Schweiß, heißer Atem, Sperma, Blut. Die dürfen dann in Reservaten auftauchen, im Porno und in gore-, splatter– und snuff- Filmen; Körper werden geöffnet, Flüssigkeiten treten aus (vgl. Falardeau 2010).
Aber wo es ein Zwischen gibt, wird es irgendeine Form von Grenzen oder Konturen geben müssen, sonst wird alles Brei.
Die Abfolgen von Avant– und Post-, von denen in der Einladung zur Tagung Gebrauch gemacht wird, etablieren Grenzen; es fällt allerdings auf, dass es Avant nicht so häufig gibt. Aber wer Post sagt, ist natürlich Avant.
Mit solchen Grenzziehungen, unsicher und immer wieder neu, gestehen wir uns ein, dass Entwicklungen nicht wirklich beherrschbar und vorhersagbar sind, dass die Rücksicht auch das Gewesene anders erscheinen lässt. Wir werden mit dem Performativen des künstlerischen und wissenschaftlichen Denkens und Handelns konfrontiert; es setzt etwas ins Werk. Es ist self-fulfilling und self-destroying zugleich.
Evaluation von didaktischer Praxis heißt demnach nicht, dass auf etwas so Gewesenes, jetzt datenmäßig Repräsentiertes wertend zurückgeschaut wird, sondern etwas anderes geschaffen wird.
Neben Post kommt ein weiteres Vorzeichen in Gebrauch, Meta, wie das Robin van den Akker und Thimotheus Vermeulen nutzen. Sie sprechen von Metamoderne, das ist das, was mit Moderne und Postmoderne kommt, diese inkludierend, aber nie ganz. Es ist zugleich dahinter, daneben, darüber, eine Anforderung Raum und Zeitkonzepte neu zu denken.
Nicht nur im Gegenstandsbereich der Kunst ergeben sich Veränderungen. Der herkömmliche Begriff der Kunst, verbunden mit dem Attribut der Autonomie war stark an den Festungsmauern eines übersichtlich konturierten Individuums, eines auch mit psychoanalytischen Mitteln zu trainierenden starken, abgegrenzten Ichs gebunden, einerseits. Die Betonung des unhintergehbar Individuellen und dessen Abgrenzung in der Originalität entsprach auf der anderen Seite eine in den Erzählungen zumindest heroische Subversion von Grenzen, einer Überbietung. Es steht offenbar an, neue Arten von Kollektivität und Gruppen zu entwickeln, was in den social media schon einen technisch-sozialen Ausdruck findet.
Eine Spielraumzeit kann erreichen, wer sich methodisch fremd macht, und übt, zwischen Kind- und Erwachsensein sich aus der Reaktivierung des Kindlichen ohne Verleugnung späterer Erfahrungen und Brüche das Potenzial von Neugier und Unbefangenheit – gewarnt – zu erhalten, damit zugleich den Konservatismus der Kinder als Motiv zur Produktion zu nutzen.
Von der heroischen Subversion ablösen kann eine „informierte Naivität“, das, was Adorno als eine Art sekundäre Naivetät, eine Naivetät zweiter Potenz des Künstlers konzipiert (vgl. Adorno 1970: 499ff.) und den „pragmatischen Idealismus“ (Akker/Vermeulen 2015: 21), der fast aller Kunst inhärent ist. Pragmatisch, weil ja etwas zu sehen oder hören usw. gegeben wird, es muss erfindungsreich in einer Praxis hergestellt werden, in jener Praxis des Aristoteles, die im Gegensatz zur gekonnten Poiesis sich auf singuläre Anforderungen einstellt.
Daraus ergeben sich Fragen:
Wir sind damit konfrontiert, dass kaum jemand greifbar ist und sich zu erkennen gäbe, der Grenzen zieht und dafür sich verantwortlich erklärt, auch nicht mit der nötigen Fiktionalität. Foucault hat expliziert, wie das funktioniert (vgl. Foucault 2004a; Foucault 2004b), wie die Dispositive der oft berührungslosen Macht, die leicht in Gewalt kippt, entstehen und damit doch Grenzen setzen. Wobei er die Produktivität und Notwendigkeit der Macht, anders als manche unschuldig gebliebene Pädagogen betont. Die Sozialtechnologie der Macht funktioniert und, indem sie verschwindet, für Adressaten wie Machthaber im klassischen Sinne, wird sie zur netten Gewalt. Z. B. im Smartphone oder in Bürokratien.
In Weltgegenden, in denen nicht die Chance besteht, Gewalt in kulturelle artikulierbare Formen zu bringen, hat man den unerträglichen Vorteil, dass es offen gewaltsam zugeht. Deshalb haben wir ein Flüchtlingsproblem, was aber nicht nur ein Problem ist, sondern auch eine Rettung der vergreisenden Gesellschaft, die so vernünftig geworden ist, dass sie sich mehrheitlich kaum noch mit den anderen Fremden, den Kindern abgeben will, in dem Fehlschluss, dass die rational geplante Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung einen einigermaßen würdigen Abgang der Kranken und Alten schon regelt. Auf diese Art und Weise kommen die Folgen unseres Gewalt- und Aggressionsexportes kombiniert mit dem hausgemachten wieder auf uns zu (Abb. 2). (Das ist aber nur einer von vielen Aspekten der Dynamik der Flucht.)
Diejenige Hochkultur, die sogenannte, die sich mit den Künsten, wie wir sie kannten, entwickelt hat, war Reaktion auf den im Exposé zur Tagung erst für die Gegenwart konstatierten Verlust der „transzendentalen Bezugspunkte“ und konnte so1 auch missbraucht werden als Religion. Religion verstanden in dem Sinne, dass sie im Unterschied zu Wissenschaft und Kunst schon das Richtige gefunden hat, die Wissenschaft die Subjektivität ausschließt, Kunst das Singuläre zu artikulieren und Psychoanalyse schließlich in all diesen Bereichen das Register des Realen zu betonen versucht.
Jede Grenze braucht Bezugspunkte jenseits; „jenseits“ ist eine mögliche Übersetzung von „transzendental“.
Plädieren möchte ich für die Aufrechterhaltung der Autonomie der Kunst, die es nie gegeben hat. Sie wurde und war immer schon gekauft. Aber das ist schließlich notwendig zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels. Autonomie ist Autonomisierung, die sich bricht und berücksichtigt, dass an jedem Hirn ein Darm hängt.2
Die Grenzen werden durch Überschreiten gemacht. Es braucht eines Experimentierfeldes fürs Überschreiten, ohne dass man dabei ins Gefängnis oder in die Psychiatrie kommt (Abb. 3).
Grenzen werden durch und im Kontakt gemacht, durch die dabei deutlich werdende eigene Grenze und die psychisch eingebauten Abstände, d. h. Phantasmen.
Grenzen werden außerdem durch Kontrolle gemacht. Kontrolle über Grenzen zu erlangen ist wichtig, individuell und kollektiv, genauso bedeutend ist allerdings die Art der Kontrolle. Eine Ablehnung der Notwendigkeit von Kontrolle wäre aggressiv und gewaltsam.
Grenzen werden aus Übertragung gemacht, einem Derivat von Liebe, die den Hass im Rücken hat und gehalten wird durch die Beachtung von Einmaligkeit (Trennung und Trauer) im Prozess, eine Zeit-Raum-Koppelung gegenseitiger Hin- und Herwendung.
Wenn man das nicht immer nur mit realen Menschen üben will, die für die alltägliche Existenz notwendig existent und in Verbindung bleiben müssen, braucht es dazu einer geschützten Raumzeit. – Es ist etwas anderes zu wissen, dass man selbst und andere Menschen bis zur Gewalt gehende, auch sexuelle Fantasien haben können, oder ob man beim Besuch einer Ausstellung zum Lebenswerk des Marquis de Sade im Musée d’Orsay auf einmal erlebt, dass es jede Menge Nebenmenschen gibt, die sich für so etwas interessieren – sie haben auch diesen Blick –, wo man momenthaft hofft, dass die anderen Besucher ihre professionelle Besichtigercontenance verlieren oder vielleicht besser doch nicht. Und man merkt, dass man mitten unter ihnen ist, angezogen und gehalten von Bilder- und Blickgrenzen.
Kaum noch in Form von Schlagbäumen3. Sie sind fluid, werden ins Imaginäre abgedrängt, werden unterschiedlich und manchmal gar nicht symbolisiert. Jeder für sich muss sie sich einschreiben (lassen). Das hält nicht von selber, nur mit Energie von innen und außen. Die Leute, die das nicht mehr halten können, viele junge Männer ohne relevante Sozialkontakte, pilgern zum Islamischen Staat. Der IS performiert offenbar in pervertierter Form die Ideale der Moderne als Farce, die Zerstörungsprozesse des Kapitals und die Blasphemie der Aufklärung. Ein Staat ohne wirklich topografisch eingeschriebene Grenzen. Ein performativer Staat. Die Grenzen werden gehalten durch das Existenzgefühl bei Gewaltexzessen. Daran kann ersichtlich werden, welche Energien notwendig sind.
Die Herausarbeitung der Grenzen, gezogen durch eine libertäre Moral, verschwunden in der kaum bewussten Selbstdisziplinierung, braucht eine Chance, kultiviert performativ zur Darstellung zu gelangen (Abb. 4 und 5).
Solche Grenzen sind nicht substanziell zu denken, sie ergeben sich aus Spannungen, Attraktionen und Abstoßungen, Reibungen. Und man wird wohl in Erwägungen ziehen müssen, dass qualitative Zeit als etwas Drittes, als Trennendes fungiert, was dann in einem vierten Moment erzählt werden kann. Deshalb – so spekuliere ich – gibt es Performance, Videoinstallationen und dem Theater stark angenäherte Formen der Kunstproduktion auch aus Richtung der Bildenden Kunst. In ihnen artikuliert das (abgegrenzt gedachte) Individuum notwendige, ziemlich weitgehende Änderungsprozesse.
Eine weitere Passage im Konzept der Tagung ließ mich einhaken:
„Mit dem postautonomen Verständnis von Kunst gehen zwei Bewegungen einher: Zum einen wird im Zuge eines konsequenten Weltlichwerdens die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst destabilisiert, zum anderen vernetzen sich die Künste untereinander. Transzendentale Bezugspunkte für die traditionellen Sparten der Hochkultur gibt es nicht mehr“.
Das Weltlichwerden soll destabilisieren. Destabilisierung ist Resultat des Kapitalprozesses, der offenbar seine autodestruktiven Seiten immer mehr zeigt:
„Der Kapitalismus funktioniert anders, als die Werbung oder auch viele seiner Kritiker suggerieren: Es geht gar nicht um die Waren, die wir konsumieren. Die Produkte sind nur Hilfsmittel für einen höheren Zweck. Das Endziel sind die Arbeitsplätze. Wir arbeiten, um zu arbeiten. Denn nur wer Arbeit hat, hat Einkommen, Sicherheit und Anerkennung.“ (Herrmann, 2015: 3)
Da steckt das Transzendentale des Kapitalismus, jenseits der Wahrnehmung und sogar dieser widersprechend. Sie ist höllisch gefährlich und mindestens genauso schwer zu bekämpfen, wie seinerzeit das mittelalterlich kirchlich produzierte Jenseits, das pervertiert war. Die Kritik an dieser Jenseitigkeit, die praktische Kritik wohlgemerkt, gilt es zu entwickeln, und dies nicht nur übers Denken, sondern sinnlich erfahrbar.
Dass die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst destabilisiert wird, ist ein Epiphänomen gelungener Kunstvermittlung in Kombination mit Kapitalisierungsprozessen. Es kann aber nur Argument für eine weitere Autonomisierung der Kunst sein.
Das Weltlichwerden als eine Übersetzung von mondialisation ruft die Erinnerung an Säkularisierung auf, eine Überwindung von Religion oder das Beiseitestellen derselben in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen (Kopftuchdebatten). Es geht demnach auch um eine Art Entsakralisierung4. Dabei wird der Verlust von transzendentalen Bezugspunkten festgestellt.
Beide Bezeichnungen, mondialisation und Globalisierung, legen nahe, dass man damit schon eine Erfahrung thematisieren würde. Aber wo ist der Standort, von dem aus eine solche Erfahrung möglich ist? Die Verschränkung mit der Erfahrung von Gruppen und Einzelnen muss erst geschaffen werden als Erfahrung, als Wahrnehmung und nicht nur in Form der Gehirnsinnlichkeit.
Letztere hat den Vorteil, sehr schnell sein zu können, aber oft zu widerstandslos, um Halt für eine Handlungsfähigkeit zu finden (agency). Eine „glokalisierte Perspektive“ (Akker 2015: 16) braucht veränderte Darstellungsformen (Abb. 6 und 7).
Transzendental reserviert Kant für eine erkenntnistheoretische Fragestellung. Es seien die allgemein-notwendigen Bedingungen einer jeden Erkenntnis. So z. B. „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was garnicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein“ (Kant, 1783: B 131-132).
Das Denken, die dauernde Vigilanz wird zu einem Begleiter, wie heute NSA.
Die transzendentale Bedingung des Kapitalprozesses ist bisher das Wachstum. Es liegt als Bedingung außerhalb des normalen Kategorien- und Handlungsrahmens. Deren Anschluss an intentionale Handlungsmöglichkeiten ist vorerst nicht gegeben. Da entzieht sich etwas den bisherigen Veränderungsmöglichkeiten. Sie werden dann vorsichtshalber als allgemein notwendige und ontologische Bedingungen bezeichnet. Damit wird die Grenze zwischen transzendental und transzendent sehr porös, bis zum Verschwinden.
Der im Konzept der Tagung erwähnte Verlust von transzendentalen Bezugspunkten ist genau dieses Hinüberrutschen ins Transzendente, wohin Wahrnehmung, Gefühls- und Denkanstrengungen nicht reichen. Die Bezugspunkte scheinen ins Unbewusste gerutscht zu sein, die freiwillige Selbstkontrolle hat sie eskamotiert. Magic! Es gilt, sie zu entdecken.
Beispiel Polke: die anfängliche Form, sich dagegen zu wehren, ist, sich darüber lustig zu machen (Abb. 8).
Mit dem Verlust des Transzendentalen wird der Verlust der Reinheit (White cube) in Verbindung gebracht. Verlust der Unschuld ließe sich übersetzen. Das einzugestehen geht nicht isoliert und in Einsamkeit, sondern kann nur in Gruppen und Kollektiven getragen werden, die auch in der Lage sind, die Schuld zu artikulieren, weil sonst Schuldgefühle als Ersatzklebstoff das Leben bis zur dumpfesten Depression bringen.
Kunst hat eine wichtige Möglichkeit, die darin besteht, Transmission (unbewusste Weitergabe) als Traumata, unerfüllte Wünsche, Verbrechen und Konflikte im allgemeinen, die sich über Generationen hinweg weitergeben an den Bildungen des Unbewussten (Fehlhandlungen, Fehlleistungen, Träumen, Symptomen, Verdichtungen, Verschiebungen) zu erwischen, zu artikulieren und diskutierbar zu machen. Vielleicht mit dem Kontrastmittel der Tradition (intendierte Weitergabe) als Vergrößerungsglas.
„Global Contemporary“, also eine Entgrenzung der rationalistischen Linearität der Zeitordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft etabliert eine neue Qualität von Zeit: Contemporalität: zusammen in der gleichen Zeit sein. Das deutsche Wort Zeitgenossenschaft bringt noch etwas ganz anderes dabei hervor: Die Genossen, das sind also die, die zur gleichen Zeit genießen, die vielleicht die gleiche Zeit genießen. Und das bringe ich als Analytiker auch damit zusammen, dass Genuss auch jenseits des Lustprinzips – Lacan spricht von jouissance) stattfindet, gerade vielleicht dort, als nicht zulässige. Jenseits der gewohnten Verminderung der Anspannung, die das Lustprinzip eben durch Befriedigung, am besten durch konventionalisierte, moralisch so gerade eben noch anerkannte Spannungsreduktion zulässt und so ganz schnell realistischer als das Realitätsprinzip wird. Genuss ist auch jener Gebrauch von Lebensenergie, jener Selbstverbrauch, der durch die Berührung mit dem Realen, dem Schmerz, der ungeschützten Offenheit, am Rande der Schädlichkeit bis hin zum Tödlichen begegnet. Das ist das, was an der psychotischen Struktur so weh tut und so anziehend ist, manchmal ist es das dumpfe Hochgefühl, sich in Existenz zu fühlen.
Darin verschmilzt die Linearität der Zeit zu einer rotierenden Ballung von Vergangenheit, Zukunft und vor allem Gegenwart. Das macht es so schwer mit diesen Menschen in Kontakt zu sein, das macht dieses Erleben so faszinierend, weil die meisten von der Linearität der Zeit Besessenen nichts sehnlicher wünschen als präsent zu sein, geistesgegenwärtig, was auch eine große Maschine zur Schuldtilgung ist. Da das, was jemand schuldig blieb im Sinne, dass da etwas offen blieb, aber nicht artikuliert werden kann, entstehen als Bindemittel stattdessen klebrige Schuldgefühle. Diese können in einen strukturierten Wahn übergehen, deutlich im Beziehungs-, Verfolgungs-, Verschwörungs- und Liebeswahn.
Alle diese Punkte könnte man zusammenfassend bezeichnen als Religionskritik, bis zu einer Kritik des Fundamentalismus oder, was dasselbe ist, als dauernde Aufforderung, sich den fixen Ideen und deren Fleischwerdung bzw. gewaltsamen Realisierung zu entziehen.
Autonomie heißt hier, wie auch für die Geistesgegenwartswissenschaft, dass es einen Schonraum für unverschämte Bildungen in Rede und Bild zu verteidigen gibt, der nicht von Diktatoren oder Fundamentalisten einfach eingezogen werden kann.
Es braucht einen Freiraum, erzielt durch Überraschungen, also Beschleunigungen. Vielleicht auch Tempowechsel: Es kann eine Überraschung sein, abzubremsen, zu verlangsamen. Keine Überraschung ist das Ideal der Langsamkeit an sich, das ist eher ein Konservatorium.
Man kann auch sagen: Erforderlich ist ein Rhythmuswechsel, mit einer starken Ausrichtung, tangential, nicht unbedingt zielführend. Denn wer kennt schon die Ziele. Es gibt zwei Möglichkeiten: 1. Man lehnt sich zurück, verletzt, enttäuscht, trauernd, übermüdet, ungesehen, nicht anerkannt (All das wird mit der Restmülldiagnose „Depression“ bedacht). 2. Man richtet sich aus und kommt woanders an, als man kalkulierte.
Die Kunst im Exposé der Tagung ist das Gespenst einer unschädlich gemachten Kunst, die in den Status der Verehrung gepusht wurde, zuletzt vom Heiligen Markt. Selbst die durchaus berechtigte Kritik tut noch so, als wäre den Kunstreligiösen gelungen, was sie gewünscht haben. Und wie das bei Religiösen oft ist: Sie tun nur so.
Wie kann mit Kunst über Grenzen, Entgrenzung, Orientierung ohne feste Bezugspunkte nachgedacht und vor allem gehandelt werden?
1 In diesem „so“ stecken viele Bücher.
2 Wenn mich nicht alles täuscht, hat das Werner Büttner gesagt. Aber wo und wann?
3 Wie aktuell zu erfahren ist. 29.10.2015.
4 Sakralisierung kann man von der Bedeutung des römischen Gebrauchs auch lesen als eine aus dem alltäglichen, gesellschaftlichen Leben ausgegrenzte Zone.
Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie. In: Tiedemann, Rolf unter Mitwirkung von Adorno, Gretel, Buck-Morss, Susan und Schultz, Klaus (Hrsg.): Gesammelte Schriften Bd. 7. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Akker, Robert van den/Vermeulen, Timotheus (2015): Anmerkungen zur Metamoderne (Übers. Wagner, Elias). Hamburg: Uhlenhorst.
Falardeau, Éric (2010): Vers une exposition de la haine: gore, pornographie et fluides corporels. Saarbrücken: Éditions universitaires européennes. Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften.
Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
Gorsen, Peter (1974): Transformierte Alltäglichkeit oder Transzendenz der Kunst. In: Brückner, Peter et al. (Hrsg.): Das Unvermögen der Realität. Beiträge zu einer anderen materialistischen Ästhetik. Berlin: Wagenbach, S. 129-154.
Herrmann, Ulrike (2015): Über das Ende des Kapitalismus. In: Le Monde Diplomatique, 9.4.2015, 3. Online: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2015/04/10.mondeText1.artikel,a0016.idx,5 [16.4.2016].
Kaminski, Astrid (2015): Auf der Grenze. You and me. In: frieze, 25. Jg., Nr. 20, S. 26-28.
Kant, Immanuel (1990 [1783]): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner, 3 Aufl.
Lorenz, Renate (Hrsg.) (2014): Not Now! Now! Chronopolitics, Art & Research. Berlin: Sternberg Press.
McLean-Ferris, Laura (2015): Can You Feel It? Körper und Seele unter Leistungsdruck: die Performance-Arbeiten von Alexandra Bachzetsis. In: frieze, 25. Jg., Nr. 20, S. 90-95.
Meyer, Torsten/Dick, Julia/Moormann, Peter (2015): Bildung nach der Entgrenzung der Künste. In: where the magic happens. Tagungsbroschüre. Köln: Universität zu Köln, o. S.
Abb. 1: Schaufenster Köln 2015, Dom Hotel, Foto: kjp.
Abb. 2: Adel Abdessemed: Je suis innocent. Centre Pompidou. 2012-2013, Foto: kjp.
Abb. 3: Francis Alÿs: The Green Line. Jerusalem 2004. Online: www.art-magazin.de/kunst/30661/francis_al˙s_tate_modern?cp=2 [23.12.2015].
Abb. 4: Capital auf der Durchfahrt. Buchholz in der Nordheide, Foto: kjp.
Abb. 5: Diego Velázquez, 1648–1651: Venus vor dem Spiegel. Öl auf Leinwand, 122,5 × 177 cm.
National Gallery (London). Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Venus_vor_dem_Spiegel#/ media/File:RokebyVenus.jpg [23.12.2015].
Abb. 6: Körpergrenzen in Artikulation. In: McLean-Ferris, Laura (2015): Can You Feel Me. Körper und Seele unter Leistungsdruck: die Performance-Arbeiten von Alexandra Bachzetsis. In: frieze, 25. Jg., Nr. 20, S. 90-95, hier: S. 91f.
Abb. 7: Capitalism is Dead. FAZ 20.05.2009, S. 31.
Abb. 8: Sigmar Polke: Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen!, 1969. Courtesy of Froehlich Collection, Stuttgart. Online: http://thisblueboy.tumblr.com/post/20265393185/sigmar-polke-higher-powers-command-paint-the [23.12.2015].