Der in der Zeitschrift für Kunst Medien Bildung (zkmb) erschienene Text von Kirschenmann bewegt sich im Diskurs von Kunst, Kunstkritik, Kunstpädagogik und Bildung. Nach Aussage des Autors „diskutiert [der Beitrag, Anm. A.S.] mit Blick auf Konzept und Werke der dOCUMENTA (13) pädagogische Aspekte von Bildung in der Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst“ als leitende Fragestellung dieses Textes.
Versucht man den Argumentationsgang des Textes nachzuvollziehen, so geht es zunächst um eine Auseinandersetzung mit den in der kunstpädagogischen Zeitschrift Kunst + Unterricht verhandelten Documenta-Ausstellungen seit 1968, an dem der Autor das Verhältnis der Kunstdidaktik zur Kunst ausloten möchte. Als Begründung für die nicht repräsentative Textauswahl gibt Kirschenmann lediglich die Auflagenstärke der Zeitschrift an, die er selbst mit herausgibt. Aber was besagen diese Aspekte im Hinblick auf Bildungschancen?
Der Autor will zwei Ebenen unterscheiden: eine „immanente Ebene des Wissens um die Entwicklung der Kunst und ihrer selektiven Präsentation bei den jeweiligen documenta-Ausstellungen. Viel wesentlicher erscheint mir ein Bildungsbegriff, der Bildung als pädagogischen und kunstpädagogischen Prozess abseits des elitären Kunstdiskurses unaufgeregt diskutiert. Nicht die groteske Stilisierung des Selbstverständlichen als Innovation, geadelt mit der Etikette „documenta“ soll hier als Wundertüte voller spektakulärer Methoden erörtert werden.“ Es geht ihm also um eine Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff. Inwiefern dieser Abschnitt etwas dazu beiträgt, bleibt indessen ungesagt.
Der nächste Absatz besteht in einer nicht durchgängig mit Quellen unterlegten „Interpretation“ aller bisherigen Documenta-Ausstellungen auf ca. einer DINA4-Seite. Während die ersten neun Weltausstellungen Kirschenmann zufolge „weitgehend dem tradierten, unausgesprochen und selbstverständlichen Anspruch der Ausstellungsreihe, mit ihrem Fokus, das zu präsentieren, was der jeweilige Kurator als zeitgenössische Kunst im Augenblick definierte“, liege der diesjährigen Documenta nach Kimpel keine „objektive Dokumentierungsabsicht“ mehr zugrunde. Da das Kimpel-Zitat für sich sprechen soll und nicht weiter moderiert wird, erfährt man weder, ob der Verfasser diese Ansicht teilt, ob er diese mangelnde Absicht als Verlust betrachtet oder nicht, noch, welche Konsequenz dies für Bildungsprozesse haben könnte. Überhaupt scheint sich der Autor selbst zu widersprechen, wenn er einerseits den ganzen Absatz darauf hin ausrichtet, was die letzte Documenta vermeintlich gerade nicht tut, will oder kann, dann aber ausrechnet diese Ausstellung als Beispiel für die Frage nach den Bildungsprozessen heranzieht: „Doch für eine pädagogische Perspektive bleibt die pointierte Frage außerhalb des Kunstdiskurses [darunter versteht der Verfasser die Frage, was unter Kunst zu verstehen sei, Anm. A.S.]: Was leistet die dOCUMENTA (13) für einen kunstpädagogischen Bildungsprozess?“
Neben der Frage nach dem Sinn dieses Abschnitts stellt sich mir die Frage, welche Kriterien dieser stark verkürzten „Interpretation“ zugrunde liegen und wozu sie eigentlich dienen soll. Soll hier die „immanente Ebene des Wissens“ demonstriert werden? Wozu wird dann dieser stark bewertende Gestus bemüht, der weder begründet noch genauer ausgeführt wird, wie z.B. in der Passage zur Documenta 12: „Und 2007 blieb trotz der programmatischen Frage des Kuratorenteams ‚Bildung – was tun?‘ wenig, außer einem mäßig kuratiertem Gemischtwarenladen.“ Wie kommt es zu einer derartig polemischen und methodisch so unreflektierten Aneinanderreihung von Meinungen? Was trägt dies zum wissenschaftlichen Diskurs über Kunst und Bildung bei?
Der dritte Abschnitt, betitelt mit „Differenzerfahrung – nah am Leben“, beginnt mit der genannten Frage des Autors: „Was leistet die dOCUMENTA (13) für einen kunstpädagogischen Bildungsprozess?“ Erwartet man hier eine spezifische Auseinandersetzung mit der Kunstausstellung und deren Bildungspotentialen oder eine theoretische Grundlegung des Bildungsbegriffs, wird man enttäuscht. Dieser Abschnitt besteht aus diversen fragmentierten Thesen, Behauptungen und Setzungen, die eher additiv aneinandergereiht, denn argumentiert werden. Daher sind sie schwer zusammenzufassen und sollen im Folgenden detailliert nachgezeichnet werden, um die Problematik dieser Schreibweise deutlich zu machen.
Zuerst äußert Kirschenmann eine „Behauptung“, die sich weder auf bildungstheoretische Diskurse bezieht noch genauer ausgeführt wird: „Kunstpädagogische Bildung gelingt aus Differenzerfahrung als Motor der Erkenntnis. Es geht um eine Differenz, die im dialogisierenden Reflektieren Kohärenz begünstigt. Differenz und Reflexion stützen so eine sich konturierende, immer wieder fragmentierte Identität.“ Folgt man zunächst der Annahme einer „Differenzerfahrung als Motor der Erkenntnis“, die philosophische Quellen zugrunde legt ohne sie zu nennen und die keineswegs nur eine Behauptung des Autors darstellt, sind die folgenden Sätze merkwürdige Setzungen, die m.E. jeglicher Theoriebildung entbehren.
Erstens setzt der Verfasser voraus, dass man Differenzen einfach so identifizieren und reflektieren identifizieren könne. Zweitens behauptet er, dass die Differenz „im dialogisierenden Reflektieren Kohärenz begünstigt“. Was für eine Kohärenz, was für ein Zusammenhang ist hier gemeint? Wieso, inwiefern und wozu sollte eine Differenz im Gespräch eine Kohärenz begünstigen? Drittens unterstellt er eine Identität, vermutlich des Bildungssubjekts, die durch „Differenz und Reflexion“ gestützt werde. Auch hier stellen sich Fragen: Wie ist das zu verstehen? Worin besteht das Argument? Wie kommt es zu diesen referenzlosen „Meinungen“?
Der Verfasser schreibt weiter: „Dabei leitet nicht die Frage ‚Was ist Kunst‘, sondern ‚Wann ist Kunst, unter welchen Bedingungen‘ (Danto)?(1) Kunst als pädagogisches Medium existiert erst, wenn man sie gemeinsam betrachtet und erörtert – ein kunstpädagogisches Kerngeschäft. Dabei geht es nicht um das Verteilen von Noten, sondern um Auseinandersetzung mit den Offerten der Künstler.“
Nicht nur die Aneinanderreihung solch disparater, stets unbegründeter und verkürzter Aussagen erschwert den Nachvollzug, sondern auch der gleichzeitig belehrende Duktus, der – getarnt als „Nachdenkangebote und im Nachdenken über die größeren Zusammenhänge“ so tut, als könne der Autor dem unwissenden Laien in drei Sätzen den Zusammenhang von Kunst und Bildung erklären.
Zudem widersprechen sich auch die Behauptungen und Setzungen zu den eigenen Ausführungen, denn als nächstes stellt er selbst die Frage „Was ist Kunst?“ Laut Kirschenmann sei Kunst als etwas zu verstehen, was zum Nachdenken anstoße, „was die Welt als Lebensform und als Lebensverhältnisse nicht mehr ab[bilde, AS]“ (als hätte sie das je getan, Anm. AS), als Differenz zum Alltag sowie als „Repräsentation einer Präsentation“. Ist es wirklich so einfach? Bietet Kunst lediglich dadurch Bildungspotentiale, weil sie weder alltäglich ist noch den Alltag abbildet? Dann wäre jede spezifische Kunsterfahrung und auch die Frage nach der diesjährigen Documenta für die weitere Argumentation hinfällig. Nach Kirschenmann werde Kunst „zum Aggregat von Bildung“, sofern sie einen Spannungsbogen „zwischen Gezeigtem und dem Möglichem“ stifte und durch ein „sehendes Sehen“ (nach Imdahl), „ein die Differenz aufspürendes und sprachlich benennendes Sehen geleitet“ werde. Ich frage mich, wie man denn ein „sehendes Sehen“ herbeiführen kann, um welche Differenzen es hier geht und wie ein „sprachlich benennendes Sehen“ im Kontext ästhetischer Erfahrungen zu denken sei. Nichts dergleichen wird ausgeführt, konkretisiert, theoretisch hergeleitet. Stattdessen benennt der Verfasser eine zeitliche Stufenfolge des Bildungsprozesses: „Dann führt dieses sehende Sehen in einem zweiten Schritt der spekulierenden, hermeneutisch balancierenden Verknüpfung hinein in die Fragen einer sich ‚bildenden Identität’“. Die Formel á la Kirschenmann in Bezug auf Bering hieße dann: Sehendes Sehen und sprachlich benennendes Sehen (Schritt 1) + hermeneutischer Prozess integriert in Identitätsbildung (Schritt 2) = Bildung (3). Bildung wird als zeitliche Stufenfolge gedacht, in der das sehende Sehen und das sprachliche benennende Sehen im ersten Schritt zunächst isoliert werden, um dann den hermeneutischen Akt und die Identitätsbildung später zu vollziehen. Was trägt eine so schlicht gedachte zeitliche Prozessualität aus? Zudem entbehrt der eklektizistische Gestus des Schreibenden, der jeder bildungstheoretischen und – trotz stetiger Zitation – jeglicher wissenschaftlichen Fundierung.
Die Verkennung von komplexen Zusammenhängen zeigt sich besonders deutlich im folgenden Abschnitt über „Die drei Kompetenzen der Kunstpädagogik“: „Die Kunstpädagogik führt die wahrgenommene, gespürte, erfahrene Differenz als Dialog und Recherche zurück zu einer Reduktion – nur in Reduktion gelingt kohärente Identität, die in einer fragmentierten Welt aus These und Gegenthese, aus Übereinstimmung und Widerspruch sich bildet und doch notwendigerweise Fragment bleibt. Solch ein Bildungsprozess ist nicht an einem Wissen über Gegenwartskunst orientiert, sondern zielt auf spezifische Kompetenzen, also die klassischen basalen Fertigkeiten und Fähigkeiten als methodische Instrumente der Auseinandersetzung mit Welt, die das Subjekt im Umgang mit Kunst ausbilden kann.“
Man kann hier viele Fragen zu den ungeklärten Begriffen der „Reduktion“, „Bildung“, „Differenz“ und „Kompetenz“ stellen, sowie zu den stets nur diffus angedeuteten Zusammenhängen. Um die Splitter dieser vermeintlichen Argumentation ansatzweise nachvollziehen zu können, beschränke ich mich auf einige Setzungen. Die Funktion der Kunstpädagogik sieht der Autor darin, die bereits beschriebene Differenzerfahrung zurückzuführen „zu einer Reduktion“ (was immer dieser Satz bedeuten mag) mit dem geheimen Ziel einer „kohärenten Identität“, die jedoch „Fragment bleibt“. Wurde die Differenzerfahrung anfangs noch als Motor der Erkenntnis beschrieben, soll sie nun reduziert werden. Wurde im Texteingang noch die Differenz beschworen, die „im dialogisierenden Reflektieren Kohärenz begünstigt“, so heißt es nun: „nur in Reduktion gelingt kohärente Identität“. Wurde einführend gefragt, was die dOCUMENTA (13) für einen kunstpädagogischen Bildungsprozess leiste, so heißt es nun „solch ein Bildungsprozess ist nicht an einem Wissen über Gegenwartskunst orientiert“, ziele jedoch auf „Kompetenzen“ (sic!), „die das Subjekt im Umgang mit Kunst ausbilden kann.“ Wie dies geschehen kann, wird durch „drei zentrale Kompetenzdimensionen“, die der Autor vorschlägt, wieder nur angedeutet: die „Staunkompetenz“, die „Widerspruchskompetenz“ und die „Autonomiekompetenz“. Entgegen aktueller philosophischer und pädagogischer Annahmen der Unverfügbarkeit des Staunens(2) (man kann nicht einfach staunen wollen) oder der Autonomie(3) unterstellt Kirschenmann nicht nur eine prinzipielle, sondern eine direkt ableitbare Lehrbarkeit: Aus einer „Störung der Routinen im Sehen, Wahrnehmen und letztlich des verfestigten Urteilens“ resultiere die Staunkompetenz. Aus einer „komplementären Didaktik zum Digitalen, die das Taktile revalidiert, die das Angesichtige gegenüber dem Entfernten in ihr Kalkül nimmt“, resultiere die „Widerspruchskompetenz“. Das pädagogische Denken des Verfassers präsentiert sich hier sehr unterkomplex. Schier ignorant wird es, wenn ferner wissenschaftlich ernst zu nehmende bildungstheoretische Positionierungen, wie z.B. die von Masschelein/Wimmer und Meyer-Drawe von Kirschenmann schlichtweg vereinnahmt oder verdreht referiert werden. Dies geschieht z.B., wenn der Autor die „Ausbildung von Alterität in einem suzessiven Annähern“, bzw. das „Annähern an Alterität“ sowohl als Autonomiekompetenz als auch als „zentrales Bildungsziel“ ansieht. Allein die Annahme, man könne sich sukzessiv an das Fremde annähern (wieder eine Schrittfolge), beweist, dass der Verfasser nicht über seinen hermeneutischen Horizont hinausschaut und die poststrukturalistische Debatte nicht zur Kenntnis nehmen will. Bei Wimmer und Masschelein geht es nämlich überhaupt nicht „um den Versuch des Verstehens des Fremden“ in der „Differenz zum Eigenen und Vertrauten“, es geht explizit nicht um das äußerlich Fremde, dass Kirschenmann in Gestalt der Kunst für vermeintliche Bildungszwecke instrumentalisieren möchte. Der Begriff der Alterität wird bei Masschelein/Wimmer genau in der Passage, die Kirschenmann nur indirekt zitiert, aber wörtlich abschreibt, viel radikaler gedacht.(4) Hier geht es nicht um eine Alterität, als dialektischer Gegenpart zum Subjekt, sondern um eine Alterität, die nicht in den eigenen Ordnungsrahmen integrierbar ist, sondern ihn sprengt und daher weder direkt zu identifizieren noch zu verfügen noch zu kommunizieren ist. Der Autor macht daraus: „Alterität heißt, das Fremde, z.B. das Fremde in und mit der Kunst, durch einen radikalen Perspektivwechsel zuzulassen, das zuallererst die eigene Betrachtersubjektivität und mithin unsere Wertigkeiten vorerst suspendiert. Dazu kann Gegenwartskunst anstiften. Eine leichte Übung ist dies nicht.“ Solche Sinnverschiebungen und -verstellungen durchziehen den Text laufend. Zudem könnte man fragen, wie der Autor im Zusammenhang der selbst erdachten Kompetenzen plötzlich auf die „vielen Bilder einer vernetzten Welt“ zu sprechen kommt und was diese mit der Alterität zu tun haben. Eine kurze Recherche im Internet zeigt, dass der Verfasser diesen Satz in vier verschiedenen Texten bereits verwendet hat. So findet sich der Abschnitt über Alterität auch in einem Heft von Kunst + Unterricht 2002(5), in einer Geburtstagsfestrede in Leipzig(6), in einer religionspädagogischen Zeitschrift 2009(7) sowie große Teile des hier besprochenen Text in der letzten Ausgabe der BDK Info Bayern 2012(8). Diese Mehrfachverwertung ist Programm, da kommt es nicht so genau auf Bezüge, Argumente und Zusammenhänge an.
So springt der Verfasser wieder zu seinem Hauptthema, den vernichtenden Urteilen über die vermeintlich so verfehlte dOCUMENTA (13). Da Christov-Bakargiev die Absolutheit einer anthropozentrischen Sichtweise nicht teilte, unterstellt er der Kuratorin, sie leiste „der Gefahr einer weiteren Dezentrierung und Deanthroplogisierung Vorschub“, sie leiste „Beihilfe zur Negation einer pädagogisch essenziellen Wertedebatte“ und „negiere[] eine Didaktik, die das Subjekt fokussiert“. Er wirft dem kuratorischen Konzept vor, dass im Ökofeminisus eine „naive Hinwendung zur Natur“ und ein „antiaufklärerische[] Romantizismus“ lauere und dass „Kunst nicht als Störfaktor zugelassen“ werde. Die wenigen Beispiele gelungener Kunst (Kentridge, Attila, Salomon, Applebroog, Cardiff, Miller, Gates und Sehgal) hätten „ihre Kuratorin überlistet“ und die „Vorgabe der Kuratorin“ nicht befolgt. Wie das?, möchte man insbesondere bei der der seit fast 70 Jahre verstorbenen Charlotte Salomon fragen. – Über das Bildungspotential wird nichts gesagt, außer, dass die Arbeiten „ohne den biografischen Link zum Künstler oder den konkreten Produktionskontext nicht zu verstehen sind“ (ebd.).
Der folgende Absatz trägt die Überschrift: „Werden Sie skeptisch!“ Er bezieht sich auf Christov-Barkagiev. Und in der Tat bin ich als Leserin skeptisch geworden, wenngleich nicht gegenüber der diesjährigen Kasseler Kunstausstellung, sondern eher wegen der ausstehenden Argumente und der bislang nur oberflächlich gestreiften Frage nach dem Bildungspotential durch die Kunst. Allein, der Autor hat sich festgebissen. Das Documenta-Bashing geht weiter. Nun kritisiert er die Betonung der Kuratorin auf „skeptizistisches Wahrnehmen, Denken und Urteilen“, weil dies „im Zentrum jeglicher pädagogisch angeleiteter Erkenntnissuche“ stehe und bereits seit Duchamps die Gegenwartskunst legitimiere. Der Rückgriff auf „Sextus Empiricus“ als „einen der kaum bekannten Urväter der Skepsis“ sei gewissermaßen medienopportunistisch. Solch böswillige Unterstellungen verteilt der Verfasser ohne ersichtlichen Grund , denn um Argumente ging es ihm in allen Abschnitten bisher nicht: „Wahrscheinlich schienen Heraklit oder Michel de Montaigne der Kuratorin zu bekannt, um genügend mediale Aufmerksamkeit zu bekommen“. Da wird man skeptisch gegenüber dem Argumentations- und Wissenschaftsniveau des Textes, der bei allen Quellen immer nur seine eigenen, weder reflektierten noch kontextualisierten Herangehensweisen bestätigt wissen will und auch im Skeptizismus noch die „Anfänge eines hermeneutischen Balancierens“ erkennt, „das eine mäandernde Erkenntnissuche als Bewegung beschreibt“. Beim Lesen denke ich schon, wo bleibt denn die „kohärente Identität“, die doch immer „Fragment bleibt“?, und richtig, auf der nächsten Seite werde ich fündig. Da heißt es nach der Abwertung des „Brain“ über die gesamten Documenta: „Diese postmoderne, mehr als nur rhizomatische Weltsicht sprengt jede Konstruktion und Rekonstruktion eines identitätsstiftenden oder diskursiven Ordnungssystems, denn die Knoten des Rhizoms verknüpfen nichts. Das von Christov-Barkagiev großflächig vom Kulturbahnhof bis hinab in die fernen Büsche der Karlsaue ausgelegte Rhizom ist eine Stolperfalle für den nach Erkenntnis Suchenden.“
Die Documenta verhindert also Identitätsbildung und Diskurse? Das ist eine steile These. Dennoch könnte man auf die Idee kommen, das wäre etwas, was den Autor auch erfreuen könnte, weil Kunst in diesem Sinne ja als radikale Alterität aufträte oder weil die Documenta als Störung der Sehgewohnheiten die „Staunkompetenz“ oder „Widerspruchskompetenz“ hervorrufen und ein Bildungsprozess einsetzen könnte. Allein, der Autor verliert sich erneut in zitierten oder selbst ausgedachten Vorwürfen gegenüber der Ausstellung und der Kuratorin. In Bezug auf Hübl quittiert er „das groteske Scheitern der Kuratorin“, „die Verweigerung einer ernsthaften These jenseits eines sehr gealterten ‚Anything goes‘ im Brain und das „an vielen Stationen“ Beobachtete sei „selbstreferenziell, selbstgefällig und ohne ein Potenzial zugunsten einer Bildung aus Reibung“.
Wenn aber die diesjährige Documenta so gar kein Bildungspotential bietet und all die Einzelkunstwerke nur abschätzige Nebensätze wert sind, wieso wählt der Verfasser dann ausgerechnet diese Ausstellung für seinen eigenen Anspruch aus, „pädagogische Aspekte von Bildung in der Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst“ darzulegen?
Hofft man als Lesende wenigstens im letzten Absatz noch kleinste Spuren einer Verknüpfung und/ oder Argumentation dieser zusammenhanglosen Textcollage zu erhaschen, wird man erneut ernüchtert. Zwar ist der letzte Absatz betitelt mit „Wann bildet Kunst?“, aber die Pointe besteht darin, dass der Verfasser nicht von der Kunst, sondern vom Subjekt aus Bildung denkt. Diese spätestens seit den 90er-Jahren diskutierte Idee einer Subjektorientierung in der Kunstpädagogik wird jedoch nicht kontextualisiert oder auf den Diskurs bezogen. Vielmehr wird das Feindbild Kunstorientierung als „solistisch“ und „eindimensional“ diskreditiert, leider ohne Quellennachweis. Versucht man, die losen Gedankensplitter des Autors, die er selbst als „kunstpädagogische Position“ aufwertet, nachzuvollziehen, so beabsichtigt er, „das Urteilsvermögen von Kindern und Jugendlichen aus polyfokalen Analysestandpunkten heraus zu stärken“, aber nicht „exklusiv durch Reflexion“, sondern als „ästhetische Praxis“, zudem ein fragegeleitetes Begleiten der Lehrenden, welches Lernende „veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden und so die Einsicht als Verstehen zu fördern“. Die Kunst kommt nur noch im „Bildumgang“ vor, der „von Kindern und Jugendlichen ausgehend das Bilderarsenal befragt und dabei sehr wohl um die sehr „genaueren Distinktionen“ (Boehm 1993: 112), also die unterschiedlichen Erkenntnisleistungen der Bilder weiß. Doch die Wahl dieser Bilder resultiert aus einer Suche und Verortung durch den jungen Rezipienten selbst.“ (ebd.)
Abgesehen davon, dass sich ein Text schwer lesen lässt, der dauernd seine eigenen Ansprüche unterläuft und äußerst widersprüchlich in sich ist, wird die Frage nach dem Bildungspotential von Gegenwartskunst offenbar nur vorgeschoben. Sämtliche Passagen über das Konzept und die Kuratorin der Documenta dienen nicht dazu eine „Auseinandersetzung mit den Offerten der Künstler“ exemplarisch zu entwickeln, sondern allenfalls dazu, abzuwerten ohne zu begründen.
Es geht also nicht um Kunst, sondern um Selbstbildung an irgendwelchen Bildern. Bildauswahl und -umgang entscheiden die Lernenden am besten vor Ort, wenn die Lehrenden (sic!) mit Fragen helfen (sic!), nicht irgendwelche, sondern ganz bestimmte Erkenntnisse (die der Lehrende natürlich schon kennt) „selbst herauszufinden“ (ebd.). Im Text des Autors wird dieser „Bildungsprozess“ folgendermaßen beschrieben: „Gemeint ist, dass man einer Person zu einer Erkenntnis verhilft, indem man sie durch geeignete Fragen dazu veranlasst, den betreffenden Sachverhalt selbst herauszufinden und so die Einsicht als Verstehen zu fördern. Den Gegensatz dazu bildet Unterricht, der dozierend belehrt. Die Sokratischen Fragen, nicht nur vom Lehrer aufgerufen, sind (er)klärende Fragen, es sind Fragen, die Annahmen prüfen und es sind Fragen, die Gründe und Beweise prüfen. Diese Fragen insistieren auf der Inventur von Ansichten oder Perspektiven und lockern deren mögliche Hermetik damit auf. Es sind Fragen, die Implikationen und Konsequenzen prüfen, die Wahrnehmung als Falschnehmung zur Disposition stellen. Es sind Fragen, die Antworten als begründete Meinung hervorbringen“.
Ist dieser Absatz nicht Beleg genug für ein bildungstheoretisches Dillettieren des Verfassers, der so tut, als seien seine Anregungen neue Ideen, obschon sie bereits in Debatten um das forschende Lernen der 70er-Jahre verworfen wurden?(9) Dass Lernende nur erkennen dürfen, was Lehrende bereits vermeintlich wissen und fragen, entspringt genau dem hier vorgeführten, längst in der Theoriebildung auf seine heuristischen Grenzen hin kritisiertes hermeneutischen Verständnis, welches identifiziert und gleichsetzt, was nicht gleich ist, welches Fremdheit und Alterität zusammenschrumpfen lässt, auf ein bloß äußerliches, vorübergehendes Stadium, dass es mit einer isolierbaren Schrittfolge zu überwinden gelte. Es verwundert daher nicht, dass Kirschenmann seine Lehr-„Methode“ in Bezug auf Dilthey als „eine elaborierte Hermeneutik in der Rezeption“ versteht. Was daran jedoch elaboriert sein soll, wird vorsichtshalber ausgespart. Ebenso fehlen Ausführungen darüber, wie Fragen an die Lernenden aussehen könnten, wie die Lehrenden eigentlich lernen ihre Fragen zu stellen, an Bildern, die sie noch nicht kennen können, wie es von den monologischen Fragen zu einem Dialog kommt und warum eigentlich die Lehrenden Fragen stellen und nicht die Lernenden.
Was ist der Ertrag dieser Lektüre? Gemessen am eigenen Anspruch des Verfassers über „Bildungschancen“ zu schreiben und „pädagogische Aspekte von Bildung in der Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst zu diskutieren“, verfehlt die Ausführung das Thema, denn es geht weder um das Verhältnis von Kunst und Bildung, noch um exemplarische Analysen einzelner Kunstwerke mit daraus hergeleiteten Implikationen für die Bildung, noch um eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit Bildung. Zudem ist diese Textcollage insofern als unwissenschaftlich zu bezeichnen, da etliche Quellen nicht genannt werden, keine durchgängige, geschweige denn nachvollziehbare Argumentation stattfindet, die vorgegebene Fragestellung wiederholt verworfen wird, eine Anbindung an zeitgenössische bildungstheoretische und kunstpädagogische Diskurse und Theoriebildung nicht oder nicht angemessen stattfindet, eine Reflexion des eigenen Vorgehens komplett ausgeblendet wird, die Theoriebildung nicht den aktuellen Forschungsstand berücksichtigt und viele Zusammenhänge zu Gunsten eines unbegründeten Bewertens, bloßer Meinungen und normativer Setzungen unterkomplex behandelt werden. Stattdessen wird mit dem belehrenden Gebahren einer diffusen Identitätslogik und einer Hermeneutik gehuldigt, die immer noch von Sprache an Stelle von Bildern ausgeht und eine begriffliche Differenzierung oder Grundlagenforschung nicht kennt. Dieser Text ist für alle seriös am Fach interessierten Leser/-innen eine unwissenschaftliche Zumutung.
Goodman, Nelson (1995): Weisen der Welterzeugung. [Originaltitel: Ways of Woldmaking]. Übersetzt von Max Looser. Frankfurt am Main 1995 (zuerst 1978).
Kirschenmann, Johannes (2012): Zwischen Differenz und Kohärenz. Bildungschancen der Gegenwartskunst. In: zkmb – onlineZeitschrift Kunst Medien Bildung, Text im Diskurs, www.zkmb.de/index.php?id=108; Zugriff: (19.11.2012).
Kirschenmann, Johannes (2012): Zwischen Differenz und Kohärenz. Ein etwas enttäuschter Gang durch die ausufernde Bundesgartenschau (13) in Kassel mit der Frage nach Bildungschancen der Gegenwartskunst im Gepäck. In: BDK-Info. 19. Ausgabe 2012: 40-51, hier S. 46.
Kirschenmann, Johannes (2009): Religiöse Aspekte in neueren kunstpädagogischen Konzepten. In: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 8, Heft 2: 6-25, hier S. 8. Quelle: http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2009-02/3.pdf (Zugriff am 29.11.2012)
Kirschenmann, Johannes (2002): Zwischen den Bildern pendeln. In: Kunst + Unterricht, Seelze. Heft 268: 37-38, hier S. 38.
Kirschenmann, Johannes (o. Jahresangabe): Bild und Bildung – Vom Gärtnern im hortus pictorum. Quelle: www.kunstpaedagogik.userweb.mwn.de/leipzigausdruck.pdf (Zugriff am 29.11.2012)
Masschelein, Jan / Wimmer, Michael: Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Academia Verlag Leuven University Press 1996. (Studia Paedagogica 21)
Riedel, Klaus: Lehrhilfen zum entdeckenden Lernen. Ein experimenteller Beitrag zur Denkerziehung. Hannover 1973 (Empirische Studien zu aktuellen pädagogischen Fragen und Aufgaben).
Waldenfels, Bernhard: Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft. Ohne Jahresangabe. In: Information Philosophie. Online-Zeitschrift Moser-Verlag Lörrach. www.information-philosophie.de/?a=1&t=219&n=2&y=1&c=1 (Zugriff am 29.11.2012)
Wimmer, Michael: Autorität als soziokulturelle Bedingung des Aufwachsens. In: Liesner, Andrea; Lohmann, Ingrid (Hg.): Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2010:314–325.
1 Anmerkung AS: Die Frage „Wann ist Kunst?“ geht auf Nelson Goodman 1995 (zuerst 1978) zurück. Vgl. S. 76ff und S. 87.
2 „Fremd ist etwas, von dem wir ausgehen, bevor wir darauf zugehen. Um einen Satz von Nietzsche abzuwandeln: Fremdes kommt, wenn es will, nicht wenn ich will. Eben deshalb hat das Fremde zugleich etwas Archaisches und etwas Überraschendes. Die Normalisierung, die Unvertrautes in Vertrautes verwandelt, macht auch vor dem Fremden nicht halt. Doch würde die Normalisierung Überhand nehmen, so würde sie das Fremde austreiben, ganz so wie ein methodisch herbeigeführtes Staunen das Erstaunliche nicht meistern, sondern schlicht aufheben würde. So wie es ein Lernen durch Leiden gibt, nicht aber ein Erlernen des Leidens, so gibt es ein Lernen durch Fremdes, nicht aber ein Erlernen des Fremden. Fremderfahrung ist eine Erfahrung à rebours, eine Erfahrung, die gegen den Strich geht.“ Waldenfels, Bernhard: Fremdheit, Gastfreundschaft und Feindschaft. (Ohne Jahresangabe) In: Information Philosophie. Online-Zeitschrift Moser-Verlag Lörrach. www.information-philosophie.de/?a=1&t=219&n=2&y=1&c=1 (Zugriff am 29.11.2012)
3 Wimmer, Michael (2010): 314–325.
4 Im Original heißt es: „Dennoch zeigt sich z.B. in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion der Intersubjektivitätsproblematik, daß das Verhältnis zum anderen als grundlegend verstanden wird. Die Richtungen allerdings, in der Antworten gesucht werden, sind zumeist von der Annahme bestimmt, daß die mit dem Denken des Anderen zusammenhängenden Schwierigkeiten im Sinne einer logisch konsistenten Theorie lösbar sind, und daß die zumeist paradoxal formulierten Beschreibungen, ähnlich wie in der Theorie des Subjekts, aufgehoben werden können. Daß der Andere nicht nur ein anderes Subjekt ist, eben nur von außen betrachtet, sondern etwas anderes als die Subjektivität ins Spiel bringt, daß also auch eine Theorie des Anderen etwas Anderes denken muß als eine Theorie des Subjekts, die schon immer auch die Außenperspektive auf das Subjekt umfaßte, ist allerdings in den seltensten Fällen klar erkannt.“ Masschelein Wimmer (1996): 11-12
5 Kirschenmann, Johannes (2002): Zwischen den Bildern pendeln. In: Kunst + Unterricht, Heft 268: 37-38, hier S. 38.
6 Kirschenmann, Johannes (ohne Jahresangabe): Bild und Bildung – Vom Gärtnern im hortus pictorum. Quelle: www.kunstpaedagogik.userweb.mwn.de/leipzigausdruck.pdf (Zugriff am 29.11.2012)
7 Kirschenmann, Johannes (2009): Religiöse Aspekte in neueren kunstpädagogischen Konzepten. S. 8. Quelle: http://www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2009-02/3.pdf (Zugriff am 29.11.2012)
8 Kirschenmann, Johannes (2012): Zwischen Differenz und Kohärenz. In: BDK-Info. 19. Ausgabe, S. 46. Quelle: http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CCEQFjAA&url=http%3A%2F%2Fwww.bdkbayern.de%2Ffileadmin%2Fbdk_files%2FBildungschancenadDOCUMENTA.pdf&ei=eDmRUN_DMsXWtAaI54CwCA&usg=AFQjCNGXFvLGIqV3KMZI3VSCVFur3CvATA (Zugriff am 29.11.2012)
9 „Im Gegensatz zu originären Problemsituationen, aber auch zu dem von der Bundesassistentenkonferenz als didaktisches Prinzip eines wissenschaftlichen Studiums geforderten ›forschenden Lernen‹ mit ungewissem Ausgang der Denkanstrengung und dem Risiko des Scheiterns ist die unter didaktischer Zielsetzung arrangierte Lernsituation von der Problemlösung her konzipiert: der Lernende soll etwas entdecken, was dem Lehrenden bereits bekannt und zugleich als Lernziel des Lehrprozesses intendiert ist.“ Riedel, Klaus: Lehrhilfen zum entdeckenden Lernen. (1973): 293