Online-Ausstellung. Kurator*innen als Regisseur*innen

So, wie durch zunehmende digitale Verbreitungsmöglichkeiten die dokumentarische Erscheinungsform oder Reproduktion eines Kunstwerks an Bedeutung gewinnt, vollzieht sich auch bei Ausstellungen, die auf eine Online-Rezeption hin entwickelt werden, ein Shift. Der vormals physische, begehbare aber örtlich gebundene Ausstellungsraum wird zum Produktionsort und die vormals allgemeine Ausstellungsdokumentation wird zur digitalen, nichtbegehbaren,[2] aber global zugänglichen Ausstellung ausgebaut. Verschiebt man also den Ort der Ausstellung in den digitalen Raum, in dem (zumindest vorerst noch) flache Bilder die vorherrschenden Akteure sind, und macht den physischen Raum zum Produktionsraum dieser Bilder, dann verändert sich die Produktion der Ausstellung dahingehend, dass das Kunstwerk für den verlängerten Blick durch eine Kamera (oder ein anderes aufzeichnendes Medium) hin inszeniert werden muss.[3] Kurator*innen[4] werden zu (Bild-)Produzent*innen oder Regisseur*innen, die diesen Blick auf das auszustellende Kunstwerk in seinem spezifischen Setting sowie eine Struktur und Narration für seine digitale Präsentation konzipieren und steuern müssen. Eine digitale Ausstellungsstruktur kann dabei weitaus flexibler (und sogar veränderbar) gestaltet werden als die architektonisch festgelegte Narration oder Struktur eines physischen Ausstellungsraums.[5] Kurator*innen nehmen ferner Einfluss auf das Setting, indem sie einen bestimmten Ort, eine Situation oder ein Szenario für die (Bild-)Produktion auswählen (Found Setting), oder ein Setting, im Sinne eines Bühnenbildes (physisch wie digital) herstellen bzw. anfertigen lassen (Built Setting).[6] Das Setting – die Kunstwerke, aber auch eine bestimmte Web-Lösung oder Narrationsstruktur – können jeweils Ausgangspunkt und Angelpunkt des Ausstellungskonzepts sein und haben jeweils Einfluss auf die Auswahl, Produktionsweise oder Produktionsmittel.[7] Kurator*innen müssen also die verschiedenen Wirkweisen und Bedingungen, die die einzelnen Produktions- wie Präsentationsschritte mit sich bringen, technisch und inhaltlich durchdringen, um sie vollständig und kreativ nutzen zu können. Im Falle einer Online-Ausstellung ist also ein Verständnis der digitalen Möglichkeiten und Wirkweisen wichtig, um über die Möglichkeiten des physischen  Ausstellungsmachens hinaus denken und agieren zu können.

Die Rezeption eines Kunstwerks kann ferner nie losgelöst von einem bestimmten Setting (physisch wie digital), in das dieses eingebettet ist, stattfinden. Das das Kunstwerk umgebende Setting, meist der Ausstellungsraum, wird in einer reproduzierten Erscheinungsform des Kunstwerks (z.B. als Installationsansicht) mit diesem verknüpft und zirkuliert zusammen mit ihm. Das gleiche Werk zirkuliert somit oft verknüpft mit unterschiedlichen Settings gleichzeitig, etwa, wenn Dokumentationsfotos aus unterschiedlichen Ausstellungen oder Zusammenhängen existieren. Darüber hinaus sind unendlich viele Betrachtungsszenarien möglich. Ein Kunstwerk (oder besser seine dokumentarische Erscheinungsform) kann z.B. anstatt in einer Galerie auch auf dem Weg zur Arbeit in einer U-Bahn in einem Artikel über Preisentwicklungen am Kunstmarkt im Smartphone derdes Nachbar*in betrachtet werden. Die Rezipient*innen, die immer auch Teil eines bestimmten sie umgebenden Settings sind, schauen somit aus diesem oder dieser Betrachtungsebene, wie man auch sagen könnte, auf das Kunstwerk in seinem Setting. Im Falle einer physischen Ausstellung sehen die Rezipient*innen das Kunstwerk immer in einem Raumzusammenhang, dem sie auch selbst angehören (dieser kann zwar geistig ignoriert werden, bleibt aber immer sichtbar). Im Falle einer Online-Ausstellung oder Ausstellungsdokumentation ist der Raumzusammenhang komplexer, schauen doch hier die Rezipient*innen aus ihrem physischen Betrachtungsraum auf eine Reproduktion oder durch ein Wiedergabegerät auf das (inszenierte oder dokumentierte) Kunstwerk in einem anderen Raumzusammenhang; seinem umgebenden Setting. Sie sehen also den Raum, in dem sie sich befinden plus den Raum, in dem sich das Kunstwerk befindet. Darüber hinaus kann das Werk (oder ein Abschnitt daraus) von jeder beliebigen höheren Betrachtungsebene – hier gibt es unterschiedlich viele, die in das Werk hinein und aus dem Werk hinaus verschachtelt sind, z.B. das Kunstwerk plus sein umgebendes Setting (oder das Detail plus umgebendes Kunstwerk, oder das Kunstwerk beschrieben in einem Zertifikat an der Wand der Galerie XY plus umgebendes London des 20ten Jahrhunderts, etc.) – aus betrachtet werden.[8] Das Setting ist also unabdingbar mit dem Kunstwerk verknüpft und muss künstlerisch oder kuratorisch in den Ausstellungskonzepten und der Dokumentation mitbedacht werden.

Durch sich rasant verändernde digitale Zirkulationsmechanismen hat sich auch der Stellenwert der Ausstellungsdokumentation verändert, die heute im Gegensatz zum begrenzten räumlichen Rezeptionserlebnis von Kunst viel weitreichender und zugänglicher rezipierbar ist. Der signifikante Unterschied aber zur bloßen Ausstellungsdokumentation besteht bei einer Online-Ausstellung in der bewussten Ausformung und Verbindung der Inszenierung der Kunstwerke im jeweils dafür gewählten Setting (Image Production) und des Präsentationsrahmens und Online-Konzepts (Web Solution & Narration), im Sinne des kuratorischen Gesamtkonzepts der Ausstellung, welches eine mehr oder weniger immersive Rezeptionserfahrung ermöglicht. Die Dokumentation in diesem Falle ist mehr oder weniger identisch mit der eigentlichen Ausstellung, da hier, wie bei der Übertragung einer physisch räumlichen Ausstellung, in zweidimensionale verbreitbare Bilder (Sharing & Circulation) keine Umwandlung in eine andere Dimension oder einen anderen Aggregatzustand stattfinden muss. Die ohnehin online gezeigten Bilder können direkt zirkulieren, allerdings werden sie eventuell aus ihrem Ausstellungshabitat oder ihrer Narrationsstruktur gerissen und damit wieder zu bloßen losgelösten Dokumenten.[9] [1]

 

Anmerkungen

[1]  Dieser Text erschien in kürzerer und englischsprachiger Fassung in ONCURATING.org, Issue Digital Communities.

[2] Im Falle einer VR (Virtual Reality)-Lösung kann man allerdings in gewissen Sinne von begehbar sprechen. Der digitale Raum wird in Zukunft ebenso begehbar wie der physische Raum.

[3] Der digitale Raum kann auch zum Produktionsraum werden und ein digitales Kunstwerk wird auch immer in einem bestimmten Setting präsentiert. Weiterhin stellt sich die Frage, ob in diesem dazugewonnenen Produktionsstadium die Neutralität nachgeordneter Präsentations- oder Dokumentationsschritte reproduziert werden muss, oder ob es nicht sinnvoller ist, den künstlerischen Prozess hier oder generell auch in allen anderen gestaltbaren Stadien weiterzuführen.

[4] Die Kuratorin bzw. der Kurator in einem weiten Verständnis als Ausstellungsmacherin bzw. Ausstellungsmacher.

[5] Coder*innen oder Webdesigner*innen werden damit zu Ausstellungstechniker*innen oder -architekt*innen.

[6] Auch können unterschiedliche, mehrere oder sich ändernde Settings für Produktion und Präsentation zum Einsatz kommen, soweit diese Teil des kuratorischen Gesamtkonzepts sind.

[7] Im Falle von New Szenario waren vorwiegend speziell gewählte Settings Ausgangspunkt der Ausstellungsprojekte, die durch ihre Beschaffenheit verschiedene konzeptuelle Entscheidungen beeinflusst haben (vgl. www.newscenario.net).

[8] Die Rezipient*innen können sich also nur in der selben räumlichen Betrachtungsebene befinden, in der sich auch das Kunstwerk befindet, oder aber auf einer nächst höheren Ebene, von der aus sie ihrem sie umgebenden räumlichen Setting auf das dokumentierte Kunstwerk plus dessen umgebendes Setting schauen. Spielen also übergeordnete Betrachtungsebenen für die Ausstellung eine besondere Rolle, müssen sie besonders mitgedacht werden. Keine Rolle spielen sie nie. Für die künstlerische Produktion heißt das auch, dass außerhalb des Kunstwerkes liegende Betrachtungsebenen mitgestaltet werden können, bzw. Einfluss auf die Betrachtung des Werkes haben, ähnlich wie Bildführung und Komposition innerhalb einer Malerei.

[9] Bei einer Umwandlung digitaler Ausstellungsbilder in eine physische zweidimensionale druckbare oder dreidimensional präsentierbare Version, ist es möglich, die umgebende Struktur, also das digitale Setting wie z.B. den Browser, mit abzubilden, oder sie mit dem Abspielgerät, z.B. dem Computer, im Raum zu zeigen.

Von Paul Barsch

Veröffentlicht am 25. März 2021

Zitiervorschlag

Barsch, Paul: Online-Ausstellung. Kurator*innen als Regisseur*innen, in: Jane Eschment, Hannah Neumann, Aurora Rodonò, Torsten Meyer (Hg.): Arts Education in Transition, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2021. Quelle: https://zkmb.de/online-ausstellung-kuratorinnen-als-regisseurinnen-1/; Letzter Zugriff: 25.04.2024