Puffert führt an Lissitzkys Prounen ein Bildkonzept vor Augen, mit dem sich eine eindeutige perspektivische Bestimmtheit (wie in der Zentralperspektive angenommen) auflöst und so im Blick des Betrachters andere zeiträumliche Schichtungen entstehen können. Hat sich der Blick des Betrachters anhand vorangegangener Bilderfahrungen ausgerichtet, sind neue Orientierungen im Sinne eines sehenden Sehens möglich. Aber die neuen Sehordnungen, die sich anhand der bildlichen Abweichungen auffalten, ändern sich nicht radikal. Das Sehen kommt nicht ohne den Versuch aus, den ehemals durch Sehkonventionen ausgerichteten Blick an das vorgeführte Bildkonzept probehalber anzulegen. Es gleicht einer Suche, die ihren Ausgangspunkt kennen muss, um überhaupt die in den Prounen angelegte Abweichung wahrzunehmen. Ein zeitlich betrachtetes Auffalten des Bildlichen im Blick der Betrachtenden würde ich jedoch als grundlegendes Potenzial jeglicher Bildhaftigkeit betrachten und in diesem Sinne das Bildliche immer als zu Sehendes bezeichnen. Denn das Bild habe weniger mit Gestalt als mit Gestaltung zu tun, in dem sich Formen und Dinge immer erst herausbilden (Alloa 2011: 26). Wenn Merleau-Ponty feststellte, er „sehe eher dem Bild gemäß oder mit dem Bild […]“ (Merleau-Ponty 1976: 19), ist das Bildliche, wie es sich spezifisch für jede*n Betrachtende*n einstellt, in diesem Sinne selbst daran beteiligt, Sehstile zu bilden oder zu entbilden. Entsprechende Muster von Sehstilen lassen sich als eine Art Symptom von Bilderfahrung begreifen, wenn das, was durch ein Bildliches erfahren werden kann, sich in Blickweisen der Betrachtenden eingespielt hat. Deren Intensität und Wirkungsgrade sind divers: Manche Blickweisen können zu wertenden Haltungen führen, indem der Blick sich fast resistent gegen Neues und Fremdes verhält, während andere Blickweisen transformatorisch, potenziell bildend wirken können. Als „Stachel im Wahrnehmungskontinuum“ setzt das Bild den Blick genuin „anders und neu in Bewegung […].“ (Alloa 2015: 44). Eine Verschränkung von Bildwerden und Blickwerden meint folglich eine durch das Bildliche gedachte Bilderfahrung eines Subjekts.
Wenn ich künstlerische Vermittlungssituationen, Prozesse oder Werke danach befrage, was sie nicht zeigen, und ich mich somit der Negation nicht nur als Denkweise, sondern auch als Blickweise bediene, erinnert mich der implizierte Wunsch Pufferts, das Bildliche zurückzudrängen, um empfänglich und offen für Anderes zu werden, an einen Buchtitel Andy Warhols: From A to B and back again. Denn die Negativform, die Umkehrung des Gezeigten, operiert auch im Modus des Zeigens. Wenn ich Anderes wahrnehme und anders denke, wird die Abweichung nur faktisch, wenn sie sich zeigt. Als Grundbedingung des Zeigens kehrt mit einem Sichtbarwerden im Zeigefeld die Ikonizität wieder zurück: Denn Zeigen, so Mersch, ist der genuine Modus von Bildlichkeit (Mersch 2007: 3). Mit einer Verschiebung vom Bild zum Raum werden durchaus neue Verständnisse und Blickweisen aufgerufen und entwickelt, die aber auch zu einem Bildlichen zurückkehren. Denn eine andere Haltung zum Bildlichen wäre es, neue Blickweisen nicht am Bild vorbei sondern durch das Bildliche ermöglicht zu sehen. Eine räumlich verstandene Figuration, Konstellation, Szenerie, ein Tanz oder andere performative Ereignisse mögen sich in einer endlosen Varianz von Ansichten zeigen. Und jede Ansicht ereignet sich räumlich und temporär instabil, abhängig vom betrachtenden Subjekt und abhängig von dessen Blick und Blickweisen. Dieter Mersch unterscheidet zwischen bildlich Sichtbarem und nichtbildlich Sichtbarem. Er charakterisiert den Bildblick zwar als bezogen auf den visuellen Blick, jedoch ist der Bildblick durch das Dispositiv der Rahmung begründet different (Mersch 2007: 3) Ansichten, verstanden als oszillierende Sichten eines dynamischen Sehens von etwas, ereignen sich immer innerhalb einer Rahmung, die zunächst durch das Blickfeld bestimmt wird. Kondensieren innerhalb dieser Rahmung Bildlichkeiten, so geschieht dies durch ein sich einstellendes Bildliches für den Betrachter.
Eine Mehrdimensionalität des Bildlichen kann im Weiteren nicht nur als raum-zeitliche Ausdehnung denkbar werden, sondern auch als mediale, anthropologische oder körperliche Erfahrungsdimension. Mit einem solchen Einstellungswechsel wird das Bildliche als Display für vielschichtige Erfahrungsdimensionen am Künstlerischen thematisch. So kann das Bildliche zur Folie unterschiedlichster Bedingungen, Ordnungen oder Strukturen werden, indem es diese ansichtig macht, ihnen eine Rahmung anbietet, innerhalb derer sie kondensieren können. „Beim Display handelt es sich ebenso um eine Methode wie um ihr Resultat“ (Loreck 2008:1). Das Bildliche als Displayer zu betrachten, würde bedeuten, durch das Bildliche (als Methode im Sinne eines Blickhilfsmittels) etwas ansichtig zu machen, das sich der Sichtbarkeit entzieht, wie etwa der gesamte Bereich der Erfahrung. Das durch ein Bildliches Displayte würde sich dabei im Sehen gestalten und hervorbringen.
Alloa, Emmanuel (2015): Zwischen Transparenz und Opazität – was das Bild zu denken gibt. In: VI und VI Positionen zur Zukunft der Fotografie. Wien: Verlag für moderne Kunst. 37-44.
Alloa, Emanuel (2011): Der Aufstand der Bilder. In: Ders. (Hrsg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie. München: Wilhelm Fink, S. 9-44.
Loreck, Hanne (2013): Display. In: Mayer, Katrin (Hrsg.): Memoiré et Doublir. Katalog. KUBUS Sparda-Kunstpreis im Kunstmuseum Stuttgart. Bielefeld, Berlin: Kerber, S. 40-45.
Merleau-Ponty, Maurice (1967): Das Auge und der Geist. In: Arndt, Hans Werner (Hrsg): Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 13-43.
Mersch, Dieter (2007): Blick und Entzug. Zur Logik ikonischer Strukturen. In: Boehm, Gottfried/Brandstetter, Gabriele/von Müller, Achatz (Hrsg.): Bild – Figur – Zahl. München: Wilhelm Fink, S. 55-69.
Warhol, Andy (1977): The Philosophy of Andy Warhol: From A to B and Back Again. New York: A Harvest Book.
Der Text wurde durch zwei Fachgutachter/innen doppelblind hinsichtlich wissenschaftlicher und publizistischer Güte eingeschätzt und ggf. mit Hinweisen zu Überarbeitungsvorschlägen an die/den Autor/in zur Veröffentlichung empfohlen.