„sie sollten vielleicht eine art interdisziplinäre arbeitsweise entwickeln.“1

„Die Entgrenzung der Bereiche der Kunst und deren Übergang ins Leben, was man auch als deren konsequente Weltlichwerdung bezeichnen könnte, ist kein Phänomen, welches erst heute in Erscheinung tritt […] Es ist eine Idee, welche sich bis zu den Avantgarden zurückverfolgen lässt, sich heute jedoch unterschiedlich manifestiert. Spannend wäre dabei, die Linien der Diskurse der Avantgarden zu verfolgen und ihre Entwicklung zu betrachten im Hinblick auf eine neoliberale Aneignung der ehemals libertären Ideen und Praxen. In diesem Sinne ist die Behauptung, dass der Künstler das ‚Vorläufer-Vorzeige-Subjekt‘ für die Transformation der Disziplinargesellschaft hin zu einer neoliberalen Selbstverwirklichungs- und Selbstausbeutungsgesellschaft sei, nicht sehr weit weg geholt.“2

Dies ist eine Passage aus meinem Abstract, eine Reaktion auf den Call for Papers für die Tagung where the magic happens – Bildung nach der Entgrenzung der Künste, in welchem für das 21. Jahrhundert ein „post-autonomes Verständnis von Kunst“ (Meyer/Dick/Moormann 2015)3 konstatiert wird. Nachdem ich an der Tagung in einem Kurzvortrag anhand von zwei künstlerisch-edukativen Projekten mögliche zeitgenössische Ansätze für eine Bildung an und mit einem erweiterten Kunstverständnis vorbrachte4, möchte ich nun nochmals auf historische Beispiele für solche interdisziplinäre Bildungsansätze zurückkommen. Auf die Frage, wie eine Bildung nach der Entgrenzung der Künste aussehen könnte, lässt sich entgegnen: Wie hat sie denn schon ausgesehen, als Entgrenzung der Künste? Dabei zeige ich anhand von drei Beispielen auf, dass eine Entgrenzung in den Künsten schon lange praktiziert wird und wurde, und dass solche Praxen sich oft dort entwickelten, wo Behauptungen und Versuche im Raum standen, die Kunst und das Leben zu vereinen, die Hierarchien zwischen bildenden und angewandten Künsten abzubauen, und nicht zuletzt Kunst auch als edukativen – oder eben umgekehrt Bildung auch als künstlerischen – Prozess zu betrachten.
Ein frühes Beispiel dafür findet sich während der russischen Avantgarde, wo ab 1920 in den Wchutemas gelehrt wurde. Diese höheren künstlerisch-technischen Werkstätten in Moskau standen allen, die studieren wollten, offen, ohne dass spezifische Vorkenntnisse vonnöten waren. In den Werkstätten wurden die sogenannten angewandten Künste ebenso wie die bildenden Künste unterrichtet und die Studierenden konnten frei wählen, bei wem sie ihren Unterricht belegen wollten. Die Wchutemas werden oft als „russisches Bauhaus“ bezeichnet. Varvara Stepanova (1894-1958) war Lehrerin an diesen staatlichen Werkstätten und Künstlerin der russischen Avantgarde. Unter anderem wirkte sie als Textildesignerin, Malerin, Theoretikerin und Kostümdesignerin. So entwarf sie etwa die Kostüme für das Agitpropstück „an evening of the books“, in welchem die Bücher lebendig werden und die Protagonist*innen aus ihnen heraustreten (Abb. 1). Die pre-revolutionären und revolutionären Bücher befinden sich im Kampf, am Ende siegen die revolutionären Held*innen und es gibt eine Parade von Bibliotheken und Editionen. Das Theater wird so zur Bühne für ein Zusammenspiel der Künste und verfolgt edukatorische Ziele, welche in diesem Moment der politischen Bildung gewidmet sind.

Es scheint zur Zeit der russischen Avantgarde eine solche „Entgrenzung“ Praxis zu werden; im Zusammenspiel von Architektur, Tanz, Kostüm- und Textildesign, Theater, Musik und Druckgrafik werden die Künste zu aufklärerischen Zwecken verwendet und sollen die Transformation der Gesellschaft auf einer ästhetischen Ebene umsetzen.

Eine um verschiedene wissenschaftliche Disziplinen erweiterte Kunstausbildung entwickelt sich im Herbst 1933 in North Carolina, als ehemalige Dozent*innen und Student*innen des Rollins College das Black Mountain College gründen. Der Mythos dieses College ist anhaltend und wird zum Moment der Entstehung dieses Textes (September 2015) fortgeschrieben in einer Ausstellung am Hamburger Bahnhof in Berlin. Dies jedoch zu Recht, da die Ansätze dieses interdisziplinären Bildungsexperiments bis heute nicht an Aktualität verloren, wenn nicht dazugewonnen haben. Josef Albers schrieb dazu im Jahr 1935:

„Under the term ‚art‘ I include all fields of artistic purposes – the fine arts and applied arts, also music, dramatics, dancing, the theatre, photography, literature, and so on. (…) If art is an essential part of culture and life, then we must no longer educate our students either to be art historians or to be imitators of antiquities, but for artistic seeing, artistic working, and more, for artistic living. (…) As academic separation is passing, we in school have to connect as far as possible the scientific fields with the artistic fields.“ (Albers 1953: 391)

So wurde das Hauptgebäude des Black Mountain College in gemeinschaftlicher Arbeit selbst erbaut: die wechselnde, internationale Lehrer*innenschaft unterrichtete unter anderem Fächer wie „mathematics for artists“, und Xanti Schawinsky erprobte mit seinem Spectodrama „an educational method aiming at the interchange between the Arts and the Sciences and using the theatre as a laboratory and place of action and experimentation.“ (Dubermann 2009: 89f.) Diese Idee einer „edukativen Methode“, die Kunst und Wissenschaften umfasst und in performativen oder theatralen Experimenten aktiviert wird, treffen wir in Varianten bei Stepanovas „evening of the books“ und im Folgenden Beispiel bei Doris und Serge Stauffer wieder an.

Eine ähnliche Entstehungsgeschichte wie das Black Mountain College weist die F+F Schule für experimentelle Gestaltung Zürich auf, welche 1971 aus einer Abspaltung der Klasse F+F (Farbe und Form) von der Kunstgewerbeschule Zürich hervorging. An der F+F unterrichtete unter anderem Serge Stauffer, ein Künstler, welcher explizit seine Lehrertätigkeit als Kunst bezeichnete und eigene Thesen zur „Kunst als Forschung“ aufstellte; „Als Künstler bin ich tätig, indem ich an der F+F unterrichte, Aufgaben erfinde, um die ‚freie Kreativität aller‘ anzuregen, solche Textblätter schreibe, eine ‚Kunsttheorie‘ entwickle, Anstrengungen unternehme, um einen Ort der ‚Kunstforschung‘ (Kunst-Labor) zu finden, mich laufend orientiere über den gegenwärtigen Stand der ‚Kunst‘ und meine Einsichten in praktischer Form übermittle“ (Stauffer (1977) zit. n. Hiltbrunner (2013: 232)) Die F+F war damals durch Klassenräte basisdemokratisch organisiert, in den Kursen wurden nicht nur individuelle Erfahrungen, sondern auch kollektive Experimente gefördert. So zum Beispiel in den „Hexenkursen“ und „Teamwork“-Kursen von Doris Stauffer (Abb. 2), welche eine feministische Kunstvermittlung praktizierte und performative Praxen und Happenings in ihre Kurse einbaute (vgl. Koller/Züst 2015).

Dieser schnelle und verkürzte Ausflug durch eine mögliche Geschichte der interdisziplinären/entgrenzten Künste und ihrer experimentellen und fortschrittlichen Vermittlung führt uns direkt zu zeitgenössischen künstlerisch-edukativen Projekten, in welchen spätestens seit dem proklamierten „educational turn“ ähnliche Fragen aktualisiert wiederanzutreffen sind.
Den genannten sowie auch zahlreichen aktuellen Beispielen wohnt etwas Gemeinsames inne; sie waren und/oder sind jeweils zeit- und ortsspezifische Versuche, eine Bildung an der/mit der/als Kunst zu denken, dabei den Kunstbegriff zu erweitern, und eine Praxis und Form zu finden, welche diesem Denken entspricht. Es ist kein Zufall, dass in historischen und zeitgenössischen Beispielen Korrelationen von revolutionären, gesellschaftskritischen und aktivistischen Ansätzen mit einem entgrenzten Denken von Kunst und Bildung auszumachen sind.5 Denn solche transdisziplinäre, „entgrenzte“ Kunstpraxis geht oft einher mit einer Form von Kollektivität, welche ihren Nährboden braucht und einen solchen findet in einer enthierarchisierten und entinstitutionalisierten Form von Bildung, die Platz lässt für Experimente.


Abb.1


Abb.2

Anmerkungen

1     Doris Stauffer 1976, vgl. Koller/Züst 2015: 139.

2     Hier aufbauend auf dem Gedanken, dass das moderne Künstler*innensubjekt, nach den Akademiekünstler*innen, als erstes in die Logik des Autors bzw. der Autorin und des Individuums stürzte (siehe hierzu auch Gielen, Pascal/Bruyne, Paul de 2015).

3     „Mit dem postautonomen Verständnis von Kunst gehen zwei Bewegungen einher: Zum einen wird im Zuge eines konsequenten Weltlichwerdens die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst destabilisiert, zum anderen vernetzen sich die Künste untereinander.“ (Meyer/Dick/Moormann 2015).

4     Im Rahmen der Tagung hielt ich einen Pecha-Kucha-Vortrag mit dem Titel fiction as a tool. art as education. Dabei untersuchte ich fiktionale künstlerische Settings, welche in sich Praxen der Performance, der artistic research, der Pädagogik und des Aktivismus vereinen (wie etwa sistersacademy.dk oder louiseguerra.ch).

5     Die Untersuchung der jeweiligen Kontexte greift in einem solchen Text natürlich zu kurz. Mehr zu diesem Thema bei Nora Sternfeld (2010).

Literatur

Albers, Josef (1935): Art as Experience. In: Progressive Education, 12. Jg., Nr. 6, S. 391-393.

Duberman, Martin (1972): Black Mountain: An Exploration in Community. New York: E.P. Dutton & Co., Inc.

Gielen, Pascal/Bruyne, Paul, de (Hrsg.) (2015): The Murmuring of the Artistic Multitude, Global Art, Memory and Post-Fordism. Amsterdam: Valiz.

Hiltbrunner, Michael/Helmhaus Zürich (Hrsg.) (2013): serge stauffer – kunst als forschung. Zürich: Scheidegger & Spiess.

Koller, Simone/Züst Mara (2015): Doris Stauffer, eine Monografie. Zürich: Scheidegger & Spiess.

Meyer, Torsten/Dick, Julia/Moormann, Peter (2015): CfP where the magic happens. Online: http://kunst-medien-bildung.de/2015/01/07/cfp-where-the-magic-happens/ [17.3.2016].

Sternfeld, Nora (2010): Unglamourous Tasks; What Can Education Learn From Its Political Traditions? In: e-flux, 3. Jg., Nr. 14, 2010. Online: http://www.e-flux.com/journal/unglamorous-tasks-what-can-education-learn-from-its-political-traditions/ [17.3.2016].

Abbildungen

Abb. 1: Varvara Stepanova, Designs for the performance of An Evening of the Book with the protagonists standing in front. Foto: Alexander Rodchenko (1924).

Abb. 2: Doris Stauffer, Hexenkurs, 1979. Online: http://www.lescomplices.ch/recollect/doris-stauffer-der-januar-der-februar-der-marz-die-april-die-mai-die-welt/ [17.3.2016].

Von Chantal Küng

Veröffentlicht am 22. Dezember 2017

Zitiervorschlag

Küng, Chantal: „sie sollten vielleicht eine art interdisziplinäre arbeitsweise entwickeln.“1, in: Torsten Meyer, Julia Dick, Peter Moormann, Julia Ziegenbein (Hg.): where the magic happens. Bildung nach der Entgrenzung der Künste, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/sie-sollten-vielleicht-eine-art-interdisziplinaere-arbeitsweise-entwickeln-1/; Letzter Zugriff: 20.05.2024