Zur Fortsetzbarkeit der Kunst

Wenn ich an den Kunstunterricht meiner Schulzeit zurück denke, so ist insbesondere eine Erinnerung sehr präsent: Etwa in der achten oder neunten Klasse am Gymnasium, Kunstunterricht bei Herrn W., Kunstlehrer und lokal bekannter Künstler. Wenn ein Schüler oder eine Schülerin nicht weiter kam mit der Arbeit an einem Bild, dann bot Herr W. Unterstützung an. Die Hilfe, die Herr W. den Schüler*innen in Erarbeitung ihrer zu malenden oder zu zeichnenden Bilder zur Verfügung stellte, bestand dann darin, dass er einen halbtransparenten Bogen – meist war es Butterbrotpapier – über das sich im Prozess befindliche Bild legte und dieses darauf mit einem Bleistift zu Ende skizzierte. Nun konnte der/die Schüler*in zurück an den Arbeitsplatz gehen, die soeben erstellte Vorlage unter das eigentliche Bild legen und es mit Hilfe der Durchpaustechnik zur Zufriedenstellung des Lehrers vollenden. Resultat war bei sorgfältiger Durchführung dann in der Regel eine gute Note.

Das gelingende Produzieren eines Kunstwerkes bestand so im gerechtwerdenden Erfüllen einer offenkundigen Erwartung. Die Entwicklung einer eigenständigen und selbstbestimmten künstlerischen Haltung zu fördern, war also offenbar eher nicht das Ziel und auf einen solchen Gedanken kann man durchaus auch kommen, wenn man die Vorgänge des gegenwärtigen Kunstbetriebs betrachtet:

Einige wenige Akteur*innen bestimmen, was auf dem Kunstmarkt gefragt ist, was im wahrsten Sinne des Wortes state of the art ist. Längst hat eine wirtschaftliche Dynamik in das Kunstsystem Einzug gehalten, der sich die qualitativen Aspekte der Kunstproduktion untergeordnet oder angepasst haben (vgl. Lingner 1988).

Michael Lingner stellt fest, dass der faktisch fortschreitende Autonomieverlust in der Kunst dabei immer raffinierter und rigider unter den Deckmantel der Losgelöstheit von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschoben wird und dass umso mehr so getan wird, als bestünde die alte Autonomie der Kunst ununterbrochen fort, je mehr ihr Verlust voranschreitet (ebd.). Wie aber geht es dann weiter und kann es überhaupt weitergehen in der freien Kunst, wenn unter diesem Deckmantel vermeintlicher Kunstautonomie raumgreifend wirtschaftliche Interessen stecken und nicht das Bestreben, Kunst zu schaffen, die unabhängig ist von ihrem potenziellen Warenwert? Wie steht es dann um die Fortsetzbarkeit von Kunst als Kunst?

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann betrachtet Kunst in der modernen Gesellschaft als ein autopoietisches Funktionssystem, also als eines, das sich ausschließlich aus Teilen seiner selbst reproduziert. Das Kunstwerk ist in diesem sozialen Funktionssystem lediglich Mittel zur Kommunikation (Lingner 1999). Die Fortsetzbarkeit der Kunst ist allerdings nicht mehr selbstverständlich, seitdem sich die Kunst zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend von der Tradition löste und dem Künstler fortan eine neue Freiheit der künstlerischen Position bescherte, abseits der bis dato als Auftragsarbeiten erstellten Altarbilder oder Portraits. Nun, da sich ihre Autonomisierung zunehmend erschöpft – salopp gesagt, weil alles schon einmal gesagt und getan wurde – spitzt sich die Lage für die Kunst zu: War bisher das Bedienen am Dagewesenen, an der historischen Kunst zwar ein Garant für stetig Neues und für ihren Erhalt als soziales System, so muss eben dieses unweigerlich zu einem „logischen Kurzschluss“ führen (vgl. Luhmann 1986: 67). Denn die Kunst überlebt inzwischen weniger durch spezifisch kunsthafte Kommunikation, sondern tendenziell lediglich ökonomisch (Lingner 1999).

Um heute und zukünftig dennoch als autopoietisches Funktionssystem bestehen zu können, kann die Kunst als autonomer Teil des ebenso autopoietischen Funktionssystems Gesellschaft nicht wie bislang ihren Sinn aus der Abgrenzung von äußeren Erwartungen, also aus der Negation ihrer gesellschaftlichen Zugehörigkeit heraus, definieren. Ein positiver aus sich selbst heraus definierter autonomer Sinn ist notwendige Grundlage für ein gesundes Wesen (vgl. ebd.). Das Kreisen in bloßer Selbstbezüglichkeit, das aufgeregte Abgrenzen von gesellschaftlichen Erwartungen und die damit einhergehende Pseudoautonomie führen, um das reine Fortbestehen des sozialen Systems Kunst in kapitalistischen Strukturen ringend, unweigerlich tiefer in die Sackgasse der fremdgelenkten Selbstbestimmtheit. Es ist ein Weg des Mittels zum Zweck und das keinesfalls um seiner selbst willen. Es ist ein Weg, der letztendlich die Freiheit aufgibt und konform wird mit der „neoliberalen Immanenz“ (Maset 2012: 10).

Das Aufzeigen der eigenen Missstände, der eigenen Widersprüchlichkeit sind der Kunst gegebene Mittel zur Auflehnung gegen die bestehenden Strukturen. Absorbiert vom vorherrschenden ökonomischen Gesellschaftssystem, wird ein Weg hinaus, auf sich allein gestellt, ein schwieriger, ein nicht zu bewältigender sein. Autonomie ist für die Fortsetzbarkeit und die Qualität der Kunst als freier Kunst entscheidend und so muss ein Umfeld geschaffen werden, das entsprechende Voraussetzungen dafür gewährleistet. Die Gesellschaft, nicht zuletzt der Staat, hat hierbei eine entscheidende Verantwortung: nämlich die Grundlage für ein solches Umfeld zu schaffen. Doch, je weiter sich der Staat aus seiner kulturellen Verantwortung verabschiede, umso mehr gingen die Unabhängigkeit sowie jeder öffentliche Charakter und allgemeingültige Anspruch der Kunst und ihrer Institutionen verloren, so Lingner (Lingner 1988). Der Fehlschluss, dem unter anderem von staatlicher Seite offenbar aufgesessen wird, ist, dass Geld die grundlegende Motivation liefere, um den Menschen zu einem produktiven Dasein zu bewegen. Dabei dürften selbstbestimmt entwickelte Individuen, die intrinsischer Motivation und Fähigkeit folgen – ohne den Druck, für die finanzielle Grundsicherung ein Verkaufsgenie sein zu müssen – als Grundlage einer gesunden gesellschaftlichen Entwicklung durchweg förderlich sein.

An den (Kunst-)Hochschulen herrscht heute noch überwiegend ein eindeutig einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lernenden und Lehrenden. In den Klassen versuchen die ausgewählten Studierenden den Vorstellungen und Ansprüchen ihres/ihrer Professor*in gerecht zu werden, versuchen, Erwartungen zu erfüllen, subtiler zwar, als im Beispiel zur Einführung dargestellt, doch sich dieser Abhängigkeit vollends zu entziehen, ist unter den vorherrschenden Strukturen schwerlich möglich.

Diese vermeintlich alternativlos herrschende Klassen-Struktur hat zu einer „Unkultur der Unverbindlichkeit“ geführt, unter deren diversen negativen Folgen das Lernen und Lehren insgesamt leidet (Lingner 1988). Zudem wird über das Absolutmachen einer inzwischen fragwürdigen Auffassung von künstlerischer Autonomie leicht die Relevanz der sozialen und institutionellen Strukturen an der Hochschule unterschätzt. Intelligente, lernfähige Strukturen sind eminent wichtig für eine in dieser Form der Bildung so wichtigen steten Reflexion. Stattdessen wird in längst überholten Strukturen verharrt. Allgemeine Unlust zur Selbstbefragung bleibt vorherrschend. Eine konsequente institutionelle Umstrukturierung wäre hier allerdings der wichtige erste Schritt zur Neuorientierung.

Zurück zur anfänglichen Schilderung des Kunstunterrichts und des Schulunterrichts im Allgemeinen. Denn auch und gerade hier, in dieser so wichtigen Entwicklungsphase vom Kind zum Erwachsenen, ist es wichtig, der Autonomie des freien Denkens und selbstverantwortlichen Handelns, Raum zur Entfaltung zu geben, es zu fördern und zu fordern. Die Lehrer*innenbildung ist dabei von ausschlaggebender Relevanz. In der heutigen Gesellschaft und angepasst daran, nicht selten auch in Schulen wird auf einseitige Effizienz abgezielt, womit eine „Kultur des Groben, in der eine am subjektiven Konsum- und Leistungserlebnis orientierte Mentalität erzeugt wird“ (Maset 2012: 12). Für die Kunst wie auch für die Bildung hat das fatale Folgen, denn sie und die in ihnen arbeitenden Individuen werden von diesem System einverleibt und in dessen Dienst gestellt. Die Individuation wird dem System angepasst, die Entwicklung in Bahnen gelenkt. Alles muss mehr und mehr kontrolliert, alles muss messbar gemacht werden. Der nach Adorno aufgeklärte Mensch verliert so den Bezug zu seiner Natur, dem ihm zuinnerst Eigenen (vgl. Horkheimer/Adorno 1969). So muss also auch im (Kunst-)Unterricht ein Umdenken stattfinden; das heißt Raum geschaffen werden für die persönliche Entwicklung, entkoppelt von einer Bildung, die das effiziente Funktionieren und reibungslose Eingliedern des Individuums in die Gesellschaft zum Ziel hat.

Ein von Julia Ziegenbein entwickeltes und in Zusammenarbeit mit dem Künstler Peter Piller realisiertes Unterrichtskonzept1 zeigt, wie bereits und gerade schon in der Schule ein Gegenimpuls gesetzt werden kann, gegen ein leistungs- und effizienzorientiertes Lernen, das durch fortschreitende gesellschaftliche Ökonomisierung gefördert wird. Das Unterrichtskonzept bricht mit der Strategie der geradlinigen Kompetenz- und Wissensvermittlung, indem es den Bildungsbegriff, nach Rainer Kokemohr, als „Verarbeitungsmodus von Welt- und Selbsterfahrung“ (Kokemohr 2000: 421) versteht. Ziegenbeins Konzept sieht vor, dass die eigene künstlerische Autor*innenschaft beobachtet, problematisiert und befragt werden kann, zugunsten – auch gemeinsamer – Erkundungen und Erfindungen, die wiederum zu ganz individuellen Erfahrungen führen können, fernab davon, wer das vermeintlich beste Bild zu produzieren im Stande ist.

Doch solche Ansätze benötigen Räume zur Umsetzung, die zunächst geschaffen werden müssen. Exemplarische Umstrukturierungen, wie sie seit einigen Jahren an vielen Reformschulen bereits zu beobachten sind, könnten Vorbilder dafür sein, dass solche Unterrichtsideen nicht bereits in engen, eingefahrenen Strukturen erstickt werden.

Um die Fortsetzbarkeit des spezifisch Kunsthaften in der Kunst gewährleisten zu können, ist es also unabdingbar, an mehr als nur einem Punkt anzusetzen. In den Institutionen der Bildung sind Umstrukturierungen von Nöten – insbesondere an Schulen benötigt es Raum für die persönliche Entfaltung und Selbsterfahrung der Schüler*innen, losgelöst von ökonomischem Druck. An (Kunst-)Hochschulen wären die eingefahrenen Pfade zu verlassen und lernfähige offene Strukturen zu erschließen, die auch die sozialen und institutionellen Strukturen als Grundfesten für die dort geleistete Arbeit anerkennen und implementieren. Das hieße auch, das einseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Student*in und Professor*in aus seiner Schieflage zu lösen, um tatsächliche Freiheit in der künstlerischen Entwicklung gewährleisten zu können.

Damit diese Entwicklungen nicht ins Leere laufen, braucht es einen gesellschaftlichen Perspektivwechsel. Der ökonomische Faktor des Kunstbetriebs kann dabei nicht länger der für ihn bestimmende sein. Um aber diesem Phänomen entgegenzusteuern, darf der Staat sich nicht weiter aus der kulturellen Verantwortung lösen.

Die Kunst selbst wäre angehalten, ihr autonomes Selbstverständnis so zu wenden, dass es ihr gelingt, die eigenen Missstände zum Thema und gesellschaftlich greifbar zu machen. Klar ist, dass ein kunstökonomisches Umdenken, eine Umstrukturierung und Neuausrichtung des Bildungssystems und die finanzielle Grundsicherung und Förderung von staatlicher Seite einer gegenseitigen Abhängigkeit unterliegen. Erst ein konstruktives Zusammenspiel, das ein Ineinandergreifen der Faktoren gewährleistet, kann der Fortsetzbarkeit der Kunst als Kunst – nicht als Ware – einen Weg ebnen.

Anmerkung

1     Eine ausführliche Dokumentation des Konzepts und Beobachtungen der Praxis sind im E-learning-Büro der Hamburger Universität zu finden, unter: http://mms.uni-hamburg.de/blogs/kiss/wp-content/uploads/2009/03/kiss09_ziegenbein.pdf

Literatur

Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1969): Begriff der Aufklärung. In: Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/Main: Fischer, 21. Auflage, S. 9-49.

Kokemohr, Rainer (2000): Bildung in interkultureller Kooperation. In: Abeld, Sönke/Bauer, Walter (Hrsg.): „… was es bedeutet, verletzbarer Mensch zu sein“. Erziehungswissenschaft im Gespräch mit Theologie, Philosophie und Gesellschaftstheorie. Helmut Peukert zum 65. Geburtstag. Mainz: Matthias Grünewald, S. 421-436.

Lingner, Michael (1988): Krise, Kritik und Transformation des Autonomiekonzepts moderner Kunst. In: Archivsystem der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Online: http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv/ml_publikationen/kt88-4.html [22.9.2015].

Lingner, Michael (1999): Krise, Kritik und Transformation des Autonomiekonzepts moderner Kunst – Zwischen Kunstbetrachtung und ästhetischem Dasein. In: Archivsystem der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Online: http://ask23.hfbk-hamburg.de/draft/archiv/ml_publikationen/ml_kt_h-a99.html [22.9.2015].

Luhmann, Niklas (1988): Das Medium der Kunst. In: Frederick D. Bunsen (Hrsg.): »Ohne Titel« Neue Orientierungen in der Kunst. Würzburg: Echter, S. 61-71.

Maset, Pierangelo (2012): Kunstvermittlung heute: Zwischen Anpassung und Widerständigkeit. In: Henschel, Alexander/Sturm, Eva/Zahn, Manuel (Hrsg.): Kunstpädagogische Positionen, Band 27, S. 9-12. Online: http://mbr.uni-koeln.de/kpp/_kpp_daten/pdf/KPP27_Maset.pdf [22.9.2015].

Ziegenbein, Julia (2009): Bedeutungsflächen im Kunstunterricht. Das Vermittlungsprojekt »Bilder im Alltag finden« … für den sechsten, siebten Blick. Online: http://mms.uni-hamburg.de/blogs/kiss/wp-content/uploads/2009/03/kiss09_ziegenbein.pdf [22.9.2015].

Von Jonas Hensel

Veröffentlicht am 8. Dezember 2017

Zitiervorschlag

Hensel, Jonas: Zur Fortsetzbarkeit der Kunst, in: Torsten Meyer, Julia Dick, Peter Moormann, Julia Ziegenbein (Hg.): where the magic happens. Bildung nach der Entgrenzung der Künste, Zeitschrift Kunst Medien Bildung | zkmb 2017. Quelle: https://zkmb.de/zur-fortsetzbarkeit-der-kunst/; Letzter Zugriff: 19.03.2024

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